Michael Wildenhain wünscht sich mehr Realität in der Literatur

Alles nur Pling-pling

Ein Plädoyer für die Repolitisierung von Literatur.

Klaus Schlesinger hat einmal gesagt: »Ohne die DDR wäre ich – bei meiner Herkunft – nie Schriftsteller geworden.«
In der Debatte, die Enno Stahl und Florian Kessler begonnen haben, wird festgestellt, dass in der zeitgenössischen jüngeren deutschen Literatur vor allem die Kinder der Bessergestellten Romane für ihresgleichen schreiben und dass ein entsprechender Literaturbetrieb das befördert und dafür garantiert. Außerdem wird die Literatur bewertet und das Urteil fällt nicht wohlwollend aus. Überspitzt ließe es sich so zusammenfassen: Der große, vielleicht größte Teil der Prosaproduktion der vergangenen Jahre ist weder gut noch schlecht, sondern überflüssig.
Allein auf die Bedingtheit des Erfolgs von Autoren durch ihre (klassenspezifische) Herkunft hingewiesen zu haben zu haben, ist ein Verdienst. Auch wenn die Überschrift »Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!« die Debatte auf die Ebene Da-schmunzeln-wir-doch-alle-gern-drüber zieht und der Attitüde »Bloß nix ernst nehmen!« Vorschub leistet, die zu Großfeuilleton und Betriebspalaver gehört wie die heißen Himbeeren zum Vanilleeis.
Fraglos lässt sich die Debatte in diese und jene Richtung zerren (Migranten, Nazi-Großväter) oder entschärfen, indem ein allseits beliebtes Spiel begonnen wird: Ey, Junge, du benutzt den falschen Realismusbegriff, isch schwöre!
All das entspricht nicht der Intention von Enno Stahl, der es – endlich mal wieder – ernst meint.

Im vergangenen Sommer hatte ich das Vergnügen, 220 Einsendungen zu sichten, mit denen sich meist jüngere Autoren um die Teilnahme an einer Werkstatt bewarben, die mit dem Hinweis ausgeschrieben war: »Besonders erwünscht sind literarische Arbeiten, die soziale Aspekte oder politische Tatbestände und Geschehnisse reflektieren.« 220 Einsendungen sind kein signifikanter Querschnitt, eine gewisse Stichprobe stellen sie dar. Der Befund über die neueste deutschsprachige Literatur ist, das lässt sich sagen, nicht falsch.
Es gibt erstaunlich viele Romanvorhaben, die sich mit der Großelterngeneration – mal Nazis; mal deren, meist jüdische, Opfer – auseinandersetzen und dem Gang der biographischen Recherche. Es gibt, seltener, Großeltern, die in der chilenischen MIR aktiv waren und emigriert sind. Es gibt aber auch junge Frauen (seltener Männer), die nach dem Abitur ein Jahr in Afrika verbracht haben und – genderaffin, mit kritisch geschultem Blick fürs Postkoloniale – eine Geschichte darüber schreiben möchten. Es gibt Science-Fiction, meist Dystopien (»Planet der Nazis«), Krimis, Thriller, Fantasy usw. All das ist legitim und nicht selten gut gemacht. Trotzdem fällt auf, dass ein größerer Teil der Realität nicht vorkommt. Kaum einmal geht ein Protagonist einem eher durchschnittlichen Beruf nach. Kaum einmal geht es ums fehlende Geld. Und nie um die sozialen Kämpfe der jüngeren Vergangenheit.
Das ist bemerkenswert. Wenn die Realität, der ich ausgesetzt bin, der Literatur keine Beachtung wert ist, kann ich auch Harry Potter lesen oder Perry Rhodan.

An dieser Stelle eine Bemerkung zu Leipzig. Dass alle am Deutschen Literaturinstitut ein- und denselben geschmeidigen Stil schreiben, der von den Verlagen so gemocht wird, ist Unsinn. Im Gegenteil, gar nicht selten entsteht der Eindruck, es werde beinahe krampfhaft nach einer Originalität in der Form gesucht, die dem literarischen Gegenstand nicht angemessen ist. Das so oft kolportierte Bild vom Leipziger Institut entsteht vornehmlich dadurch, dass die – großen – Ver­lage nur bestimmte Texte favorisieren. Und die Verlage wissen, was sie tun. Sonst gehen sie unter.
Was hingegen die verhandelten Inhalte betrifft, verhält es sich nicht anders als bei den Einsendungen zu besagter Werkstatt. Meist schreiben junge Autoren über das, was ihnen irgendwie nah ist. Das ist weder verwerflich noch falsch. Auch Faulkner wurde empfohlen, über Dinge zu schreiben, mit denen er sich auskennt. Er kannte sich mit einigem aus.
Damit sind wir erneut am Ausgangspunkt der Debatte: Bürger schreiben für Bürger meist über Bürgerliches; die bürgerlichen Medien, von FAZ bis Brigitte, loben sie dafür. Die Literatur ist ganz bei sich: Es geht nicht um Erkenntnis-, sondern um Distinktionsgewinn.

Vielleicht sind wir verwöhnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Literatur Bedeutung. Das mag auch daran gelegen haben, dass die Medien noch nicht so stark vom Bild dominiert wurden. In der DDR hatte Literatur Bedeutung. Gemeint ist nicht der Bitterfelder Weg (herrschaftsnahe Literatur überdauert selten; das gehört zum Kern der Debatte), gemeint sind die höchst unterschiedlichen Autoren, deren Wort – so oder so – in der DDR Gewicht beigemessen wurde.
Während der späten sechziger und der frühen siebziger Jahre hatte Literatur Bedeutung. Eine Diskussion um ihren postulierten »Tod« zeigt das. Dass ein – durchaus kontrovers diskutiertes – »Schreiben von unten« (oder wie immer apostrophiert) in Westdeutschland eher dürftige Ergebnisse gezeitigt hat, sagt vor allem etwas über die politische Schwäche der damaligen Protestbewegung aus. In Italien, beispielhaft dafür sind die Romane von Nanni Balestrini, war das anders.
Mich interessiert der »Wolf of Wall Street« nicht. Ebenso wenig wie das literarische Schwadronieren über böse Banker oder die Leiden hoher wie mittlerer Manager.
Mich würde interessieren, wie ein Streik in den USA verläuft (wenn fast jeder eine Waffe besitzt), wie es den illegalen salvadorianischen Arbeitern auf den Erdbeerfeldern an der Westküste geht, welche Rolle heute die Mafia in den Gewerkschaften spielt. Davon findet sich in der vielgelobten US-amerikanischen Literatur, die bei uns ankommt, wenig.
Ich meine auch, dass weder Helmut Schmidt noch Ulrike Meinhof, dass weder die ewige Angela noch der dicke Joschka glücklich gewählte Gegenstände einer literarischen Betrachtung sein können. Auch nicht Herr Ackermann samt seiner Kollegen. Bei Shakespeare mag die Königsperspektive erkenntnisträchtig gewesen sein. Indessen ist die Forderung an Literatur, die Politik und Zeitgeschichte in den Blick nimmt, eine an­dere. Und selbst Wolfgang Koeppens oft gelobter roman »Das Treibhaus« ist übrigens deutlich schwächer als »Tauben im Gras«.

Was aber wäre möglich? Obwohl Literatur gegenwärtig kaum gesellschaftliche Relevanz besitzt?
Mario Barth und Cindy aus Marzahn kennt jeder, viele Bücher und Autoren nur ein eingeweihter Kreis. Deshalb das Hohelied vergangener Avantgarden anzustimmen, führt schnurstracks in die Sackgasse einer Literatur von (vermeint­lichen) Experten für (vermeintliche) Experten, eines bald esoterischen Expertentums, das bizarre Blüten treibt und oft genug alberner Verehrung den Boden bereitet. Was soll mir in einer Ausstellung die Gabel von Kafka sagen? Dass auch Kafka nicht mit den Fingern gegessen hat? Dass sie verbogen ist?
Dietmar Dath schreibt am Schluss seines Beitrags zu Maxim Biller: »Das Allerbeste an der Literaturdebatte, die Biller will, ist der Umstand, dass sie sich als Literaturdebatte allein gar nicht führen lässt.«
Damit hat er uneingeschränkt recht.
Solange es keine gesellschaftliche Dynamik gibt, solange kein politischer Impuls von unten ausgeht (von wo sonst?), solange es keine politische Bewegung gibt, die die herrschenden Verhältnisse radikal und praktisch in Frage stellt, wird die zeitgenössische Literatur überwiegend ein mal hübsches, mal weniger hübsches Ornament bleiben, Pling-pling im Geschwätz der Messen. Ohne politischen Resonanzraum wirkt ein Buch bestenfalls bei Einzelnen. Und viele der poten­tiell Interessierten werden davon, wie gesagt, gar nicht erst erfahren.

Entgegen dem Aktualitäts-Hype, der von Fall zu Fall um Literatur erzeugt wird, ist Literatur als langsames Medium fürs unmittelbare Reagieren nicht unbedingt geeignet. Was gute Ergebnisse nicht ausschließt. Zumal, wenn es sich um die Darstellung von Tendenzen handelt, die die Gesellschaft langfristig bestimmen.
Wie das im Einzelnen geschieht, lässt sich vorab kaum sagen. Das eben zeichnet Literatur aus: Es gibt keine Rezepte, kaum Orientierung vorab. Eine Bewertung ist erst nachträglich möglich. Auch das Andichten oder Einfordern prophetischer Gaben scheint mir fragwürdig; Spökenkieker erzielen ihre Erfolge eher zufällig.
Aber es gibt ein Gebiet, für dessen Behandlung Literatur prädestiniert ist: die Zeitgeschichte.
In der Darstellung längerer Zeiträume ist Literatur konkurrenzlos. Sobald man die ausgetrampelten Pfade verlässt, findet sich manches politische Ereignis oder gesellschaftliche Geschehen, das kaum Beachtung in der Literatur gefunden hat. Bei der Thematisierung solcher Tatbestände ist niemand gezwungen, den Mustern der »Buddenbrooks« zu folgen oder den Vorgaben eines Detektivromans.
Möglich, dass die Massen, einschließlich Cindy Barth und Mario aus Marzahn, zunächst nicht erreicht werden. Dennoch sollte das Ganze so gehalten sein, dass sie erreicht werden könnten. Wie genau, darüber wäre zu diskutieren.
Dabei ist jede Autorin und jeder Autor gut beraten, sich, soweit sinnvoll, in dem reichhaltigen Baukasten zu bedienen, den die Grundlagenforscher sprachlicher Möglichkeiten aller Modernen und Avantgarden bereitgestellt haben.
Ansonsten gilt: Der Inhalt bestimmt die Form. Vielleicht gelingt dann sogar eine literarische (Er-)Findung, wie sie Agota Kristof in ihrem ersten schmalen Roman »Das große Heft« gelungen ist.

Michael Wildenhain präsentiert am 27. März um 20 Uhr im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin, erste Arbeitsergebnisse von sechs Autoren aus der Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus.
http://www.rosalux.de/news/39439/romanwerkstatt-des-literaturforums-im-…