Das Internationale Filmfestival in Odessa

Der andere Maidan

Debatten und Schweigeminuten: In Odessa fand zum fünften Mal das Internationale Filmfestival statt. Die politische Situation in der Ukraine hat die Menschen in die Vorführungen getrieben und ihre Erwartungen ans Kino verändert.

Es sind Fragen, die sich kein Regisseur wünscht, der seinen Film zum ersten Mal in seinem Herkunftsland vorführt, zumal es in Sergej Losnizas formal strenger Dokumentation »Maidan« um nichts weniger geht als um den Aufstand auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew im November 2013. Warum er diesen Film überhaupt gemacht habe, will eine Zuschauerin nach der Vorführung im Festival-Palast in Odessa wissen – und vor allem: für wen? Warum wird nichts erklärt? Warum fehlt die Musik, der leitende Kommentar? Wo sind die Großaufnahmen, fragen andere im Publikum sichtlich enttäuscht. Man spürt, dass sich viele Menschen in der Ukraine zurzeit etwas anderes vom Kino erwarten: die Stärkung des Kollektivs, ein deutliches Bekenntnis zum Nationalen, zum »Ruhm« des Landes, wie es in der ukrainischen Nationalhymne heißt, die die Demonstranten im Film immer wieder anstimmen. Losniza lässt sich davon nicht beeindrucken, sein Blick auf die Ereignisse in Kiew – in starren Kadern zu einer offenen Chronologie montiert – ist vielen Zuschauern zu distanziert, zu formal und offenbar zu wenig parteiisch.
In Zeiten des Krieges sieht man Filme anders. Dies wurde auf dem 5. Odessa International Film Festival, das vom 11. bis zum 19. Juli in der ukrainischen Stadt stattfand, deutlich. Vorher hatte es auch Kritik daran gegeben, dass die festliche Kulturveranstaltung während des Krieges überhaupt stattfindet. Der Leiterin des Filmfestes, Wiktorija Tigipko, und ihren Mitarbeitern ist es jedoch unter schwierigen Bedingungen gelungen, ein Programm auf die Beine zu stellen, das die Menschen in Scharen ins Kino trieb und für Diskussionen sorgte, aber auch viel Zustimmung fand.
Etwa der Film »Love Me«. Als sich die frus­trierte Ukrainerin Sasha zusammen mit ihrem türkischen Zufallsbekannten Cemal gegen eine Gruppe Polizisten zur Wehr setzt, gibt es vom Publikum im Festivalkino Rodina spontan Szenenapplaus, obwohl der Film nur in einer kurzen Episode und eher nebenbei vom Widerstand gegen die Behörden erzählt. Überhaupt wird in Odessa fast immer spontan geklatscht und gejubelt, wenn der ukrainischen Polizeigewalt oder den russischen Besatzern auf der Leinwand Paroli geboten wird. In »Love Me« geht es vordergründig um einen türkischen Junggesellenabschied, der im ukrainischen Bordell eine ungeahnte Wendung nimmt und den beiden Liebenden Sasha und Cemal das Happy End verdirbt. In der letzten Einstellung des Films blickt Sasha auf das über sie hinwegfliegende Flugzeug, in dem Cemal auf dem Weg zurück in die Türkei zu seiner zukünftigen Ehefrau sitzt.
Man könnte meinen, dieses leichtfüßige Comedy-Drama habe wenig mit dem Maidan zu tun, doch als Regisseurin Maryna Er Gorbach im Publikumsgespräch die zögerliche Haltung der Protagonistin mit dem Hadern des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch beim Unterschreiben des Assoziierungsabkommens mit der EU vergleicht, merkt man, dass die jüngste politische Geschichte des Landes in fast allen Filmen des Festivals gegenwärtig ist, nicht zuletzt, weil die gesamte ukrainische Filmwirtschaft im Osten des Landes in eine tiefe Krise geraten ist. Der Film »Love Me«, der weltweit erfolgreich auf zahlreichen Festivals lief, hat in der Ukraine keinen Verleih gefunden. Er Gorbach appelliert an das Publikum, sich für das nationale Kino stark zu machen, und Vor­führungen bei den Kinobesitzern einzufordern, denn schließlich sei »Love Me« mit ukrainischen Steuergeldern finanziert worden und das ukrainische Volk habe ein Recht darauf, ihren Film zu sehen.
Unweit des Kinos Rodina befinden sich die Odessa Filmstudios, wo Produktionen des Kollektivs #Babylon’13 gezeigt werden. Die junge Schauspielerin Wiktorija Ljubizkaja steht vor der Tür und verteilt großformatige und aufwändig gedruckte Visitenkarten, auf denen ihr Porträt in 22facher Ausführung zu sehen ist. Sie sucht Arbeit und erzählt, dass die Filmproduktion in den Odessastudios – hauptsächlich sind es ukrainisch-russische Koproduktionen – fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Die Dokumentation von #Babylon’13, für die 40 junge Filmemacher im ganzen Land unterwegs waren, um den zivilen Protest seit den Anfängen auf dem Maidan einzufangen, möchte sie nicht sehen. Wiktorija Ljubizkaja fasst sich an ihr Handgelenk und sagt, dass ihr Puls bei solchen Bildern rase und dass sie Alpträume bekomme: »Ich kann mir nicht ansehen, wie meine eigenen Leute sterben.«
Die Reihe »Cinema of a Civil Protest« beginnt, wie zahlreiche andere Vorführungen in Odessa, mit einer Schweigeminute. Im episodischen Fluss der Bilder begegnet der Zuschauer alten Frauen, die von den Zeiten der Sowjetunion schwärmen, erlebt wütende Bewohner in Donezk, die aggressiv Protestierende beschimpfen, und sieht in der Episode »Shame« in die regungslosen Gesichter von Polizeibeamten. Hinterher bedankt sich ein Zuschauer für den Mut der Filmemacher und sagt, dass derartige Projekte zeigten, was Kino auch sein kann: kollektiv, aktivistisch, medienübergreifend. Alle Filme der Gruppe sind kostenlos auf einem eigenen Youtube-Kanal zu sehen. Zudem nutzen #Babylon’13 soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, um ihre Bilder zu verbreiten.
Zehn Minuten vor Beginn der Vorführung der Filmdokumentation »Pussy versus Putin«, einer unter schwierigen Umständen gedrehte Dokumentation über die Punkband Pussy Riot, erreicht das Festival die Nachricht vom Absturz der MH-17. Viele Zuschauer erfahren von der Katastrophe im Kinosaal, doch zu einem anti-russischen Aufschrei kommt es nicht, obwohl nicht wenige davon ausgehen, dass es sich um einen Terroranschlag prorussischer Milizen handelt. Die Ereignisse des 2. Mai, als unter noch nicht ganz geklärten Umständen 46 pro-russische Demonstranten in den Flammen des örtlichen Gewerkschaftsgebäudes ums Leben kamen, hätten die Menschen in Odessa verändert, erzählt Eugene Zhenja, einer von zahlreichen Helfern des Festivals. Der Schock sitzt noch immer tief, der Vorplatz des Gewerkschaftsgebäudes ist zu einem Dokumentationszentrum geworden.
Es ist bereits ein Uhr nachts und Sergej Losniza beantwortet geduldig die Fragen zu seinem Film. Dem zuweilen vorwurfsvollen Ton der Fragenden begegnet er souverän. Er habe den Film vor allem für sich gemacht und weil sein Gefühl es ihm gesagt habe. Er habe auf Schnitte, Nahaufnahmen und eine emotionalisierende Inszenierung verzichtet, weil er finde, dass Emotionen oft die Sicht auf die Ereignisse versperrten. Stattdessen wolle er seinem Pub­likum Zeit geben, genauer hinzusehen und zu beobachten. Schließlich steht eine ältere Frau aus dem Publikum auf und bedankt sich bei Sergej Losniza dafür, dass er in seinem Film auf viele Tricks verzichtet habe, die zahlreiche Filmemacher vor ihm benutzt haben, um dem Aufstand und der Tragödie eine gefällige filmische Form zu geben: »Danke, dass Sie einen anderen Maidan gezeigt haben!« Große Teile des Publikums applaudieren euphorisch. »Bra­vo!«-Rufe hallen durch den Saal.