Paco Ignacio Taibo II im Gespräch über Drogenkartelle, Bürgerwehren und die Linke in Mexiko

»Wir haben die Tür zur Hölle geöffnet«

Der 65jährige Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II hat den Kriminalroman in Mexiko heimisch gemacht und Abenteuerromane verfasst, ist aber auch ein renommierter Historiker. Außerdem ist er ein vehementer Kritiker der politischen Verhältnisse in Mexiko und unterstützt immer wieder linke Bewegungen. In Deutschland ist er derzeit auf Lesereise, da er zu den »Literaturtagen Mittelamerika« in Frankfurt am Main eingeladen wurde.

Als Historiker und Krimiautor kennen Sie sich aus mit Gewalt. Übersteigt das Ausmaß der Gräueltaten in Mexiko derzeit nicht alles im Land je Dagewesene?
Ja, auch wenn ich es bevorzugen würde, wenn es anders wäre. Für die Eskalation ist der Blödmann Calderón verantwortlich (Präsident Felipe Calderón amtierte von 2006 bis 2012, Anm. d. Red.). Nachdem er durch Wahlbetrug in den Präsidentenpalast eingezogen war, hat er versucht, davon abzulenken und sich wieder beliebt zu machen. Er hat dem Drogenhandel den Krieg erklärt. Dazu muss man aber wissen, dass Mexiko viele Probleme hat. Erstens hat es die korrupteste Polizei der Welt nach Thailand. Die meisten Führungskräfte der Polizei standen damals schon auf der Lohnliste der Kartelle. Zweitens hat Mexiko ein Justizsystem, das faktisch zerstört ist, denn die Richter sind nicht unabhängig. Drittens ist das Vollzugssystem problematisch, das von einem Fünf-Sterne-Hotel Marke Hilton bis zur Knasthölle das ganze Spektrum an Gefängnissen umfasst. Der vierte wichtige Faktor ist die Jugend, um die kümmert man sich in Mexiko kaum. Wir verfügen kaum über Integrationsprogramme, die die Jugendlichen von der Straße holen. Es gibt keine Präventionspolitik, die ihnen Perspektiven aufzeigt und sie in den Schulen abholt. Das tun jedoch die narcos, die Drogenbanden, die auf arbeits- und perspektivlose Jugendliche zugehen, sie rekrutieren. Der fünfte und letzte Grund, der den Krieg gegen die Kartelle zu einem Desaster hat werden lassen, ist die Tatsache, dass es nicht gelungen ist, ein Abkommen mit den USA auszuhandeln, das den stetigen Zufluss von Waffen nach Mexiko unterbindet.
Mehr als eine formelle Bitte wurde an die USA nicht herangetragen, und so verkaufen die Kartelle dort Drogen und kaufen Waffen. Zwei Jahre nach Beginn des Krieges gegen die narcos hatten sich die Kartelle deutlich vergrößert, sie waren zu regelrechten Armeen angewachsen und oft besser ausgerüstet als die mexikanische Polizei. Obendrein hatten sie sich diversifiziert: In der Prostitution haben sie sich breitgemacht, und sie bieten nun Schutz gegen Geld an. Das sind nur zwei Bereiche, in denen die Kartelle mittlerweile tätig sind. Doch es gibt viele weitere und sie bieten immer mehr Arbeitsplätze, erweitern ihre soziale Basis stetig.
Das heißt, sie rekrutieren im großen Rahmen?
Ja, bereits an den Schulen. Wir sollten auch nicht vergessen, dass wir nicht unseren eigenen Krieg führen, sondern den der USA. Es ist ein Stellvertreterkrieg, und ohne Grund haben wir die Tür zur Hölle geöffnet.
Derzeit macht die Situation im mexikanischen Bundesstaat Michoacán weltweit Schlagzeilen (siehe Seite 13). Wie denken Sie über die autodefensas, die Selbstverteidigungskommandos?
Die autodefensas marschieren durch die Straßen der Ortschaften und die Leute applaudieren ihnen. Das ist wie ein Selbstreinigungsprozess, eine bittere Medizin zur psychischen Gesundung. Die autodefensas haben den Job der Regierung, der Polizei und der Armee übernommen, weil der Staat dem nicht nachkommt. Sie sind gegen das »Kartell der Tempelritter« vorgegangen, nicht die Armee. Das ist in den Augen der lokalen Bevölkerung die einzige Lösung.
Weil die staatliche Ordnungsmacht nichts tun wollte?
Weil sie korrupt ist. Das zentrale Problem Mexikos ist die Korruption und man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Mit der neuen Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto ist es noch schlimmer geworden, denn ein Teil seines Wahlkampfs wurde von Drogenkartellen bezahlt. Das weiß in Mexiko jeder und je nach Region war es dieses oder jenes Kartell.
Wie denken Sie über den Wandel in Mexiko? Die neue Regierung hat weitreichende Reformen durchgesetzt.
Das ist ein Desaster, das Mexiko nachhaltig verändern wird. Die fünf Reformen basieren auf neoliberalen Ideen, bedienen die Interessen großer Konzerne und plündern das Land aus. Zudem werden Arbeiterrechte eingeschränkt und der Korruption wird weiter Vorschub geleistet. Die Energiereform sorgt dafür, dass mit Politikern verbandelte Briefkastenfirmen große Gewinne machen und die internationalen Unternehmen in den Startlöchern stehen – es ist ein Skandal.
Eine andere Reform, die für Schlagzeilen gesorgt hat, war die Bildungsreform.
Sie trägt diesen irreführenden Namen, ist aber eine Einschränkung der Arbeitsrechte der Lehrer, die fortan leichter entlassen werden können und deutlich weniger Einfluss auf die Ausrichtung des Bildungssystems haben.
Der Widerstand gegen diese Reform hält an. Wird er etwas bewirken?
Er muss, denn es gibt keine Alternative zum Widerstand. Es gibt eine moralische Verpflichtung zu agieren.
Sie sind ein Achtundsechziger. Was hat diese Generation, die das Massaker von Tlatelolco vom 2. Oktober erlebte, als Hunderte Studierende getötet wurden, in Mexiko bewirkt?
Sie hat erreicht, dass der Bevölkerung langsam dämmerte, dass sich der PRI (die Partei der Institutionalisierten Revolution, Anm. d. Red.) auf ein Netzwerk der Korruption stützte. Ganz langsam ist die mexikanische Mittelschicht wach­geworden, hat begonnen zu erkennen, in was für einem Mexiko sie lebt.
Und heute?
Heute sind wir alt und deutlich weniger.
Woran arbeiten Sie derzeit? Wird es in absehbarer Zeit wieder eine Geschichte mit dem Detektiv Héctor Belascoarán geben?
In Spanien ist gerade ein neues Buch über die spanische Revolution von 1934 erschienen, das ich meinen Großeltern gewidmet habe und das auch bald in Mexiko erscheinen wird. Ansonsten arbeite ich noch an einem weiteren historischen Werk und bereite Seminare, Tagungen und Veranstaltungen auf der Straße vor – für die Bewegung und mit ihr. In den letzten drei Jahren haben wir mit diesen Veranstaltungen immerhin 100 000 Menschen erreicht – das ist schon etwas.
Trotzdem steht es nicht gut um die mexikanische Linke.
Ich sehe das ganz anders. Die mexikanische Linke hat drei Wahlen gewonnen und wurde dreimal um den Sieg betrogen, da die fehlende Unabhängigkeit der Justiz dafür sorgt, dass so ein Wahl­betrug ungesühnt bleibt, weil Parteien und Richter unter einer Decke stecken. Es gibt kein Gegengewicht, obwohl die Linke gewachsen ist und viel versucht hat.
Wie die Initiative der Bewegung für nationale Regeneration (Morena), die Unterschriften ­gegen die Energiereform der mexikanischen Regierung sammelte?
Genau, die hat eine Million Menschen mobilisiert – in einem Jahr. Wo gibt es sowas? Nennen Sie mir ein Beispiel aus Deutschland. Das Problem ist, wir stehen einem nahezu perfekten System von Korruption und Gewalt gegenüber, ­wobei die Medien und die Justiz weitgehend kontrolliert werden.