Zeitlose Behauptungen über den Fußball

Wieder was fürs Leben gelernt

Nach der WM: Elf zeitlose Behauptungen über den Fußball.

Die 20. Fußball-Weltmeisterschaft ist zu Ende. Zwischen den Spielen widmete ich mich Lektüre zweier Bücher: »The Numbers Game« von Chris Anderson und David Sally, 2013 in London erschienen, und »Fußball – eine Kulturgeschichte« von Klaus Zeyringer, 2014 in Frankfurt am Main erschienen. Aus diesen Quellen, der Beobachtung der WM-Spiele und der Rezeption eines fußballanalytischen und eines fußballhistorischen Sachbuchs, speisen sich meine Überlegungen.

1 Fehlerfreundlichkeit
Im Fußballspiel versucht der Mensch, ohne Not und aus freien Stücken etwas zu können, was er nicht können kann, hochelastische Kugeln mit den Füßen zu beherrschen. Der konvexe Ball trifft auf den konvexen Fußspann: Das Misslingen ist programmiert. Das unterscheidet das Fußballspiel grundsätzlich von allen Ballsportarten, bei denen die Hände im Spiel sind. Mit Händen kann man Besitzansprüche an das Spielobjekt stellen, mit Füßen nicht. Deshalb ist das Wort »Ballbesitz« beim Fußballspiel stets in Anführungszeichen zu setzen. Weil im Fußball so vieles daneben geht – Pässe über kurze Distanz kommen nicht an, Torschüsse landen auf dem Tribünendach und der Elfmeter nietet die Eckfahne um –, lehrt das Spiel uns, mit unserem Nichtkönnen, unserem Unvermögen, unserem Versagen Frieden zu schließen.

2 Geduld
Statistik ist gelegentlich lehrreich. Durchschnittlich 14 Mal schießt eine Bundesliga-Fußballmannschaft pro Spiel aufs Tor. Im Handball liegt die Zahl bei 40, im Basketball bei 100. Beim Handball fällt andauernd ein Treffer, beim Basketball andauernd ein Korb. Handballspiele, die nach 60 Minuten 30:30 enden, sind nicht selten. Fußballspiele, die nach 90 Minuten 0:0 enden, ebenfalls nicht. Statistisch betrachtet, fällt beim Fußball nur alle 69 Minuten ein Tor. Fußball lehrt uns, bei der Erfüllung der Wünsche (Tore) geduldig zu sein. Fußball ist ein Sport des Belohnungsaufschubs. Und die Seltenheit des Gelingens macht die Freude umso größer.

3 Ineffizienz lohnt sich
Im Championsleague-Finale 2010 zwischen Bayern München und Inter Mailand zählten Statistiker 2 842 Spielaktionen auf dem Feld. Zwei davon waren die Tore, beide für Inter Mailand. Kein anderer Sport verlangt so viel Aufwand, bevor irgendwas passiert, das wirklich entscheidend ist. Dieses Missverhältnis von Aufwand und Ertrag widerspricht dem modernen Effizienzstreben und dem modernen »Adhocismus«, der alles auf der Stelle will, »subito!« Jedes Fußballspiel lehrt uns, die Ineffizienz zu schätzen und uns von der Vergeblichkeit unserer Anstrengungen nicht einschüchtern, sondern geradezu anspornen zu lassen. Gäbe es einen Heiligen des Fußballspiels, wäre es wohl Sisyphos.

4 Humaner Fatalismus
Fußball ist und bleibt, bei aller Professionalisierung und Kommerzialisierung, ein Fifty-fifty-Spiel. Die Hälfte aller Tore und Ergebnisse kommt nicht durch Qualität und Können zustande, sondern durch Zufall und Glück. (»Erst hatten wir kein Glück, dann kam auch noch Pech dazu«, erklärte Stürmer Wegmann einst die Niederlage seiner Mannschaft völlig korrekt.) Statistisch ausgedrückt: Erst bei vier Toren Vorsprung vor dem Gegner kann man sagen, die bessere Mannchaft habe gewonnen, bei allen Siegen mit geringerem Torabstand ist es die glücklichere Mannschaft. – Fußball lehrt uns, unsere Rechnungen nicht ohne die Unwägbarkeiten und Ungerechtigkeiten von Glück und Pech zu machen.

5 Die Schwachen stärken
Gibt es in Fußballmannschaften »den einen, der den Unterschied ausmacht«? Gemeinhin wird darunter der »Superstar« verstanden, der seine Mitspieler weit überragt. Genau der ist allerdings, wenn es um die statistische Betrachtung von Siegen und Niederlagen über einen längeren Zeitraum geht, nicht entscheidend. »Superstars« sorgen für Geniestreiche sowie einen großen Haufen verkaufter Trikots und stehlen ihren Mitspielern die Show. Spiele entscheiden sie nur in seltenen Fällen. (Man betrachte die Fälle Ronaldo und Messi bei der gerade zu Ende gegangenen WM.) Für Erfolg und Misserfolg sind, statistisch betrachtet, die schwächsten Glieder einer Mannschaft wich­tiger als die stärksten. Der eine, der den Unterschied ausmacht, ist also der »Ausfall«, nicht das »Genie«. Fußball ist kein Spiel des stärksten, sondern des schwächsten Glieds. Jede Mannschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Spieler. Die Stärksten gewinnen keine Spiele, sondern die Schwächsten verlieren sie. Also kommt es nicht in erster Linie darauf an, die Hochbegabten zu hätscheln, sondern die Schwachen stärker zu machen.

6 Keine Unterwürfigkeit
Extraklasse und Kreisklasse liegen in einem hochklassigen Fußballspiel so eng beieinander wie bei bei keiner anderen Sportart. Auch dem weltbesten Fußballer misslingen Aktionen, von denen die Sofakartoffel zu Hause vor dem Bildschirm mit Recht sagt: »Das hätte ich jetzt aber besser gemacht!« Im Fußballspiel macht sich der kleine Mann »hier unten« gemein mit den großen Stars »da oben« und kann sich manchmal sogar über sie erheben und sich zu Recht einbilden, besser als sie zu sein. – Fußball lehrt uns, »oben« und »unten« als flexible Kategorien zu betrachten und eine antiautoritäre Haltung einzunehmen.

7 Besitz wird überschätzt
Von »hohem Ballbesitz« spricht man, wenn eine Manschaft viel am Ball ist. Hoher Ballbesitz ist aber keine Garantie für viele Tore. Die Gleichung »viel am Ball – viele Tore« geht nicht auf. Anders herum wird ein Schuh draus: »Viel am Ball – wenig Gegentore«. Denn »solange wir den Ball haben, hat ihn der Gegner nicht« (Pep Guardiola). – Jedes Fußballspiel lehrt uns zu verstehen, dass »Besitz« eher eine konservative Größe ist.

8 Schule des Altruismus
Das Subjekt des »Ballbesitzes« ist die Mannschaft, also das Kollektiv. »Ballbesitz« verwirklicht sich erst im Zusammenspiel, in der Kooperation. Indem man »abgibt«, besitzt man, und nicht indem man an sich reißt und für sich behält. Eine Mannschaft ist im »Ballbesitz«, wenn sie den Ball in den eigenen Reihen zirkulieren lässt. – Fußball lehrt uns, die individuelle Artistik in den Dienst des Kollektivs zu stellen. »Mannschaftsdienlichkeit« ist die erste Tugend des guten Fußballers, denn von einem »Star« zu reden, ist nur dann erlaubt, wenn damit die funktionierende Mannschaft gemeint ist: Altruismus geht vor Egoismus.

9 Zum Abschluss kommen
Im Auge des Zuschauers, zumal des Fans, ist die Abwehrleistung einer Mannschaft immer im Nachteil gegenüber der Offensivleistung. Ein im Netz zappelnder Ball löst größere Gefühle der Freude aus als ein vom eigenen Verteidiger mit letzter Kraft von der Linie gekratzter potentieller Gegentreffer. Wer vom Publikum geliebt werden will, der muss treffen, nicht verhindern. Seit 23 Jahren wird jährlich der »Weltfußballer« gewählt. Nur ein einziges Mal ist diese Ehre einem Abwehrspieler zuteil geworden: Fabio Cannavaro, 2006.  Jedes Fußballspiel lehrt uns die Vorzüge des Vollstreckens. Finalisieren geht vor Blockieren.

10 Tatsachen anerkennen
Die Regelhüter des Fußballspiels sind dem Geschehen auf dem Spielfeld, das dank der Professionalisierung immer schneller und dynamischer wird, kaum mehr gewachsen. Obwohl es inzwischen acht Augen sind, die sich auf das Spiel richten, und nicht mehr nur zwei wie in der Frühzeit des Fußballs. Umso wichtiger, die häufiger werdenden Fehlentscheidungen der Schiedsrichter als »Tatsachenentscheidungen« anzuerkennen, wie es die Regel vorsieht, und sie nicht durch vermeintlich »objektive« Videobeweise zu ersetzen. Auch Videotechnik ist, mit Thodor Fontane zu sprechen, nur »Tand, Tand aus Menschenhand«. – Fußball lehrt uns, Tatsachen als das zu erkennen, was sie sind: Sachen, die von fehlbaren Menschen getan werden. Das unterscheidet Tatsachen von Realitäten.

11 Wider die Expertengläubigkeit
Fußballexperten scheint es wie Sand am Meer zu geben. Sie sind schon deshalb eine besondere Spezies, weil sie sich selbst dazu ernennen oder von Gutgläubigen und Ahnungslosen dazu ernannt worden sind. Vor dem Turnier in Brasilien behaupteten Experten mit großer Überzeugung, dass Spanien der Favorit des Turniers sei. Als Spanien bereits in der Vorrunde ausschied, erklärten uns dieselben Experten, warum es so und nicht anders hatte kommen müssen. Experten sind Garanten für die Banalität, dass man hinterher immer schlauer ist als vorher, ohne dass man dadurch irgend­etwas hinzulernt, etwa Vorsicht oder gar Bescheidenheit. Fußball lehrt uns, eine gesunde Skepsis gegenüber Experten zu entwickeln. Schon der deutsche Name, »Fach-Leute«, sollte uns warnen.

Fazit: Der Fußball repräsentiert wie kaum ein anderes Spiel die Winkelzüge des Schicksals, die unser Leben prägen. Darum ist es richtig, in Anlehnung an den Kulturanthropologen Clifford Geerz von einem »tiefsinnigen Spiel« zu sprechen. Klar, dass sich Leistung lohnen muss; aber ohne Glück und Zufall, Willkür und Schwindelei führt Leistung im Fußball nicht zum Erfolg. Klar, dass Fairness oberstes Gebot ist; aber auf dem Platz gilt: Erlaubt ist alles, was keiner sieht. Als freundliche Aufforderung formuliert: Genieße die seltenen Augenblicke des Glücks und hadere nicht mit deinem Pech. Gehe davon aus, dass daneben geht, was daneben gehen kann, aber versuche es unverdrossen weiter. Und zwar im Team, denn »allein machen sie dich ein« (Franz Beckenbauer). Und immer dran denken: Das Spiel ist nicht vorbei, ehe es vorbei ist. Ein Fußballspiel, richtig gelesen, verleiht nicht nur eine schlitzohrige Lebenstüchtigkeit, sondern macht geradezu lebensklug.