Platte Buch

Ameisen im Hirn

Am 13. März 2010 notiert Wolfgang Herrndorf: »Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)«. Gut drei Jahre später erschießt Herrndorf sich am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals. Die wundervollen Romane »Tschick« und »Sand« hatte er rechtzeitig fertigbekommen. In seinem Buch über große Tagebücher schreibt Michael Maar, in deren Geschichte gebe es nichts, was Herrndorfs Blog »Arbeit und Struktur« gleichkomme »an Takt, Wärme, dunklem Witz, Sarkasmus und stillem Grauen«. Er hat Recht (bis auf die Sache mit dem Takt); auch damit, dass er Herrndorf auf Augenhöhe mit berühmten Diaristen wie Samuel Pepys, Thomas Mann, Christa Wolf, Arthur Schnitzler und Viriginia Woolf rangieren lässt. Eine »kleine Promenade« nennt Maar seinen munteren Tagebuch-Galopp. Das Genre boomt; gut verkauften sich zuletzt Susan Sontags Aufzeichnungen; für »Zeilen und Tage« bekam der Philosoph Peter Sloterdijk viel Aufmerksamkeit. Maar ist ein pointensicherer Autor, er schreibt: »Wie man von Kindern sagt, sie hätten Ameisen im Po, so hat Sloterdijk Ameisen im Hirn. Er scheint vor Ideen zu kribbeln.« Ob’s gute Ideen sind, steht auf einem anderen Blatt. Tägliche Übung, eitles Erinnern, Beichtstuhlersatz, große Lästerschule – gleich, welche Funktion das Tagebuchschreiben hat, Maars Band erzeugt immense Neugier. Viele der Tagebücher möchte man auf der Stelle lesen. Und natürlich unbedingt selbst eines beginnen. Gleich morgen. Oder in ­einer Woche.

Michael Maar: Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von ­Samuel Pepys bis Virginia Woolf, Verlag C.H. Beck, München 2013, 259 Seiten, 19,95 Euro