Helmut Lethens Buch »Der Schatten des Fotografen«

Die Wirklichkeit will nicht verblassen

Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen fragt in seinem Essay »Der Schatten des Fotografen« nach der Wirklichkeit des Abbildes.

Flusslandschaft an einem sonnigen Tag. Eine Frau mit hellem Kopftuch und gerafftem Rock watet dem nahen Ufer zu. Ihre Bewegung erzeugt leichte Wellen. Die Sonne scheint und wirft einen Schatten. Wenn man das malerische Foto wendet, liest man die Angabe: »Die Minenprobe. Vom Donez zum Don 1942.« Dieses eine Wort, »Minenprobe«, sprengt das Idyll. Die Frau wurde als eine Art Minensuchgerät eingesetzt. Es war eine Hinrichtung von Juden und Partisanen.
Manchmal muss man wissen, was hinter den Bildern steckt. Bilder erzeugen einerseits Vertrauen, sie gelten den einen als Beweis, dass etwas existiert. Andere misstrauen Bildern gerade wegen ihrer vermeintlichen Authentizität; sie erwecken den Verdacht, hier werde Wirklichkeit vorgetäuscht. Helmut Lethens Sachbuch »Der Schatten des Fotografen« beschäftigt sich mit der Welt der Bilder. Es fragt nach den Bildern und ihrer Wirklichkeit und nach der Wirklichkeit von Bildern: Was muss ein Bild leisten, damit es als authentisch, wirklichkeitsgetreu gilt? Welche Medienkompetenz muss man mitbringen, damit man ein Bild als historische Quelle nutzen kann? Und folgen Bilder überhaupt der historiographischen Logik oder haben sie ganz andere Funktionen, nach denen sie beurteilt werden müssen?
Doch gibt es das überhaupt – Wirklichkeit? Das ist die grundsätzliche Frage, die hinter Lethens Streifzug duch die Welt der Bilder steht. In den Kulturwissenschaften hat sich in den neunziger Jahren der Dekonstruktivismus durchgesetzt, der davon ausgeht, dass alles Wirkliche kulturell konstruiert ist. Dass zum Beispiel jemand Mann oder Frau ist, sei kein biologisches Faktum, sondern eine Konstruk­tion. Und so gäbe es nichts Reales in der sozialen Welt, das nicht von Menschen und ihren Texten konstruiert worden wäre. Gesellschaft – wer hat sie je gesehen? Kulturwissenschaftliche Bücher hießen dann »Die Erfindung der Geschlechter« oder »Die Entdeckung der Ausbeutung«. Bildmedien wie Fotografie und Film gelten dabei als wichtige Agenten solcher Vorgänge, denn sie sind Zeichenträger par excellence. Die Diagnostiker nennen sich Semiotiker. Doch der Konstruktivismus hat wohl überzogen. Mittlerweile schlägt der Essentialismus zurück, der Glaube, dass die Hardware des Menschen wichtiger sei als seine Software; dass Natur stärker sei als Kultur – kaum anders ist der Hype um die Hirnforschung zu erklären.
Der Literaturwissenschaftler Lethen, der alle kulturwissenschaftlichen Turns der letzten 40 Jahre miterlebt hat, begrüßt die Rückkehr der Dinge in die Kulturwissenschaft, ohne das Rad zurückdrehen zu wollen und in naiven Realismus zu verfallen. Des Zirkusses der Zeichendeuter jedoch, der die Physis mit Bedeutung bombardiert und der einen Körper nicht als das sehen kann, was er ist, nämlich als einen Körper, ist er überdrüssig. Lethen bekennt sich zu seiner Sehnsucht nach Wirklichkeit. Seine Vor-Bilder sind Roland Barthes und Siegfried Kracauer, die sich in ihren Klassikern »Die Mythen des Alltags« und »Theorie des Films« der Lebenswelt und den unbeachteten Gegenständen zugewandt haben. Ihnen ging es um die Errettung der physischen Realität.
Ausgerüstet mit diesem theoretischen Gepäck beleuchtet Lethen die Geschichte fotografischer Ikonen oder besucht Ausstellungen, in denen es um Körperlichkeit geht. Seine Beispiele sind die berühmten Aufnahmen Robert Capas, die Videos von Marina Abramović und die Arbeiten des Konzeptkünstlers Bruce Nauman. Die Reflexionen des Autors sind immer autobiographisch vermittelt. Er nennt seinen Essay einen »Bildungsroman«. So beginnt er in Mönchengladbach in den fünfziger Jahren, als er in seiner Schulklasse Alain Resnais’ Film »Nacht und Nebel« über das Grauen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gezeigt wurde. Die verordnete Beschämung führte bei ihm eher zu der Weigerung, sich mit dem Mord an den Juden auseinanderzusetzen. Das änderte sich auch nicht in den siebziger Jahren, als Lethen mit Kommunismus und Marxismus sympathisierte. Seine Abwehrhaltung gegenüber dem »finsteren Stoff« löste sich erst mit den Schockbildern der Wehrmachtsausstellung 1995 auf. Diese erste Wehrmachtsausstellung wurde von Historikern gerade wegen ihres suggestiven Einsatzes von Bildern kritisiert. Sie wurde daraufhin überarbeitet, versachlicht und mit erläuternden Texten versehen. Der Schrecken wurde damit keineswegs domestiziert, sondern im Gegenteil intensiviert. Manchmal ist Sprache sogar emotionaler als ein Bild.
Diese von Lethen geschilderte Episode verdeutlicht, dass die Welt der Bilder einer anderen Logik gehorcht als die der wissenschaftlichen Geschichte. Bilder sind mit der Aufgabe, etwas im juristischen Sinne zu beweisen, überfordert. Wenn es um die Klärung von Schuld geht, brauchen wir die Sprache, etwa das Wort »Minenprobe«. Bilder einer Ausstellung können und dürfen dagegen Schock, Irritation, Faszination auslösen. Sie können verstockte Menschen berühren, wie es bei Lethen geschah. Umgekehrt können sie Menschen verstocken lassen. Es liegt nicht an den Bildern, sondern an dem Betrachter.
Lethens biographische Episoden strukturieren den Essay und geben die Perspektive vor, die eingenommen wird, die Facetten, die beleuchtet werden. Sie erzeugen die Spannung. Manches jedoch bleibt im Schatten des Erzählers. Lethen geht nicht systematisch vor, sondern umkreist bedächtig seinen Gegenstand. Nicht jeder geöffnete Assoziationsraum wird analytisch durchdrungen und erschlossen. Er führt vieles, was doch vorbereitet wurde, nicht näher aus. Das Foto sei ein anderes Medium als die Schrift, sagt Lethen. Aber wie genau anders? Das bleibt im Schatten des Fotografen.
Immer aber wird der Leser entschädigt durch eine wunderbare, frei atmende Sprache. Das liegt vor allem daran, dass dieses Buch ein wirklich humanes Buch ist. Eines haben die Bilder, über die darin nachgedacht wird, gemeinsam: Es sind Bilder der nackten Kreatur Mensch, Bilder der Verlassenheit, Bilder einer Minenprobe. Letztlich geht es nicht um Bilder, sondern um Menschen.

Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Rowohlt, Berlin 2014, 19,95 Euro