Micha Ebeling erzählt die Lebensgeschichte eines abstinenten Rauchers

Auf der Kippe

Micha Ebeling erzählt von einem, der versuchte, das Rauchen aufzugeben.

Meine ersten Erinnerungen an das Rauchen haben mit meinem Vater zu tun. Der war Raucher. Und zwar in erster Linie Pfeifen­raucher. Es war die Zeit von: »Drei Dinge braucht der Mann. Feu­er, Pfeife, Stanwell.«
Diese drei Dinge mochte mein Vater, genauso wie den dazu­gehörigen Quizmaster Hans-Joachim Kulenkampff, der damals Werbung machte für den Pfeifentabak Stanwell. Ebenso wie auch Loriot, an dessen Filmchen man sich auf Youtube noch heute er­freuen kann.
Gleich vorweg, ich will hier keinerlei Betrachtungen darüber anstellen, wie häufig statistisch gesehen Kinder von Rauchern Raucher werden. Das kann bei Bedarf und Interesse ­jeder für sich selbst vornehmen. In meinem Falle spielte es unbewusst be­stimmt eine Rolle.
Ich weiß jedenfalls noch genau, wie scharf ich immer darauf war, meinem Vater Feuer geben zu dürfen mit einem Streichholz. Anzünden, den herrlichen Schwefelqualm einatmen (ich rieche übrigens auch gerne Benzin, vielleicht besteht da ein Zusam­menhang?), warten, bis sich das Flämmchen stabilisiert hat, und dann Vaters Saugen an der Pfeife, wobei die Streichholzflamme tief in die Pfeife reingezogen wurde. Ich hab mich immer gewundert über den gummiartigen Charakter der Flamme und darüber, dass sie bei diesem harten Ansaugen nicht ausging. Ging sie aber nicht. Dann der zufriedene Gesichtsausdruck des Vaters und der meist wohlriechende Duft des Tabakqualms. So fing das wohl an. Sonntags gab’s auch mal Zigarre. In den Westpaketen war extra für Vater immer Rauchware drin. Meist Pfeifentabak, oft Zigaril­los oder Zigarren, seltener Zigaretten. Vater rauchte aber alles. Ein echter Allesraucher. Für uns Kinder hatte das einen gewis­sen Vorteil. Denn in den Westpaketen war natürlich auch immer Schokolade drin. Die mein Vater, obwohl er Raucher war, trotz­dem gerne aß. Aber mit dem Hinweis, dass er dieses und jenes zum Rauchen bekommen hätte, konnten wir seinen Anteil an den ansonsten sehr gerecht auf alle anderen Familienmitglieder auf­geteilten Süßigkeiten recht klein halten. Oder er bekam lediglich die Bitterschokolade, die außer ihm keiner aß.
Am meisten rauchte Vater Pfeifentabak. Doch der aus den Pa­keten allein reichte nicht aus, so dass Vater dazukaufen musste. Meist kaufte er eine gelbe Packung, auf der »Cavendish« stand, deren Tabak herrlich roch und den mein Vater immer mit einer Apfelscheibe frisch und feucht hielt. Wenn der Tabak brannte, dann roch es nach Vanille. Ich war begeistert. Nur an der Pfeife ziehen, das durfte ich nicht. Davon würde ich mir in die Hosen scheißen, war seine Standardantwort. Schon deshalb wollte ich ziehen, weil ich wissen wollte, wer stärker war. Der Pfeifentabak oder mein Hintern. Außerdem machte die Pfeife phantastische Ge­räusche. Wenn man dran saugte, wenn man sie anzündete, wenn man sie ausklopfte, wenn man sie reinigte. Alles sehr sinnlich, will ich meinen, obwohl ich das Wort damals noch gar nicht kann­te. Ich vermute, ich war ein kleiner Pyromane. Alles, was mit Feu­er zu tun hatte, fand ich großartig.
Auf Familienfeiern griff Vater dann auch mal zur angebotenen Zigarette. Wenn ich mich aus heutiger Sicht an die Art und Weise erinnere, wie er das tat, dann tat er das mit der typischen Nicht­raucher-Attitüde. Er war eben kein Zigarettenraucher. Außerdem hat er die Zigaretten, so wie alles andere, was er geraucht hat, immer nur gepafft – also nicht auf Lunge geraucht. Und so sah er auch immer ein bisschen wie eine kleine Lokomotive aus, wenn er einen Zug von der Zigarette nahm und dann den gesamten Qualm in die Stube blies. Die armen Gardinen. Mutter litt.
Meine erste Erfahrung mit einer Zigarette würde ich in den Zeitraum zwischen meinem zehnten und vierzehnten Lebensjahr einordnen. Ich habe festgestellt, dass mein Erinnerungsvermögen einen kleinen Makel hat. Ich weiß so ziemlich alles, was einmal war. Nur leider nicht, wann es war. Ich habe keine Erin­nerungsli­nie, keinen inneren Zeitstrahl, an dem ich mich entlanghangeln könnte. Aber an Einzelheiten kann ich mich dafür umso besser erinnern, und Gesichter und Namen kann ich auch gut, auch wenn das für dieses Buch überhaupt keine Rolle spielt.
Irgendwann einmal fiel mir eine Zigarettenschachtel mit der Aufschrift »Salem No. 6« in so einem Westpaket auf. Jemand in der Westverwandtschaft schickte immer »Salem No. 6« für Vater mit. So wie es überhaupt so war, dass bestimmte Westpakete von bestimmten Verwandten immer bestimmte Produkte ent­hielten. Eine Tante hieß zum Beispiel die »Nesquik-Liesel«. Sie ahnen si­cher, weshalb. Ich weiß nicht mehr, wer die Salem schickte: eine schöne, grüne Packung.
Filterlose Zigaretten. Als ich eben gegoogelt habe, ob’s die noch gibt, fand ich auch einen Erfahrungsbericht zu dieser nicht eben billigen »Sonntagszigarette«, und sofort spürte ich das Bedürfnis, mir so eine leckere »Salem No. 6« anzuzünden. Aber ich befinde mich ja in der von mir selbst gewählten RAUCHPAUSE und kann dem Verlangen gut widerstehen. Zumal hier im Café, in dem ich schreibe, alle um mich herum rauchen und mir diesen Aspekt der Gemütlichkeit abnehmen.
»Wenn er das mit dem Rauchen immer so positiv darstellt, wieso hört er dann überhaupt mit dem Rauchen auf?« werden jetzt sicher einige zu Recht aufkreischen. Das erkläre ich doch al­les noch. Damals, vor dreißig Jahren, gab es diese Hysterie noch nicht. Zum einen. Zum anderen, als Ex-Raucher, als trockener Raucher, behält man durchaus einige seiner Reflexe und Erinne­rungen. Das ist auch so eine Sache, die mir in der klassischen Literatur nicht gefällt, nämlich dass der Ex-Raucher immer gleich den Titel »Nichtraucher« zuerkannt bekommt. Ich nenne mich »Ex-Raucher« oder »trockener Raucher«, ganz im Sinne eines tro­ckenen Alkoholikers. Eine einzige Zigarette kann genügen, das Karussell wieder in Schwung zu bringen. Das weiß ich wohl. Ni­kotin macht extrem schnell abhängig. Kann man alles nach­lesen. Andererseits wird stets behauptet, dass die körperliche Abhängig­keit zu vernachlässigen sei. Denn schließlich könne jeder Raucher eine Nacht durchschlafen, ohne zu rauchen. Aber erstens gibt es tatsächlich Raucher, die nachts aufwachen und zur Zigarette grei­fen. Und zweitens gibt es auch Süchtige mit anderen Abhängig­keiten, die nachts trotzdem gut schlafen. Es ist alles ein bisschen widersprüchlich. Wie soll sich da der Laie zurechtfinden? Was ge­nau macht wie dolle süchtig? Wie ist das Verhältnis der körper­lichen Abhängigkeit zur psychischen? Wenn Sie das interessiert, dann lesen Sie Fachliteratur oder surfen Sie mal ein bisschen bei Wikipedia vorbei. Nikotin gehört auf der einen Seite zu den Sub­stanzen mit dem höchsten Suchtpotential. Auf der anderen Seite ist der körperliche Entzug von der Droge selbst ohne großen Auf­wand und Schaden zu überstehen. Das Problem ist hauptsächlich der Nucleus accumbens, das Sucht- oder Belohnungszentrum in unserem Vorderhirn. Da ist irgendwie in einer Endlosschleife ein­gefräst, egal ob uns was Schönes oder was nicht so Schönes wider­fahren ist oder widerfahren wird: »Jetzt erst mal ’ne Zigarette! Jetzt erst mal ’ne Zigarette! Jetzt erst mal ’ne Zigarette! Jetzt erst mal ’ne Zigarette! Jetzt erst mal ’ne Zigarette! Jetzt erst mal ’ne Zigarette!« Vermutlich arbeitet der Nucleus accumbens mit copy and paste.
Ich weiß, dass es nicht einfach ist aufzuhören, selbst wenn man es will, weil man gesundheitliche Probleme fürchtet. Und diese Furcht ist durchaus begründet, wie wir alle wissen. Aber dieses Buch will nicht mit Angst arbeiten – Bangemachen güldet nicht. Höchstens vielleicht hier und da ein bisschen. Unterschwellig. Mein Vater ist übrigens achtundachtzig geworden und hat bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr den Hammer geschwungen in sei­ner Schmiede. Er wäre sozusagen einer von diesen Onkels, von denen jeder Raucher einen kennt, die immer geraucht haben und trotzdem steinalt geworden sind. Aber mein Vater hat geschum­melt und nur Pustebacke geraucht. Und sich immer viel bewegt. Und jeden Tag einen Apfel gegessen. Und jeden Tag einmal laut gebrüllt. Und jeden Tag jemandem einen Witz erzählt. Und nach dem Abendbrot immer einen Weinbrand getrunken.
Doch zurück zu Vaters »Salem«. Eines schönen Sonntags, ver­mutlich nach dem Mittag­essen und anlässlich Werner Höfers Internationalen Frühschoppens, rauchte er also so eine Zigarette. Wenn ich mich recht erinnere, dann haben die »sechs Journalisten aus fünf Ländern« auch immer gehörig die Bude vollgequarzt. »Papa, darf ich mal ziehen?« hatte ich ihn schon oft gefragt. Aber er wies mich natürlich normalerweise immer auf die Gefahr der beschleunigten Verdauung hin. Doch diesmal durfte ich. Vermut­lich wollte er meiner Quengelei ein möglichst schnelles Ende setzen, denn beim Fernsehen wollte er nun ganz und gar nicht gestört werden. Das habe ich geerbt von meinem Vater, dieses völlige Versinken im Fernsehprogramm. Nichts mehr hören und sehen links und rechts. Keinesfalls gestört werden, um nur ja kein Wort zu verpassen. An dieser Stelle könnte ich auch auf eine weitere Sucht zu sprechen kommen, unter der ich leide, beziehungsweise die ich einfach habe: Ich bin fernsehsüchtig. Deshalb habe ich auch noch nie einen Fernseher besessen. Ich würde zu nichts anderem mehr kommen. Sitzen, kucken, glücklich sein. Das ist bis heute so, und bis heute kann ich diese Sucht gut im Zaum halten durch das Nichtvorhandensein eines Fernsehers in meinem Haushalt. Dafür schaue ich natürlich bei fremden Leuten, wenn ich wo zu Besuch bin, so lange, bis einer ausmacht oder ich losmuss. (Und wehe, einer redet währenddessen.)
Aber gut. Bleiben wir beim Rauchen. Ich zog an der »Salem«. Nur ein bisschen. Sicher nur Pustebacke. Mir wurde etwas schwumm­rig zumute. Aber mir wurde nicht schlecht, und ich machte mir nicht in die Hose. Ich glaube, der Reiz, dies überhaupt machen zu wollen, lag hauptsächlich darin, etwas zu tun, was sonst eben nur die Erwachsenen durften.
Und da Vater tatsächlich nur selten und wenige Zigaretten rauchte, blieben die Salem neben dem Aschenbecher auf dem Rauchtischchen liegen. Eines Tages war außer mir niemand wei­ter im Haus. Plötzlich übermannte mich der Gedanke, unent­deckt, nur für mich, eine ganze Zigarette ganz alleine aufzurau­chen. Alles war da. Streichhölzer, Aschenbecher, die Zigaretten. »Salem No. 6« in der hübschen, grünen Packung, die aufgerissen war und bei der es wohl kaum auffallen würde, wenn eine Zigarette fehlte.
Ich weiß noch, wie ich eine Art Erektion bekam, die nicht se­xueller Provenienz zuzuschreiben war. Vermutlich kam es dazu, weil ich insgesamt so erregt, so aufgeregt war, weil ich heimlich etwas Verbotenes tat. Machte ich ja sonst nie. Man möge es mir glauben oder nicht. Aber ich war meine gesamte Kindheit und Jugend über ein frommer Christ, der wirklich nicht oft vom Pfad der Tugend abwich. Lediglich meiner Omi stahl ich oft ihre Scho­koladenvorräte weg. (Ja, ich bin auch schokoladensüchtig. Und ich habe es zu großer Fertigkeit darin gebracht, eine Schokola­dentafel auszupacken, die Schokolade zu stehlen und dann das Papier wieder so zu falten, dass die leere Verpackung wie eine echte Tafel Schokolade aussieht. Allerdings war es dann jedes Mal sehr unschön, wenn die Oma sich entschloss, mir diese Tafel zu schenken … »Du alter Gauner!« sagte sie und griff seufzend in ihr abgegriffenes, schwarzes Omi-Portemonnaie, und ich durfte mir aus dem Konsum eine Tafel Ostschokolade holen.)
An allzu viele Einzelheiten meiner Erstbeweihräucherung erin­nere ich mich nicht mehr. Der Schwefelgeruch des Streichholzes gab eine gute Einstimmung. Dann vielleicht ein paar Züge. Si­cher auch nicht auf Lunge. Von Lungenzügen wusste ich damals bestimmt noch nichts. Die Erektion ließ nicht nach. Das war mir dann wohl irgendwie komisch. Außerdem schmeckte die Zigaret­te nicht wirklich herausragend. Schnell drückte ich sie wieder aus und entsorgte die Kippe unauffällig im Müll, die Erektion sich von allein.
Kurz und gut. Es war eines der aufregendsten Erlebnisse meiner frühen Jahre, aber, Damen und Herren, ich wurde damals und dadurch nicht zum Raucher.
Von bereits erwähnter Westverwandtschaft bekam ich hin und wieder auch Westgeld geschenkt.
Wir befinden uns jetzt am Anfang der achtziger. Ich war etwa siebzehn oder achtzehn und ging zur Erweiterten Ober­schule, was in der DDR dem Gymnasium entsprach. Ich befand mich also im Besitz von Devisen und in einer Phase, in der ich mir davon keine Süßigkeiten mehr kaufte. (Das hat vor allem mit meinen Zähnen zu tun. Mit fünfzehn etwa zählte ich mal mei­ne Plomben und stellte fest, dass es schon sieben waren. Eine kleine Hochrechnung ergab, dass ich bald völlig verplombt sein würde. Ich hatte mal gehört, dass man dann Gefahr lief, mit all dem Metall im Mund, Radio empfangen und hören zu können. Das wollte ich nicht. Und so stellte ich den Konsum von Zucker, Süßigkeiten, Kuchen und sonstigem Naschwerk für die nächsten Jahre vollkommen ein.)
Ich rauchte nicht, ich trank nicht, lediglich der Besitz eines Mo­peds verhalf mir zu einigem Ansehen innerhalb des Klassenkol­lektivs. Eines Tages schlenderte ich durch die Kreisstadt, es war herrliches Frühlingswetter, ich hatte aus irgendeinem Grund ein paar D-Mark eingesteckt und betrat den Intershop. Vielleicht, weil ich den Duft so mochte. Westpakete und Intershop rochen einfach viel besser als so manches, was man sonst riechen konnte in der DDR. Was könnte ich mir denn mal kaufen, dachte ich so bei mir. Vielleicht stand am Abend eine Fete an. (Wir haben damals tatsächlich »Fete« gesagt.) Vielleicht stand auch eine Klassenfahrt bevor.
Ich weiß es nicht mehr. Was ich noch weiß, ist, dass ich schon lange bevor ich den Namen Rüdiger Nehberg überhaupt gehört hatte, so etwas wie ein Survival-Fan war. Schon als kleiner Junge hatte ich immer einen Rucksack oder eine praktische Tasche zum Umhängen, oft sogar selbstgenäht, voll mit nützlichen Utensili­en unter meinem Bett griffbereit: Taschenmesser, Streichhölzer, Kerzen, Bindfaden, Kompass, Schokolade, Schmerztabletten, Ta­bletten gegen Durchfall, Trockenspiritus. Ich dachte immer, dass ich das alles brauchen würde, falls mal was ist. Oft unternahm ich dann Wanderungen auf den Feldwegen zwischen den Dörfern und Äckern der Magdeburger Börde, meiner Heimat. Gut ausgerüstet. Und dieser Wahn, gut ausgerüstet sein zu müssen, mischte sich vielleicht mit den gesehenen und gehörten Legenden, die sich so um die Zigarette rankten. Eiserne Ration. Nichts mehr zu Essen, aber noch Zigaretten. Zigaretten gegen den Hunger. Zigaretten zum Wachbleiben, wenn man das Lager bewachen muss. Die Krankenschwester, die dem beidseitig beinamputierten, blinden Soldaten ohne Arme, dem ein Granatsplitter die Nase weggerissen hat und der bald stirbt, im Lazarett noch eine Zigarette hinhält oder sie sogar mit ihm teilt. Das waren Bilder. Stark wie filterlose Zigaretten. Dazu kam diese praktische Größe der Päckchen, die fast überall reinpassten. Und die Zigaretten erinnerten auch ir­gendwie an Munition. Man konnte sie gut und sicher am Körper verstauen. (1) Dann fühlte man sich offenbar auch gut und sicher. Man hatte alles dabei, für den Fall, dass … Man kann ja nie wis­sen. Mein Vater hat übrigens seine ­Zigaretten, die er nach dem Krieg in englischer Gefangenschaft erhielt, immer gegen Essen eingetauscht. Ich glaube, damals hat er noch nicht geraucht. Oder er war schon damals so klug zu wissen, dass Essen wichtiger ist für den Körper als Rauchen. Aber mir fällt auch gerade ein, dass in den alten Filmen diejenigen, die sich Zigaretten ansteckten, immer irgendwie pfiffig oder cool oder überlegen aussahen. (Ob damals auch schon die Zigarettenindustrie dahintergesteckt hat?) Dieses Heldenhafte, Überlebensmäßige und Kameradschaftliche ging mir vielleicht durch den Kopf, als ich mir im Intershop in Haldensleben meine erste Schachtel Zigaretten kaufte. Es waren »Reyno«. Im grünen Softpack. Auch die gibt’s heute immer noch. Ist schon erstaunlich, wie lange sich Zigarettenmarken halten. Bestimmt alles aus­geklügelte Psychologie der Hersteller. »Reyno«, das sind Menthol-Zigaretten. Ich glaube, die hatten sogar einen weißen Filter. Ich kaufte das Zeug und fühlte mich total männlich. Alle anderen in meiner Klasse, die ich für sehr männlich hielt, rauchten natürlich auch. »f6«, »Ca­binet«, »Semper«, »Alte Juwel«, die na­türlich nur »Juwel« hießen, aber »Alte Juwel« genannt wurden we­gen der Neuen Juwel, die aber Juwel 72 hießen und »Schweine-Camel« genannt wurden. Mann, das war wirklich ein Mistzeug, diese »Neue Juwel«. Hab ich später, während meiner Zeit bei der NVA, alles ausprobiert. Pfui Spinne. Ich erinnere mich gerade daran, dass unser Dorfpfarrer die immer geraucht hat. Juwel 72 waren wohl auch etwas preiswerter als die herkömmlichen Sor­ten, die alle 3,20 DDR-Mark gekostet haben. »Club« kostete 4 Mark. Duett 6 Mark. Der Pfarrer brachte das Kunststück fertig, in der sogenannten Fastenzeit keine Zigaretten zu rauchen. Kaufte sich aber trotzdem jeden Tag seine Schachtel. Als ich ihn fragte, wofür, erklärte er mir, dass er sich nach der Fastenzeit für die Enthaltsam­keit damit belohne, dass er zwei Schachteln am Tag rauchen dürfe. Ich kam ins Grübeln. Wenn sich der evangelische Herr Pfarrer für das bisschen Enthaltsamkeit schon so reichlich belohnte, wie mochten sich dann erst die katholischen Herren Pfarrer für ihre dauerhafte Enthaltsamkeit dem Weibe gegenüber entlohnen? In­zwischen weiß ich es, weiß es die Öffentlichkeit und wissen auch Sie es. Darüber könnte ich ja auch stundenlang lästern, über die Brüder. Aber das sollen andere an anderer Stelle machen. »Augen auf beim Eierkauf!«, wie der Sohn einer Freundin gerne sagt.
Ich jedoch lief die Hagenstraße, die Haupt­einkaufsstraße von Haldensleben, entlang und rauchte »Reyno«. Glücklich, frei, mutig, weltmännisch, männlich. »Cool« haben wir damals nicht gesagt. »Gefetzt« hat das. Möglicherweise habe ich mir irgendwann noch eine Schachtel geholt. Ich weiß es nicht mehr. Gemocht habe ich die Zigaretten sicher bloß wegen des Menthols. Die Zigaretten, die die anderen so rauchten, wollten mir partout nicht schmecken. Vielleicht lag es auch daran, dass ich zu der Zeit keinen Alkohol trank. Das sind zwei ganz schöne Kumpels, die Zigarette und der Alkohol. Das möchte ich an dieser Stelle ruhig schon mal deut­lich sagen. Aber wenn ich das sage, dann sage ich gleich noch ein bisschen mehr: Es ist sicher für die meisten Betroffenen schwie­riger, von der Alkoholsucht loszukommen, als mit dem Rauchen aufzuhören. Aber trotzdem ist es meines Erachtens auf Dauer si­cher nicht so gefährlich, jeden Tag eine Flasche Bier zu trinken, wie eine Schachtel Zigaretten zu rauchen. Aber viele tun ja sehr gerne auch beides. Trinken und rauchen. Das macht ja erst rich­tig Spaß, wenn man es zusammen betreibt. Und wenn man sich daran erst mal ­gewöhnt hat, dann ist es kein Kinderspiel mehr, damit wieder aufzuhören. Weder mit dem einen noch mit dem anderen. Und nicht mehr rauchen, aber weiter trinken, das will gelernt sein. Doch dazu soll dieses Buch beitragen: zu lernen, auch ohne Zigaretten die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Ob­wohl ich es selbstverständlich völlig in Ordnung fände, wenn Sie eine Zeit lang auf alle Gifte und Laster und Leckerschmecker ver­zichten täten. Das auszuprobieren, ist ein Abenteuer ganz eigener Art. Sei’s drum, deshalb haben Sie sich dieses Buch nicht gekauft. Sonst hätten Sie ja zu dem Buch »Endlich Asket!« gegriffen.
Fazit: Als ich mir mit siebzehn oder achtzehn diese Reynos kaufte und sie rauchte, wurde ich nicht abhängig. Weshalb, kann ich nicht sagen. Vielleicht weil ich zu jener Zeit von einem aus­gesprochen starken Glauben an Gott geprägt war. So dass ich mir über die Zigarette keine große Anerkennung holen musste. Die bekam ich ja von Gott und indirekt von meinen Lehrern und der Schulleitung. Für die war ich nämlich von dem Augenblick an, als ich bei einer Befragung über unsere angestrebte Karriere bei der Nationalen Volksarmee öffentlich mitteilte, dass ich Bausoldat werden, also den Wehr­dienst mit der Waffe verweigern würde, ein Aussätziger. Ab da war ich erst mal Märtyrer. Und als Märtyrer konnte ich offenbar ganz gut auf Zigaretten verzichten.

(1) Ich musste bei der Überarbeitung dieses Buches das Wort »verstauen« korrigie­ren. Vorher stand da »verstaunen«. Ein Schreibfehler, sicher. Aber was für ein Wort! Was für ein Verb. Ein Tu-Wort. »Das musste ich erst mal verstaunen!«, wenn einem etwas Überraschendes passiert oder begegnet ist. Oder als Vorstu­fe von Verlieben: »Du, ich glaube, ich habe mich in dich verstaunt, Erika!«

Micha Ebeling stellt sein Buch am 27. Juni um 20.30 Uhr im Kookaburra Comedy Club in Berlin vor.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Micha Ebeling: Lunge, komm bald wieder. Satyr-Verlag, Berlin 2014, 176 Seiten, 11,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.