Der Dokumentarfilm »Das radikal Böse«

»Eine schöne Arbeit ist das nicht«

Stefan Ruzowitzky beschäftigt sich in seinem Dokumentarfilm »Das radikal Böse« mit der Psychologie der NS-Massenerschießungen.

Wie werden aus ganz normalen jungen Männern Massenmörder? Warum gab es kaum Widerstand von Wehrmachtssoldaten gegen den Auftrag, in Osteuropa Mas­senerschießungen durchzuführen? Diese Fragen will der österreichische Regisseur Stefan Ruzowitzky, der 2008 für seinen Spielfilm »Die Fälscher« mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, anhand von zeitgenössischen Gerichtsprotokollen, Tagebuchnotizen und Feldpostbriefen in einem Dokumentarfilm beantworten.
Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine wurden zwischen 1941 und 1944 etwa 1,5 Millionen Juden ermordet – Täter waren eben die »ganz normalen Männer«, denen der Film sich widmet. Bei der Erkundung ihrer Motive bezieht Ruzowitzky nicht nur Originaldokumente ein, sondern lässt auch Forscher und Experten wie den französischen Priester Patrick Desbois zu Wort kommen, der mit seiner Organisation »Yahad – In Unum« Hunderte von Erschießungsorten in der Ukraine aufgespürt hat.
Mit dem Titel »Das radikal Böse« macht Ruzowitzky Hannah Arendt zu seiner Stichwortgeberin. In ihrem »Denktagebuch« hatte die Philosophin 1950 notiert: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, d. h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf.«
Anders als Arendt interessiert sich Ruzowitzky aber kaum für die historischen und poli­tischen Bedingungen, aus denen das Menschheitsverbrechen der Shoah hervorgehen konnte. Stattdessen interessiert ihn die Psychologie. »Wenn, dann würde ich an ein solches Projekt psychologisch herangehen«, so der Regisseur über seine Vorüberlegungen. Leider lässt sich der Film dann auch so interpretieren, dass das »radikal Böse« letztlich eine »Schickung« sei, eine unvermeidliche Konsequenz der menschlichen Psyche. »Das radikal Böse« situiert seine Protagonisten nicht in einer bestimmten Epoche, die Täter haben keine Vorgeschichte, keine Prägung, keine Sozialisation. Stattdessen konzentriert er sich auf »allgemein menschliche« Ursachen für die Bereitwilligkeit, mit der die Soldaten ihre Befehle ausführten.
Originalaufnahmen von Massenerschießungen oder den Nürnberger Prozessen und nachgestellte Alltagsszenen aus den Soldatenlagern, in denen junge Männer beim Schuheputzen oder Fußballspielen gezeigt werden, unterlegt der Regisseur mit aus dem Off gelesenen Originalzitaten aus Briefen und Tagebucheinträgen. Abgefilmte Erschießungslisten wie »50 Juden, 15 Kommunisten, ein Leichenfledderer« oder »4 200 Judenkinder und 200 Zigeuner« folgen auf Briefzitate wie »Eine schöne Arbeit ist das nicht (…), auch wenn es nur Juden sind. Der offene, ehrliche Kampf ist mir lieber. Nun gute Nacht, mein liebes Hasi.«
Diese Zitate schockieren. Doch statt einer historischen Einordnung steht im Film die Darstellung der widersprüchlichen Gefühle der Soldaten, die von Herzklopfen, Erbrechen und Ausgelaugtsein nach den Erschießungen berichten, im Mittelpunkt. In den nachgestellten Szenen sieht man Soldatendarsteller einsam im Wald sitzen oder sich traurig betrinken. »So etwas mutet man uns zu? Wir sind Soldaten und wollen kämpfen, aber nicht das tun.« Es wird von Spätfolgen bei den Tätern berichtet: Potenzprobleme, Schlafstörungen oder »Bilder im Kopf«. Auch wenn im Film durchaus Kritik am Selbstmitleid der Täter geäußert wird, entsteht der Eindruck, dass die Taten nachvollziehbar gemacht werden. Zudem hinterlassen derartige Zitate den Eindruck, neben den unzulässigen, aber psychologisch begründbaren Verbrechen habe es eine eigentlich akzeptable, regelkonforme Kriegsführung gegeben.
Interviews mit Psychologen sind ein wichtiger Teil des Films. Angereichert werden sie durch Einspielungen von psychologischen Tests wie dem »Konformitätsexperiment«. Der Sozialpsychologe Solomon Asch, der das Experiment entwickelte, hatte damit nachweisen wollen, dass sich ein Großteil der Versuchspersonen einem offensichtlichen Fehlurteil anschließt, wenn die gesamte Umgebung dies auch tut. Einem ähnlichen Zweck, nämlich dem Nachweis dafür, dass Menschen zu Anpassung und mangelnder Kritikfähigkeit neigen, dient Ruzowitzky das bekannte Milgram-Experiment. Es stützt die Annahme, dass Menschen Befehle sogar dann ausführen, wenn diese eigentlich im Widerspruch zum eigenen Gewissen stehen.
Die Shoah wird so zur logischen Folge einer menschlichen Grundverfasstheit gemacht; Unvermögen und Unwillen des Einzelnen, sich gegen den Mordbefehl aufzulehnen, werden zu einer gewöhnlichen menschlichen Reaktion auf den Druck der Gruppe. Der Kadavergehorsam, zu dem die tötenden Wehrmachtssoldaten gedrillt wurden, die völlige Gedankenlosigkeit, mit der etwaige Ablehnung durch die Kameraden als dramatischer empfunden wurde denn der Tod von Tausenden von Menschen, werden zu gewöhnlichen Abgründen der Menschenseele.
Es gibt im Film einige wenige Interviews mit Zeitzeugen. Vier Ukrainer, die als Kind Zeugen von Massenerschießungen im ukrainischen Dorf Bibrka wurden, kommen kurz zu Wort. Mehr Raum erhalten ausgewählte »Experten« wie der Militärpsychologe Dave Grossman. Er erklärt, wie stark die Befürchtung, als Feigling zu gelten, junge Männer in ihrer Entscheidung beeinflusse. Für die heutige Ausbildung von Soldaten habe man daraus Schlüsse gezogen, behauptet der ehemalige Professor der Militärakademie in Sandhurst. So werde heute das eigenständige Denken von Soldaten gefördert. Mit der unkommentierten Behauptung, bei der Ausbildung US-amerikanischer Soldaten werde vor allem das individuelle Moralempfinden geschult, schrammt der Film knapp an der Propaganda vorbei.
Was Daniel Goldhagen gezeigt hat, nämlich dass deutsche Täter durchaus nicht nur unter Zwang und mit innerem Widerstand mordeten, wird im Film zwar nicht explizit widerlegt. Goldhagens Schlussfolgerung, dass diese Männer in ihren Opfern keine Menschen sahen, sondern ein zu beseitigendes Übel, schließt sich auch Christopher Browning an, einer der im Film zu Wort kommenden Historiker. Browning betrachtet den Antisemitismus als ein Motiv unter vielen. Vorrangiges Ziel Hitlers sei schon mit »Mein Kampf« nicht die Ausweitung des »Lebensraums«, sondern die »Heilung« des Volkes durch Vernichtung der imaginierten jüdischen Volksvernichter gewesen. Für die Motivation der »ganz normalen Männer« – die Formulierung stammt von Browning – soll der Antisemitismus aber kaum eine Rolle gespielt haben. Opportunismus, Gruppendruck, Obrigkeitshörigkeit – eben »ganz normale Eigenschaften« seien die Faktoren, die Menschen zu Massenmördern werden ließen.
Peter Glotz hat diese These einmal in die Worte gefasst, Völkermord sei »das normale Werk normaler Leute« – und eben »keine deutsche Krankheit«. Eine Erklärung dafür, warum die Shoa zu dieser Zeit, an diesem Ort möglich war, gibt der Film nicht. Stattdessen erschöpft er sich in einem allgemeinen Klagen über die menschliche Natur. Ein Interviewpartner zieht ganz konkrete Schlüsse für die Gegenwart: Die politischen Instanzen seien auch nicht in der Lage, Massenmorde zu verhindern. Jeder Einzelne solle eingreifen und etwa »Fotos an CNN schicken«, meint der befragte Priester. Das singuläre Menschheitsverbrechen wird in den knappen Analysen der Befragten zu einem Fall unter vielen – Ruanda, Srebrenica, alles das Gleiche, ein Auswuchs des allgemein Menschlichen.
Obwohl im Film auch Soldaten zu Wort kommen, die sich den Erschießungsbefehlen verweigert haben und nur kleinere Strafen erhielten, bleibt ein Unbehagen aufgrund des Settings bestehen. Was ist das Erkenntnisinteresse eines Films, der Massenmorde ausschließlich psychologisch erklärt? Wozu dient die Feststellung, das »radikal Böse« sei eine Grundbedingung der menschlichen Verfasstheit? Und auch wenn einige Interviewpartner wie Patrick Desbois wiederholt betonen, man solle Lehren aus der Geschichte ziehen und dafür sorgen, dass sich derartige Verbrechen nicht wiederholten, scheint die Grundaussage des Films doch zu sein, dass das stumpfe Befolgen von Befehlen eben stärker sei als jegliches Moralempfinden.

Das radikal Böse. Dokumentarfilm von Stefan Ruzowitzky. Kinostart: 16. Januar