Der feministische Klassiker »Die drei Marias« von Rachel de Queiroz

Sister Act

Rachel de Queiroz’ 1939 geschriebener Roman »Die drei Marias« über das Leben aufmüpfiger Klosterschülerinnen ist einer der turbulentesten der brasilianischen Literatur.

Die Welt – mein Durst war groß.« Knapp und mit leidenschaftlicher Schroffheit formuliert Maria Augusta ihr Credo. Ihre beiden besten Freundinnen können mit so viel Lebensgier schwer mithalten. Maria José scheuert sich in der täglichen Andacht die Knie wund; Maria Gloria hat sich im rosaroten Seidenkleid von einem respektablen Bräutigam zum Traualtar führen lassen. Maria Augusta glaubt weder an einen Mann noch an Jesus und schlägt sich allein durchs Leben.
Maria Augusta, Maria Glória und Maria José haben sich als Klosterschülerinnen in Forta­leza kennengelernt. Der Roman erzählt die Geschichte der drei Mädchen, die wie viele andere Leidensgenossinnen nach dem Tod der Eltern oder eines Elternteils in ein kirchliches Internat gesteckt werden, und fortan mit dem Verlust des Elternhauses und mit der Ordensdisziplin klarkommen müssen. Die 1910 im brasilianischen Fortaleza geborene Autorin Rachel de Queiroz schildert, wie die Nonnen vergeblich versuchen, die Klosterschule von der als sündig empfundenen Außenwelt abzuschotten. Scheinbar brav sitzen die Mädchen hinter Klostermauern und klöppeln und häkeln an ihrer Aussteuer. Aber der Schein trügt. Jandita etwa ist die geächtete Tochter einer Prostituierten, aber sie schert sich nicht um die Rolle, die man ihr zugewiesen hat. Jandita ist »ehrgeizig, frühreif, voller Träume«. Violeta gebärdet sich so rebellisch, dass die Nonnen glauben, sie sei von einem Dämon besessen. Als ihre schwarze Er­zieherin ihr rät, sich in der Schule mehr anzustrengen, ruft sie hasserfüllt aus, sie wolle ­lieber gar nichts lernen und dumm wie eine Schwarze bleiben.
Rachel Queiroz schildert, wie der naive Kinderglaube von Maria Augusta allmählich schwindet. Als eine schulische Prüfung ansteht, setzt sie, einem alten Brauch folgend, alles daran, einen Zettel mit der von ihr gewünschten Prüfungsaufgabe vor den Füßen einer Marien­statue niederzulegen. Heimlich klettert das Mädchen dazu auf den Glockenturm und wagt von oben einen Blick auf die Welt außerhalb der Klostermauern. »Die Stadt (…) rührte mich derart stark an, dass mir die Hände zu zittern begannen und meine Augen sich mit Tränen füllten. Dort waren die Welt, die Menschen, das Leben draußen, all das, was meinem abgeschlossenen Dasein verboten war.« Maria Augusta ist derart fasziniert von dem, was sie sieht, dass sie ganz vergisst, die Gottesmutter um Hilfe bei der anstehenden Prüfung zu bitten. Kein Wunder, dass sie später mit Pauken und Trompeten durchfällt.
Der Roman wurde bei seinem Erscheinen nicht nur wegen seiner Kritik an der Institution des Klosters als Skandalbuch geschmäht. Auch zahlreiche andere Tabubrüche missfielen der Kritik. So spielt Maria Augusta schon mit 14 Jahren mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, und gesteht sich ein, dass sich der Glaube aus ihrem Herzen »wie fließendes Wasser, das zwischen den Fingern verrinnt«, verflüchtigt habe. Ihr Zorn richtet sich gegen die Institution der Klosterschule, die sie als Gefängnis ansieht.
Als sie die Klosterschule verlässt, glaubt sie, dass ihr Leben jetzt anfängt. Doch schon bald wird es ihr in dem Büro, in dem sie arbeitet, langweilig. Auf der Suche nach Abwechslung geht sie ins Theater, wo ihr Blick auf einen zerknitterten Mann mit ergrautem Haar fällt. Es ist von großer Komik, wie der abgehalfterte Galan sie umgarnt und sich ihr als Künstler, Kokainschnupfer und Kenner französischer Spelunken anempfiehlt. Aber Maria Augusta ist kein gutgläubiges Mädchen. Schlagartig erkennt sie, dass sie keineswegs Rauls Geliebte werden will, und lässt den verdutzten Verehrer im Stich. Als sie nur wenige Tage später Zeugin wird, wie Raul schon das nächste Opfer um den Finger wickelt, weiß sie, dass sie richtig gehandelt hat. Queiroz’ Protagonistin durchschaut Raul in seiner Lächerlichkeit und fühlt sich beim Abschied »entsetzlich kalt und hellsichtig«.
Doch eine Frau wie Maria Augusta bleibt nicht tatenlos in ihrem Städtchen hocken. Von der Arbeit angeödet, nimmt sie Urlaub, treibt von ihrem Vater und ihrer Stiefmutter Geld für eine Reise nach Rio ein. In der großen Stadt, in der man moderne Suffragetten schätzt, die ein paar Tausender im Büro verdienen, mindestens drei Sprachen sprechen und ihre Verehrer ohrfeigen, ist die unerschrockene Frau aus dem muffigen Provinzkloster richtig. Schon bald unternimmt sie an der Seite des griechischen Einwanderers Isaac ausgedehnte Stadtspaziergänge. Die beiden diskutieren über Bücher und lieben sich am Strand. Maria Augusta hofft darauf, dass der Mann sie bittet, in Rio zu bleiben – vergeblich.
Immer wieder lässt Queiroz ihre drei Marias in den Himmel schauen, wo die Freundinnen das Sternbild der Jungfrau Maria entdecken. Doch die Autorin hat nichts im Sinn mit der fatalistischen Vorstellung, menschliche Schick­sale seien vorbestimmt. Der Roman über drei Frauen mit ähnlicher Sozialisation ist ein Plädoyer für Emanzipation und Individualität: Während Maria Augustas Perspektive das Geschehen dominiert, werden Maria José und Maria Gloria wie in einer Zentrifuge an den Rand geschleudert. Es ist genau dieses kraftvolle Bekenntnis zur eigenen Subjektivität, das den brasilianischen Klassiker so eindringlich macht. Maria Augusta, der Maria José vorwirft, ein unmoralisches Leben zu führen, lässt sich nicht davon abbringen, ihren Weg ohne Ehemann und religiöse Bindung zu gehen. In ihrem Streben nach einem Glück, das ohne Sicherheiten auskommt, beruft sie sich auf ihre früh verstorbene Mutter, die »eine freie und nackte Freude« versprüht habe.
Auf einer Schiffsreise wird Maria Augusta plötzlich von der Erkenntnis gepackt, dass das Leben der Fische genauso banal und flüchtig wie das Leben der Menschen sei. Dass sie dennoch stets auf Risiko spielt, macht sie zu einer brasilianischen Jeanne d’Arc, die nicht für Gott, sondern ganz für sich allein kämpft.

Rachel de Queiroz: Die drei Marias. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ingrid Führer. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013, 172 Seiten, 10,90 Euro