Talmi

Funktion ohne Form

Da will man schnell beim Italiener das Abendessen holen, hoffend auf einen Abend ohne Mitmenschenkontakt, aber ach, da kommen sie schon ins Restaurant gewatschelt, die Mitmenschen: Herrschaften um die 50, erkennbar Mitglieder der Ökobourgeoisie, Lehrer vielleicht, Architekten. Sie lassen sich nieder, heiter ins Gespräch verflochten – und sie alle, alle in blauen Fleecejacken von Jack Wolfskin sowie passenden Survivalschuhen. Es ist Geburtstag, man schart die Liebsten um sich, und doch rüstet man wie für den Krieg oder den Kilimandscharo. Schon auf der Zugfahrt zuvor hatte ich eine Fleecedame gesehen, die nicht nur ihren Koffer neben sich in den Gang stellte, sondern auch ihren unbeschuhten Fuß darauf ausruhte. Als eine Oma dran vorbei wollte, machte sich die Wolfsbehäutete sogar die Mühe, ihren Fuß etwas zur Seite wackeln zu lassen – eine Szene, die mich unwillkürlich laut auflachen ließ, woraufhin die Leute sich tatsächlich durch mich gestört fühlten, nicht durch die ordinäre Fußpflegerin. Alten Sagen zufolge zogen sich die Leute früher schon dann etwas Schönes an, wenn es nur nach Hause zum Abendbrot ging, denn auch die Familie hatte ein Recht auf Glanz und Schönheit. Vorbei! Der Verfasser dieser Zeilen kennt Leiter städtischer Behörden, die sich nicht schämen, zu offiziellen Terminen in Bergsteigerkluft aufzutreten. So ungefähr muss es gewesen sein, als Mitte der Zwanziger überall die Braunhemden auftraten, in Behörden, in Kneipen, an Universitäten. Uniform und grobe Sitten signalisieren auch heute wieder Entgrenzungsbereitschaft: Ja, ruft mich nur, ihr Mächte und Herrschaften, zu noch größerer Barbarei! Ich achte die Menschen und die Würde nicht, mit mir ist jede Gemeinheit zu machen! Eigentlich müsste man sie alle einsperren.