Auszug aus »Wenn ich eine Frau wäre«

Zu reif für so was

Sarah Bosetti erklärt die Ähnlichkeit zwischen Badewannen und Balkonen, den Tiefsinn des Busfahrens und die Läufigkeit von Hündinnen.

Ich öffne die Tür und sehe Ulf. Er liegt in einer Blutlache auf dem Boden, die Kehle rot verklebt und ein Messer in der leblosen Hand. Mein Hund sitzt daneben und leckt das Blut auf.
»Davon kriegst du Blähungen«, sage ich. Der Hund wedelt mit dem Schwanz, hebt den Kopf, senkt ihn wieder und leckt weiter. Ich lege die Holzbretter ab, die ich unter dem Arm trage.
»Ich geh jetzt ins Bett«, sage ich. »Wenn du mitkommen willst, mach vorher die Sauerei weg, sonst schläft der Hund wieder in der Ketchup-Pfütze.«
»Das ist kein Ketchup«, sagt Ulf. Er steht auf und lässt rote Tropfen auf den Hund regnen, so dass dieser nun schwarz-weiß-rot gepunktet ist. »Das ist mit Mehl ver­dickter Johannisbeersaft.«
Ich lasse mich in einen Sessel fallen und lege die Füße hoch.
»Das hat mich die letzten drei Stunden gekostet«, sagt er. »Du könntest ruhig mal ein bisschen Respekt vor meiner Kunst zeigen.«
»Schön, dass du deinen Tag sinnvoll verbracht hast«, sage ich.
»Wieso, hast du deinen denn nicht sinnvoll verbracht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich hab mich im Baumarkt verlaufen und mich dabei sehr männlich gefühlt«, sage ich. »Ist das sinnvoll?«
»Geht so«, antwortet Ulf und betrachtet die Bretter, die ich mitgebracht habe. Sehr vorsichtig stupst er eines mit den Zehen an. Wahrscheinlich würde er dazu gar einen langen Stock benutzen, wäre es nicht so inzestuös, ein Brett mit einem Stock anzustupsen.
»Nicht so zaghaft«, sage ich. »Ich bin sicher, ihr werdet gute Freunde.«

Eine Frage der Perspektive

»Klar ist das gerade«, sagt Ulf und hält das schief abge­sägte Brett hoch. »Das ist alles eine Frage der Perspektive.«
»Du meinst, nicht die Seite, die du gerade abgesägt hast, ist schief, sondern die anderen drei Seiten des Brettes?« frage ich. »Die drei Seiten, die der freundliche Mann im Baumarkt für mich gesägt hat und die in einem perfekten rechten Winkel zueinander stehen? Ist es das, was du meinst?«
»Kluges Mädchen«, sagt Ulf und tätschelt mir großväter­lich den Kopf. Wir sind gerade zusammengezogen, und nachdem ich aus alten Brettern einen perfekten Wohn­zimmertisch von königlicher Erhabenheit und der Anmut eines Rehkitzes gezimmert habe, soll Ulf nun die vier vorgesägten Bretter aus dem Baumarkt zu einem Küchen­tisch verschrauben.
»Wieso hast du überhaupt noch an dem Brett herumgesägt?« frage ich. »Die Länge stimmte doch.«
»Ich weiß auch nicht«, sagt Ulf. »Die Säge sah irgendwie traurig aus, als sie so unbenutzt dalag.«
Ulfs Empathie leblosen Dingen gegenüber als über­trieben zu bezeichnen, wäre vielleicht übertrieben. Aber seine Theorie, unbenutzte Nutzgegenstände verfielen in Depressionen, macht mir ein bisschen Angst. Manchmal stopft er ganze Brotpackungen in sich hinein, weil ihn der Toaster so herzerweichend angeschaut hat. Was, wenn mal ein unvorsichtiger Jagdliebhaber eine Schrotflinte in Ulfs Hände legt? Oder schlimmer noch, wenn ihm ein Partyveranstalter ein Karaokemikrophon vor den Mund hält? Oder wenn er beim nächsten Mal, wenn sein Blick auf die Säge fällt, kein passendes Brett zur Hand hat? Was, wenn er aus lauter Mitleid der unbenutzten Säge gegenüber meinem Hund die Beine absägt? Oder mir?
Ulfs schnipsende Finger vor meinem Gesicht holen mich wieder in die Wirklichkeit zurück. »Was denn?« frage ich.
»Ich versteh das nicht«, sagt Ulf. Inzwischen hat er die Bretter verschraubt und den Tisch auf seine Beine gestellt. »Wieso wackelt das Ding denn jetzt?«
Ulf als unpraktisch veranlagt zu bezeichnen, wäre vielleicht unfair. Aber seine Fähigkeit, die Existenz ihn anspringender praktischer Probleme vollkommen zu verleugnen, lässt mich nicht selten beeindruckt zurück.
»Na, weil die drei Seiten von dem Brett da schief sind«, sage ich. »Die der Baumarktmann gesägt hat.«
»Stimmt, da war ja was«, sagt Ulf. Er geht zu den Bücher­kisten, greift sich alle Coelho-Bücher, die wir jemals geschenkt bekommen haben, und verteilt sie so unter den Tischbeinen, dass der Tisch zwar ziemlich schräg, aber dafür ohne zu wackeln steht.
»Du könntest jetzt einen Spruch dazu bringen, dass die Dinger endlich auch mal zu was gut sind«, sage ich.
»Ach was«, sagt Ulf. »Wozu die offensichtliche Schönheit dieses Bildes mit billigen Sprüchen entwürdigen? Wollen wir essen?«
Also decken wir den Tisch. Aber alles, was wir auf unser neues Möbel stellen, rutscht zwar langsam, doch mit derselben Bestimmtheit, mit der Ulf diese Tatsache zu ignorieren versucht, zu einer Seite runter.
Anstatt die Coelho-Bücher unter den Tischbeinen neu zu ordnen, wie es die Phantasielosen unter uns vielleicht getan hätten, baut Ulf auf der Tischplatte eine komplizierte Konstruktion aus hervorstehenden Nägeln und dazwischen gespanntem Gummiband, das jegliches Geschirr am Herunterplumpsen hindern soll. Und so viel muss man ihm lassen: Es funktioniert. Zwar können wir fortan unsere Gläser nur noch zu zwei Dritteln füllen und sollten Gerichte mit allzu hohem Flüssigkeitsgehalt meiden, weil sonst das Essen von den Tellern tropft, aber was soll’s. Wenn wir doch mal Lust auf Suppe bekommen, dann essen wir eben am Wohnzimmertisch, den ich übrigens gar nicht selbst gebaut habe, sondern mein Bruder. Mein Bruder kann nämlich alles bauen, könig­liche Erhabenheit und Rehkitzanmut garantiert. Doch das weiß Ulf nicht. Und ich zähle diese zu den wenigen Lügen, die gut sind, weil ihnen Gutes folgt. So hätte Ulf vielleicht niemals diese Tisch-Nagel-Gummiband-Coelho-Konstruktion gebaut, wenn ihn der durch meine vermeintliche Meisterleistung entstandene Erwartungsdruck nicht dazu gezwungen hätte. Und ich kann nicht guten Gewissens behaupten, unser neuer Esstisch würde nicht mein Leben bereichern. Außerdem wäre, wenn sie noch länger unbenutzt hätte herumliegen müssen, die Säge bestimmt depressiv geworden.
Badewannen-Blues

Ich liege in der Badewanne und denke über Badewannen nach.
»Badewannen sind wie Balkone«, sage ich. »Wer einen Whirlpool und einen fußballfeldgroßen Vorgarten besitzt, der ist reich. Wer eine Badewanne hat, der kann seine Mittelstandsfrustration immerhin noch im lauwarmen Badewasser ertränken.«
Ulf sitzt auf dem Klo, weil er nicht so lange anhalten kann, wie ich bade. Niemand kann so lange anhalten, wie ich bade, behauptet er. Da sich auf Klobrillen sitzende Männer aber meist zu unmännlich für weibliche Augen fühlen, hat Ulf mir verboten, in seine Richtung zu gucken. Also sehe ich nur vor meinem inneren Auge, wie er mit rotem Kopf auf der Klobrille hockt und versucht, nicht laut zu pupsen. Ich rede weiter, um ihm einen Klangteppich zu geben, unter den er seine peinlichen Geräusche kehren kann.
»Badewannen bieten gerade so viel Luxus, wie der Durch­schnittsmittelstandsmittel­europäer benötigt, um sich überdurchschnittlich zu fühlen«, sage ich. »Überdurch­schnittlich erfolgreich. Überdurchschnittlich gesegnet mit materiellem Überfluss. Überdurchschnittlich talentiert als Schwimmer im Sumpf seiner Bequemlichkeiten«, sage ich. Immer wenn mein Wortschatz das sprachliche Pathos eines Groschenromans annimmt, weiß ich, dass sich das Badewasser der geschlechtsteilschrumpfenden Tempera­tur nähert. Das sollte mich nicht stören, schließlich gibt es da bei Frauen wenig, das zu schrumpfen sich lohnen würde, aber langsam wird mir kalt. Außerdem muss ich noch zur Bank. Ich will gerade aufstehen, als Ulf meinen Hund zu mir in die Wanne wirft.
»Was soll das denn jetzt?« frage ich. Eigentlich gebe ich nur ein abstraktes Gurgeln von mir, denn ich habe einen halben Liter Badewasser und eine Hundepfote im Mund, aber ich bin sicher, Ulf hat mich verstanden.
»Der Hund sah irgendwie traurig aus, als er so unbe­nutzt dalag«, sagt er. Ich ziehe die Pfote meines Hundes aus meinem Rachen und trockne mich ab. Der Hund springt aus der Wanne und bleibt sofort zwischen Klo und Waschbecken stecken.
»Unser Badezimmer ist zu klein«, stellt Ulf mit Kenner­blick auf den strampelnden Hund fest.
»Das werde ich in der Bank anmerken«, sage ich und ziehe meine Jeans an. »Ich bin sicher, es wird ihr Herz erweichen.«
Ulf schaut mich mitleidig an.
»Weißt du was, ich habe einen Plan«, sagt er. »Ab mor­gen organisieren wir Kunstperformances im öffentlichen Raum, deren erklärtes Ziel darin besteht, nicht als solche erkannt zu werden. Das wird uns jeden Tag viele Stunden kosten und ergibt überhaupt keinen Sinn, erfüllt also alle Kriterien einer geregelten Lohnarbeit.«
»Verdienen wir damit Geld?« frage ich.
»Na ja, auf Umwegen«, sagt Ulf. »Wir könnten zum Bei­spiel alten Leuten auf der Straße ihre Toupets klauen und die Entrüstung in ihren Gesichtern zu einer Performance erklären. Davon machen wir dann Fotos und hängen sie in einsame Galerien, die niemals jemand betritt, außer wir geben dem Abend einen französischen Namen und den Gästen eine Menge französischen Weißwein aus. Und schon verdienen wir kein Geld mit unserer Kunst, und weil wir kein Geld mit unserer Kunst verdienen, eröffnen wir nebenher ein Geschäft für Gebrauchttoupets, das wir ›Second-Head-Toupets‹ nennen, weil wir Künstler sind und unsere Kreativität kaum im Zaum halten können.«
»Gute Geschäftsidee«, sage ich.
»Ich weiß«, sagt Ulf. »Aus uns wird noch was.«

Ein Leben ohne Ladyshave

»Tja, Frau Bosetti, das tut mir leid, Frau Bosetti, da kann ich Ihnen auch nicht helfen, Frau Bosetti«, sagt der Bankange­stellte P. Immeldorn und wischt sich ein paar Schuppen von der Schulter. Ich verlasse die Filiale der Bank, deren Namen ich aus Rücksichtnahme nicht nenne und deren Logo fast so rot strahlt wie mein wutverzerrtes Gesicht. Ich hasse die Sparkasse. Und viel mehr noch hasse ich Sparkasseninsassen.
Mein erster Freund arbeitete dort. Er sprach mit meiner Mutter, als sei sie Sparkassenkundin, was zwar stimmte, von ihr aber nie als Vollzeitjob gedacht war.
»Ich würde, Frau Bosetti, Ihre Tochter, Frau Bosetti, gerne, Frau Bosetti, zum Tanz ausführen, Frau Bosetti«, sagte er, wenn er in Anzug und Krawatte vor der Tür stand, um mich abzuholen. Und als meine Mutter genug davon hatte, sich jedesmal das Lachen zu verkneifen, bis er endlich weg war, bot sie ihm das »Du« an, woraufhin er jeden seiner Sätze sorgfältig so umformulierte, dass über­haupt keine Anrede mehr darin vorkam.
So sagte er am Frühstückstisch Dinge wie: »Wäre es wohl möglich, eine weitere Scheibe Brot den Weg auf meinen Teller finden zu lassen?« und wischte sich ner­vös seine Schuppen von der Schulter. Meine Mutter bot ihm aus Mitgefühl und aus Angst vor weiteren Lach­anfällen wieder das »Sie« an, was aber nur dazu führte, dass mein Freund mit einer Schamesröte im Gesicht, die dem Sparkassen-Logo in nichts nachstand, gänzlich verstummte. Die Corporate-Identity-Abteilung seines Arbeitgebers hätte sich darüber sicher gefreut, aber meine Mutter musste nun sogar lachen, wenn mein Freund schwieg. Und so fand meine erste Beziehung ihr würdi­ges Ende und ich einen Grund, zu Hause auszuziehen, um sowohl zukünftige Freunde als auch meine Mutter vor derartigen Situationen zu bewahren.
Meinen Dispositionskredit von 500 Euro solle ich bis nächsten Monat ausgleichen, hat Herr P. Immeldorn gesagt. 500 Euro, das seien nur 109 Päckchen Zigaretten, die ich nächsten Monat weniger rauchen müsse, hat Herr P. Immeldorn gesagt. Und dann hat er gelacht und mir eine Zigarette angebo­ten, weil er sich lustig fand, der Herr P. Immeldorn. Ich fand ihn nicht lustig und wollte auch keine Zigarette, weil ich nicht rauche. Das fand Herr P. Immeldorn erst recht lustig.
»Na, dann eben 500 Tassen Kaffee«, sagte er und tippte mit einer kindlichen Begeisterung, die eigent­lich nur Sechsjährigen zusteht, auf seinem Taschenrechner herum. »Oder 33 Komma Periode drei Han­dyguthabenkarten. Oder 63 Komma vier Packungen Kondome. Oder 99 Komma neun sechs Ladyshave-Ersatzklingen …«
Als ich endlich wieder auf der Straße stehe, klingt mir das Gelächter der versammelten Sparkasseninsassen noch immer in den Ohren. Ich will zurückgehen und Herrn P. Immeldorn zwingen, den Tabak aus 109 Päck­chen Zigaretten in 500-Euro-Scheine zu drehen und Kette zu rauchen. Aber das tue ich natürlich nicht. Stattdessen gehe ich nach Hause und male mir aus, wie ich die Pimmeldornsche Hühnerbrust rupfe. Dann weine ich ein bisschen und mache mich daran, keine Zigaretten, keinen Kaffee, kein Handyguthaben, keine Kondome und keine Ladyshave-Ersatzklingen zu verbrauchen.

Selbstmitleid

»Aber warum?« frage ich und werfe Ulf einen jener for­dernden Blicke zu, für die der Blickewerfer eigentlich mit Steinen beworfen gehört, die aber trotzdem jeder Mann bei seiner Freundin als notwendiges Übel akzeptiert. »Nur für ein Stück von dem falschen Glück?«
Wir sitzen im Bett, Ulf mit einer Tasse Zucker in der Hand, weil wir keine Süßigkeiten haben, und ich mit einer Tasse Paniermehl in der Hand, weil wir keine Chips haben.
»Weil Banken nur denen Geld leihen, die keines brau­chen«, sagt Ulf. »Und wenn du noch einmal schlechte Mädchenmusik zitierst, werfe ich dich aus dem Bett.«
»Ja, aber warum wollen sie mir denn kein Geld mehr leihen?« frage ich. »Ich passe doch perfekt ins Konzept: Ich brauche kein Geld. Noch nicht mal die 500 Euro, die sie von mir wiederhaben wollen, brauche ich. Wie auch? Ich hab sie ja gar nicht.«
»Du verwirrst mich«, sagt Ulf.
»Mich auch«, sage ich und schlürfe an meiner Panier­mehltasse. »Mich auch.«

Nachts sind alle Toupets grau

Ich mag kitschige Kunst. Nicht so sehr, dass ich mich in Ramschläden durch Wühltische wühlen würde, aber schon so sehr, dass ich der Sonne beim Untergehen zugu­cken und dabei denken kann: Na ja, ist jetzt nicht neu. Aber der weiß schon, wie’s geht, dieser Gott, von dem immer alle reden.
Und nun stehe ich hier auf meiner rauschenden Insel, gucke der Sonne beim Untergehen zu und denke: Na ja, ist jetzt nicht neu. Und eigentlich kann er mich mal, dieser Gott, von dem immer alle reden.
Nicht die Tatsache, dass es sich bei der Insel um eine Verkehrsinsel und beim Rauschen um den dazugehörigen Autolärm handelt, trübt meinen Sinn für den Schmalz­gehalt der hinter einem Einkaufszentrum versinkenden Sonne. Nein, es ist der Umstand, dass ich Toupets von alten Männerglatzen fische und mich mit der Dringlich­keit der verweichlichten Großstadtbewohnerin nach Hause wünsche.
»Entweder bin ich zu gut, oder die sind zu schlecht«, sage ich, als der achte Mann mit kahlem Haupt weiterspaziert, ohne etwas zu bemerken. Seit einer halben Stunde stehen Ulf und ich in der Kälte, und obwohl er mit jugendlichem Eifer die Kamera bereithält, hat er noch keinen einzigen empörten Blick einfangen können.
»Vielleicht sollten wir auf Taschendiebstahl umsatteln«, sagt Ulf gelangweilt. »Das lohnt sich wenigstens.«
»Du meinst, ich soll Portemonnaies klauen, während du Fotos davon machst, die du anschließend veröffent­lichst?« frage ich.
Ulf zuckt mit den Schultern.
»Wenn ich keine Fotos mache, ist es keine Kunst mehr«, sagt er. »Außerdem mache ich im Moment Fotos davon, wie du Männern ihr künstliches Haupthaar stiehlst. Wo ist der Unterschied?«
»Das eine ist gemein und lustig, das andere ist nur gemein«, sage ich.
»Gemein und einträglich«, sagt Ulf. Damit hat er recht. Verdammt.
»Manchmal schäme ich mich ein bisschen dafür, dass ich das studiert hab«, sage ich.
»Was, Taschendiebstahl?«
»Nein, Kunst. Aber vielleicht sollten wir auch einfach noch drei bis vier Praktika absolvieren, bevor wir loslegen.«
»Womit loslegen?«
»Mit unserer subversiven Anarcho-Independent-Fuck-The-System-Kunst.«
»Du willst, dass das System dir beibringt, wie du es unterwandern kannst?« fragt Ulf. »Klingt nach einer guten Idee.« Er setzt sich auf den Boden und packt zwei Tassen, Zucker und Paniermehl aus.
»Ich hab das auch mal versucht«, sagt er und gießt sich Zucker in seine Tasse, »und bin an der ersten Frage der ersten Aufnahmeprüfung der ersten Kunsthochschule gescheitert.«
»Die da lautete?«
»Vervollständigen Sie folgenden Satz: ›Kunst ist … ‹«
Ich muss lachen.
»Und, was hast du geschrieben?« frage ich und setze mich zu ihm auf den Boden. Ulf schweigt lange, nippt an seiner Zuckertasse, streicht sich mehrmals über den Bart, was, wäre der Bart länger und grauer, vielleicht weise wirken würde, und sagt dann: »Ich weiß nicht, was man machen muss, um Busfahrer zu werden. Einen Führer­schein wahrscheinlich. Aber irgendetwas sagt mir, dass man sich nicht in eine Prüfung setzen muss, in der die erste Frage der ersten Aufgabe lautet: Vervollständigen Sie fol­genden Satz: ›Busfahren ist … ‹, eine Prüfung, die man vor allem dann besteht, wenn man die drei Pünktchen durch einen Punkt ersetzt: ›Busfahren ist. Punkt.‹ Das ist Tief­sinn, aber Busfahren braucht keinen Tiefsinn, denn Bus­fahren hat ja schon einen Sinn, und jeder Busfahrer kennt diesen Sinn, im Gegensatz zur Kunst, deren einziger Sinn darin besteht, dass alle nach ihrem Sinn suchen. Und ab und zu fällt das sogar jemandem auf, was ihm aber nur als Anlass dazu dient, auf dieser Erkenntnis eine neue Kunst­strömung zu begründen.«
»Das hast du geschrieben?« frage ich.
»Na ja, so ähnlich.«
Ich gucke Ulf tief in die Augen.
»Na gut«, sagt er. »Eigentlich habe ich irgendeinen Quatsch über Selbstentfaltung, gesellschaftliche Relevanz und Kommunikations-Blablablubb geschrieben. Bist du jetzt zufrieden?«
»Geht so«, sage ich und betrachte die erbeuteten Tou­pets. Sie sind alle grau. Aber vielleicht wirkt das auch nur so, weil die Sonne inzwischen untergegangen ist.
»Früher wollte ich immer Dorfältester werden«, sagt Ulf plötzlich. »Man muss erst mit 67 anfan­gen zu arbeiten, und je älter man wird, desto gefragter ist man.«
»Na also«, sage ich. »Jetzt kann wenigstens niemand mehr behaupten, wir hätten keine Zukunftspläne.«

Von Hunden und Pferden

Ich sitze im Zug zu meinem Vater, der in einem kleinen Dorf nahe der Grenze wohnt. Mein Hund liegt mir zu Füßen, weil nirgendwo sonst Platz für ihn ist, obwohl die Hundefahrkarte mehr gekostet hat als meine eigene. Irgendeine Logik wird wohl dahinter stecken, denke ich. Eine Logik der Deutschen Bahn, die zu ergründen grund­sätzlich niemandem außer der Deutschen Bahn möglich ist. Ich fahre nur sehr selten zu meinem Vater, und ein bisschen bereue ich meine Entscheidung jetzt schon, denn ich bin in sehr redseliger Gesellschaft.
»Ich liebe Pferde«, sagt der dunkelhaarige und dreitagebärtige Italiener, der neben mir sitzt und dessen Blick schon seit einer halben Stunde an meinem Kinn hängt. Ich glaube, an meinem Kinn ist bis auf ein paar kleine Mitesser nicht viel auszusetzen, aber Stoff für einen halbstündigen Blick bietet es auch nicht. Wahrscheinlich ist es nur meine unermessliche Arroganz, die mich das glauben lässt, doch vielleicht ist es wirklich der ewige Kampf zwischen Anstand und Gier, der des Italieners Blick dort gefangen hält: Der Anstand zieht den Blick nach oben, die Gier zieht ihn nach unten. Das Resultat dürfte Anstand und Gier gleichermaßen unglücklich machen, vor allem aber macht es mein Kinn unglücklich, das sich nun, da es so scharf beobachtet wird, irgendwie beobachtet fühlt und ständig Angst hat, etwas falsch zu machen. Was es natürlich auch gleich tut. Es zappelt, sofern Kinne, wenn es denn »Kinne« heißt und nicht »Kinns« oder »Kinnata«, zappeln können, als wolle es den lästigen Blick abschütteln. Es stolpert, es stammelt, es öffnet und schließt meinen Mund, ohne ihm Worte zu entlocken – kurz: Es lässt mich scheiße aussehen. Und das neben einem Italiener, der von Pferden schwärmt.
Ich frage mich, wie er überhaupt auf das Thema kommt. Vielleicht, weil ein kleines Mädchen mit Pferde-T-Shirt im Gang auf- und abläuft. Vielleicht lässt ihn mein Hund aber auch einfach vermuten, ich müsse wohl tierlieb sein.
Als mein Sitznachbar auf Toilette geht, bleibt das Pfer­demädchen neben meinem Sitz stehen und will wissen, warum mein Hund ein Höschen trägt.
»Weil er blutet«, sage ich.
»Und warum blutet der Hund?«
»Der Hund ist eine Hündin, und sie ist läufig«, antworte ich.
»Was heißt das?« will das Mädchen wissen.
Das Mädchen nervt.
»Das heißt, dass sie ficken will«, sage ich.
»Was heißt das?«
»Das«, sage ich, »kannst du ja mal deine Mama und deinen Papa fragen.«
Das Mädchen läuft weiter und ruft seiner Mutter zu: »Mama, was heißt ficken? Mama, ich will auch ficken!«
Ich überlasse Pferdemädchen und Pferdemutter ihrem Schicksal. Meine Hündin hat ein belegtes Brötchen vom Tisch meines Sitznachbarn zwischen den Zähnen. Ich nehme es ihr aus dem Maul und lege es wieder ordentlich auf den Tisch.
Ich war nie ein Pferdemädchen. Pferdemädchen haben Ponys, Pferdeschwänze, Hasenzähne und saureiche Eltern. Und Pferdemädchen lieben Pferde. Ich war kein Pferdemädchen. Und doch habe ich mal ein paar Monate in einem Reitstall auf Sardinien gearbeitet, habe süße, kuschelige Ponys gestriegelt und bin über samtweiche Sandstrände in den Sonnenuntergang galoppiert. Zwar waren die Sandstrände steile Klippen, die Sonnenunter­gänge die brütende Mittagshitze und die süßen Ponys sturköpfige Vollblutaraber, die ihre Kämpfe um die Rang­ordnung mit erstaunlicher Genauigkeit auf jene kostbaren Momente verlegten, in denen ich zwischen ihnen stand, aber so klingt es doch viel schöner.
Auf Sardinien habe ich also gelernt, unter einem Pferdebauch hinwegzutauchen, ohne mich von einem der frisch beschlagenen Hufe treffen zu lassen. Außerdem habe ich dort gelernt, was man in jedem etwas auf sich haltenden Urlaubsgebiet dieser Welt lernt: Touristen hassen. Und nicht zuletzt habe ich gelernt, keinem Italiener zu trauen, der im schwachen Glitzern einer Dorfdiskokugel behauptet, er liebe Pferde. Denn Pferde liebte plötzlich ein jeder Italiener, der im schwachen Glitzern einer Dorfdiskokugel auf ein vermeintliches Pferdemädchen traf. Das ist ein Klischee, zugegeben, aber eines, das sich jeder der Dorfdiskokugelitaliener mit erschreckendem Enthusiasmus zu erfüllen bemühte.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, weil das Mäd­chen wieder vor mir steht. Diesmal mit empörter Mutter an der Hand.
»Was haben Sie zu meiner Tochter gesagt?« fragt die Mutter.
»Ich habe ihr erklärt, warum mein Hund blutet.«
»Und warum blutet Ihr Hund?«
»Na, aus demselben Grund wie Sie einmal im Monat«, antworte ich.
»Weil der Hund ficken will«, sagt das Mädchen richtig. Mein Sitznachbar, der inzwischen von der Toilette zurück­gekehrt ist, verschluckt sich an seinem Brötchen. Die Mutter sieht erst mich, dann ihre Tochter, dann wieder mich an. Sie scheint allmählich die Fassung zu verlieren.
»Reeeiinhaard!!« brüllt sie plötzlich. Reinhard ist ihr Mann, der sich ein paar Sitze weiter hinter einer Zeitung verkrochen hat. Er hätte sie wohl auch vom anderen Ende des Zuges noch gehört. Schnell kommt Reinhard ange­wieselt. Als er den bösen Blick seiner Frau sieht, setzt er vorsichtshalber auch eine grimmige Miene auf.
»Reinhard, sag doch mal was dazu«, fordert die Frau. Reinhard öffnet den Mund, sieht aber so aus, als wisse er ebenso wenig wie wir, was da nun rauskommen soll. Doch Reinhard muss gar nichts sagen, denn in diesem Moment betritt ein Mann mit Hund den Wagen. Der Hund ist ein Rüde. Welche Rasse, weiß ich nicht, aber er hat irgendwas von einem Dackel. Für mich haben alle Hunde irgendwas von einem Dackel, die aussehen, als habe man ihnen auf halber Höhe die Beine abgesägt. Doch obwohl der Rüde nur halb so groß ist wie meine Hündin und irgendwie lächerlich wirkt mit seinen abgesägten Beinchen, scheint sie seinem Charme zu erliegen. Bei dem Lärm, den die beiden Hunde bei ihrem kleinen Begrüßungs-Smalltalk veranstalten, hätte man Reinhard wohl ohnehin nicht hören können. Reinhard wirkt erleichtert und lächelt sogar ein wenig. Doch als er einen giftigen Blick von seiner Frau erntet, setzt er schnell wieder seine grimmige Miene auf.
Schließlich wird der Rüde von seinem Herrchen weiterge­zerrt und die Szene beruhigt sich ein wenig. Dann kommt der Schaffner und entbindet Reinhard endgültig von der Pflicht, mich zu schelten, da die Familie zu ihren Fahrkar­ten und somit zu ihren Plätzen zurückkehren muss.
Auf der Suche nach meiner Fahrkarte durchwühle ich meine Tasche. Dabei rutscht mir die Leine aus der Hand. Meine Hündin nutzt den Moment, springt auf den Schoß meines Sitznachbarn und von da aus den Schaffner an, so dass dieser auf dem Schoß einer älteren Dame landet, die zwar verblüfft, dem Schaffner aber durchaus nicht abge­neigt wirkt. Obwohl der Schaffner auch nur halb so groß ist wie sie. Und auch er irgendwas von einem Dackel hat. Aber mein Männergeschmack zählt wohl heute nicht.
Meine Hündin läuft in Richtung Rüde davon. Beim Laufen zerrt sie sich brutal ihr Höschen vom Unterleib. Der Rüde schaut ihr dabei zu, als vollführe sie gerade den erotischsten Striptease seit Hundegedenken. Ich will ihr hinterherlaufen, doch der Schaffner hält mich zurück. Die Begegnung mit dem Schoß der älteren Dame scheint ihm weniger gut gefallen zu haben als der Dame selbst, die nun ihren glühenden Wangen Luft zufächert. Er will meine Fahrkarte sehen. Ich versuche ihm zu erklären, was passiert, wenn die beiden Hunde aufeinander treffen, aber das interessiert ihn nicht.
Als ich endlich meine Karte gefunden habe und meiner Hündin hinterherstürze, hat es der Dackel bereits trotz seiner kurzen Beine geschafft, auf sie zu klettern. Es ist zu spät. Die Hunde rammeln freudig vor sich hin. Das Herr­chen des Rüden sieht ihnen fassungslos zu und fragt sich hoffentlich, warum er das nicht verhindert hat.
Plötzlich steht das kleine Mädchen wieder neben mir.
»Was machen die denn da?« fragt es.
»Sie ficken«, sage ich müde.
»Das ist doch schön, dann hat dein Hund ja, was er will!«
Da hat sie recht. Resigniert lehne ich mich zurück und hoffe still, dass es so etwas wie eine Pille danach für Hunde gibt. Das Mädchen stellt sich vor mich und zeigt anklagend mit dem Finger auf mein Kinn. »Iiih, du hast da ’nen Popel«, ruft es. Ich wische mir übers Kinn und streichle meine Hündin, die mich erschöpft hechelnd ansieht, als bäte sie um die Zigarette danach.
»Ich glaube, ich bin zu alt für so was«, murmele ich.
»Zu reif«, sagt das Mädchen. »Das klingt besser.«
Dann dreht es sich um und galoppiert durch den Großraumwagen in den Sonnenuntergang.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Sarah Bosetti: Wenn ich eine Frau wäre, Satyr-Verlag, Berlin 2014, 144 Seiten, 11,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.