Vorabdruck aus »Der Deutsche«

Porträt des Profillosen

Jacques Rivière erklärt den Franzosen die Deutschen.

Jacques Rivière (1886–1925) gehört zu den unbekannten, aber bedeutenden französischen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seit 1910 war er mit Unterbrechungen Redakteur der »Nouvelle Revue Française«. Während des Ersten Weltkriegs geriet er in deutsche Kriegsgefangenenschaft. Unter anderem auf den dabei gemachten Erfahrungen beruhen seine Betrachtungen über die Deutschen, die der Lilienfeld-Verlag nun erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung herausbringt. Wir dokumentieren einen Auszug.

Mir scheint, dass man auf dem Holzweg ist, wenn man an den Deutschen zuallererst Gefühle von abnormer Gewaltsamkeit und Grausamkeit, ein wütendes Temperament feststellen möchte. Ich leugne diese Gewaltsamkeit, diese Grausamkeit, diese Wut nicht, für die es so viele bestätigte Beispiele gibt. Aber ich glaube nicht, dass es bei ihnen etwas Angeborenes ist. Dass sie Barbaren sind, leugne ich nicht, aber es kommt mir auch nicht so vor, als seien sie es ganz nach Art der Hunnen.
Was mir auf den ersten Blick viel eher auffällt, ist ihr Mangel an Temperament und das, was Maurras einmal sehr treffend »die Mittelmäßigkeit des deutschen Grundstocks« nannte. (1) Diese Gesamtheit von Geschmackssinn, Trieben, Vorlieben und Abneigungen, die die Substanz einer jeden Seele bildet und dem Charakter Gestalt verleiht, ist bei ihnen von erstaunlicher Dürftigkeit. Man nehme ausschließlich ihr ursprüngliches Selbst, bevor ihr phänomenaler Wille Zeit gehabt hat, sich einzuschalten: Dann sind sie nichts; sie begehren, sie erwarten, sie verlangen nichts.
Wer wird jemals die ganze Tiefe ihrer Indifferenz schildern können? Und darunter hat man zu verstehen, dass sie zugleich außerordentlich indifferent und außerordentlich undifferenziert sind. Alle Kriegsgefangenen kennen, weil sie sich oft darüber lustig gemacht haben, die unausweichliche Antwort der Wachtposten auf jeglichen Vorschlag, der glücklicherweise gegen kein Verbot verstößt und der zufällig weder vorgesehen war noch von vornherein irgendeine Dienstvorschrift verletzt. Sie erwidern unfehlbar: »Das ist mir egal!« (2) Und man muss den vollen und überzeugten Klang der letzten Silbe mal gehört haben: »Das ist mir egaal!« Sie wird mit radikaler und völliger Aufrichtigkeit ausgesprochen; man spürt, dass es das Seeleninnerste ist, das sich darin ausdrückt und darin erschöpft. Was soll das nun aber anderes heißen, wenn nicht: »Was Sie mir da unterbreiten, nichts in mir neigt dazu und nichts in mir widersetzt sich dem. Ich fühle mich ihrem Ansinnen gegenüber so leer wie nur möglich. Ich könnte lange suchen: Ich würde nichts finden, was dafür oder dagegen spräche. An welchem Punkt sie mich auch packen, ich bin so dermaßen eintönig, so dermaßen einheitlich und so dermaßen gleichwertig! Andere Abweichungen als diejenigen, die man mir beigebracht hat, sind mir so dermaßen unbekannt!«
Wir sollten das nicht verwechseln. Das hier ist nicht der slawische oder orientalische Fatalismus; es handelt sich nicht um irgendeine Form der Resignation. Der Deutsche faltet seine Wünsche und Träume nicht angesichts eines für unbezwingbar gehaltenen Geschehens wieder zusammen. Die Wahrheit ist, dass er ursprünglich weder Wünsche noch Träume, weder Liebe noch Hass, weder Lust noch Ekel noch sonst irgendeine Art von Leidenschaft besitzt. Könnte man also sagen, dass er eine Schlafmütze ist, dass das Leben in ihm träge und geringfügig bleibt? Im Gegenteil: Misst man nicht mehr als die Schwingung, scheint es in ihm außergewöhnlich rege und spannungsgeladen zu sein. Der Strom, der ihn durchfließt, übersteigt die durchschnittliche Intensität bei weitem. Aber er durchfließt nichts als Leere; er findet nichts, um sich zu orientieren; die Materie, die er durchmisst, ist völlig amorph. In dieser Seele sind selbst die Grundzüge der Empfindsamkeit abwesend genau wie ihre elementaren Neigungen und ihre grundlegende Aufteilung.
»Ein Deutscher kann einem Franzosen nicht standhalten«, sagte mir eines Tages ein Kamerad in der Gefangenschaft, ein kleiner Kerl, dessen schmale glänzende Augen und dessen entschlossenen Blick ich immer noch vor mir sehe. Als er ganz allein zur Arbeit in einem Dorf abkommandiert war, hatte er auf seine Arbeitgeber einen außerordentlichen Einfluss ausgeübt und es geschafft, ihre Komplizenschaft für einen Fluchtversuch zu erlangen. Bloß die unvorhergesehene und vorzeitige Reue einer Frau, die sich, und damit ihn, ganz in Tränen aufgelöst bei den Behörden anzeigen gegangen war, hatte sein Vorhaben scheitern lassen.
Es war, als er sich die Leichtigkeit vergegenwärtigte, mit der er all diese Menschen überzeugt hatte, ihm gegen ihr Vaterland zu Hilfe zu kommen, dass er diesen Grundsatz formulierte, dessen Richtigkeit mich verblüffte. Ein Deutscher kann einem Franzosen nicht standhalten. Das heißt, dass, wenn man sie beide in ihrem Naturzustand nimmt, in dem Moment, wo sie noch keine anderen Signale empfangen als nur die ihrer jeweiligen Temperamente, der Deutsche dem Franzosen nicht die Stirn bieten kann; er steht ohne Waffen vor ihm; er hat nichts, was dessen aufrechten und vordrängenden Begierden entspricht, nichts von dieser leidenschaftlichen Lebhaftigkeit, dieser verlangenden Furchtlosigkeit des Herzens, mit denen sein Gegenüber ausgestattet ist. Was sollte er unseren tausend Voreingenommenheiten, unseren gefühlsmäßigen Entscheidungen, dieser Art, wie wir die Dinge auf Anhieb im entschiedensten Licht sehen, entgegenstellen? Sobald es vor unseren Augen erscheint, verfügt das Bild der Realität über all seine Nuancen. Ich behaupte nicht, dass diese Unmittelbarkeit in allen Fällen von Vorteil ist. Ich möchte sogar zeigen, dass sie vielleicht am Ursprung all unserer Fehler steht und all des Unheils, das sich daran anschließt. (Unser Verstand legt sich zu schnell fest.) Aber letztlich zeugt sie von einer generellen Spannkraft, von einem Elan und einem »Freiwuchs« der Gefühle, gegen die der Deutsche mit seiner mageren Spontaneität nicht im Traum denken könnte zu bestehen und die ihn jedesmal, wenn er sich mit einem von uns allein unter vier Augen befindet, in einen Zustand offenkundiger Unterlegenheit versetzt.

Der deutsche Jüngling, fromm und stark,
Beschirmt die heil’ge Landesmark. (3)

Das stimmt nur zu genau. Ich sehe ihn nur zu genau vor mir, »den deutschen Jüngling, fromm und stark«, auf seine Waffe gestützt, zu jedem Kampf bereit, mit fester Brust, den Geist allein von verzweifelter Hingabe erfüllt. Ich sehe ihn nur zu genau vor mir, um ihn leiden zu können. »Fromm und stark«: Das ist also alles, was er uns zu bieten hat, das also ist, in zwei Worten ausgedrückt, seine gesamte innere Vielfalt. Man sage nicht, ein Lied sei kein psychologisches Abbild. Doch, so wie es ist, ist das Porträt komplett, es fehlt daran kein Detail. Das ist er also, der deutsche Held, so wie er sich selbst erscheint, das also sind die ganze Vielschichtigkeit und alle Abstufungen, die er an sich entdeckt; das ist es also, worauf er sich in seinen eigenen Augen und in Wirklichkeit zurückführt.
Mehr als sein Verwüsten, Plündern, Brandschatzen und Morden verüble ich ihm, dass er sich so leicht zusammenfasst, sich auf so weniges reduziert. Es ist sein inneres Nichts, das ich ihm nicht verzeihen kann. Um glauben zu machen, dass er etwas ist, muss er sich Tugenden suchen; er setzt erst mit der Moral ein. Um wahrzunehmen, dass er existiert, muss man ihm etwas zu tun geben; dann kann man bewundern, wie er es richtig macht. Er ist eines dieser Wesen, die man erst bemerkt, wenn man dazu verpflichtet ist, sie zu loben.
Die Alten vom Landsturm, die ins Lager kamen, um ihren Arbeitsdienst abzuleisten, wandten sich, nachdem sie mit vor Respekt gespanntem Gesicht die Anweisungen des Unteroffiziers vom Dienst entgegengenommen hatten, zu der Gefangenengruppe um, die sie begleiten sollten, und riefen: »Also, marsch!« Das bedeutet: »Da wir es nun einmal machen müssen, machen wir’s eben!«
Nichts hätte sie dazu treiben können, es unaufgefordert zu tun, dieser Einfall wäre ihnen nie gekommen. Aber es war geradezu erschreckend, sich zu überlegen, bis zu welchem Punkt ihnen überhaupt keine Einwände in den Sinn kamen! Man spürte an ihnen eine nahezu unendliche Leere und vor allem, was mich mehr als alles andere aufregte, diese gute Laune von Menschen, die keine Wünsche haben, die damit zufrieden sind, zu tun, was man ihnen befiehlt, weil sie sonst nicht gewusst hätten, womit sie sich die Zeit vertreiben sollen.

Da es sich dabei, wie ich glaube, um den Zug seines Charakters handelt, den man am wenigsten an ihm vermutet, möchte ich diese grundlegende Unbestimmtheit des Deutschen anhand einiger Anekdoten veranschaulichen. Aber wer wird je in hinreichend heldenhaften Worten erst einmal seine Geduld besingen? Wer wird von all dem erzählen, was man ihn »mit ansehen lassen« kann, bevor er begreift, dass er sich darüber aufzuregen hat?
Jeden Donnerstag gingen wir in der Stadt Einkäufe für den Versicherungsverein (4) unseres Lagers machen. Von einem einzigen Wachtposten begleitet, den wir mehr hinter uns herschleppten, als dass er uns führte, traten wir ungehindert in alle Geschäfte und wurden stets königlich empfangen. Wir ernteten sogar so manches Lächeln und so manche Komplimente, die sich niemals an die Adresse gewöhnlicher deutscher Soldaten verirrt hätten. Denn zwar ist der gegenseitige Beistand unter den Deutschen gewiss sehr groß, aber sie lieben einander kaum. Es genügt, sie untereinander sprechen zu sehen, um sich davon zu überzeugen. Dasselbe Gesicht, das uns voller Liebenswürdigkeit anblickte, wurde hart, finster und trocken, sobald es sich einem Landsmann zuwandte: eine kurze Antwort, nur das Nötigste; und wenn »der Andere« nicht zufrieden war, blieb ihm nur, einfach zu gehen. (Es könnte kurz und gut auch sein, dass der Unterschied in der Aufmerksamkeit teilweise mit dem Unterschied zusammenhing, den der Händler in den jeweiligen Geldbörsen vermutete.) Wie dem auch sei, nicht diese seltsame psychische Anomalie ist es, die ich im Augenblick hervorheben möchte. Ich denke eher an die Ausdauer gewisser Feldgrauer, die darauf warteten, sich bedienen zu lassen, bis man mit uns fertig war. Neben anderen sehe ich noch einen vor mir, den wir in einer Eisenwarenhandlung bestimmt fast eine halbe Stunde lang »festgesetzt« hatten. Ohne es auch nur zu wagen, sich hinzusetzen, schaute er hinter unseren Rücken mit schwermütigem Ausdruck die Sägen und Hippen an, die von der Decke hingen, und stieß von Zeit zu Zeit zaghafte Seufzer aus. Manchmal warf ihm einer von uns über die Schulter hinweg einen ironischen und amüsierten Blick zu; aber er schien es nicht zu bemerken. Was waren wir indes anderes als gewöhnliche Gefangene, als Sklaven, die er mit einer einzigen Geste hätte wegfegen können? Aber ich bin mir sehr sicher, dass er an diese Kleinigkeit gar nicht dachte; und was ihn diesbezüglich so vergesslich machte, war weder Großmut noch ein Aufwallen menschlicher Brüderlichkeit. Er empfand ganz einfach nichts; er erfasste die Situation gefühlsmäßig nicht; sie versetzte ihm keinerlei Stoß; sein Herz verfügte nicht über die Adern, die ihn hätten erbeben und aufbegehren lassen müssen.
Im Zug zwischen Leipzig und Frankfurt waren wir sechs Gefangene in Begleitung zweier Wachen. Wir hatten uns in einem Abteil komfortabel eingerichtet, und gleich als erstes hatten zwei von uns, ohne zu zögern und ohne den geringsten Protest unserer Bewacher hervorzurufen, die beiden Plätze am Fenster eingenommen. Der Zug war jedoch brechend voll: viele Fronturlauber, einige Zivilisten; und von unseren Plätzen aus betrachteten wir all diese Leute, die sich größtenteils stehend auf dem Gang zusammendrängten, einige kläglich auf ihre Bündel gehockt, allesamt aneinandergeque-tscht, von jedem Vorbeikommenden auf die Füße getreten, von jedem Ruck des Zuges gegen die Wände geworfen, aber mitnichten daran denkend, uns zu belästigen. Wir hörten, wie sie einander anmurrten; das hielten sie für das Beste, was sie tun konnten. Am Ende erschien uns das Schauspiel so lächerlich, dass wir uns entschlossen, einen großen Artilleristen, der sich quer zur Tür aufrecht hielt, »einzuladen«, sich zwischen uns zu setzen: Er nahm unter gewaltigen Danksagungen an.
Es ist unglaublich, wie langsam der Deutsche darin ist, sich das richtige Verhältnis zu den Menschen, auf die er trifft, zu vergegenwärtigen: Das liegt daran, dass er von keiner gefühlsmäßigen Regung, von keiner unmittelbaren Empfindung darüber aufgeklärt wird. Und der Franzose profitiert von dieser Spätzündung auf bewundernswerte, oft sogar kühne Weise. Vom ersten Augenblick an unterrichtet, erfasst er mit wahnwitziger Keckheit seinen Vorteil und treibt ihn während der Zeit, in der der Andere seine Reaktion zusammenzustellen beginnt, so weit wie möglich. Komme danach, was wolle! Immer wird er beim Abwarten ordentlich zu lachen gehabt haben.
Man macht sich bestimmt kein Bild davon, was die Gefangenen ihre Bewacher alles »schlucken« lassen konnten. Man macht sich keine Vorstellung vom Ton gewisser Gespräche zwischen ihnen. Wie oft habe ich meine Kameraden zu ihrem Bauaufseher sagen hören: »Ihr könnt machen, was ihr wollt, ihr seid erledigt! Es ist nur noch eine Frage von Tagen, Monaten oder Jahren. Aber ihr seid erledigt. Ganz Europa weiß das. Nur ihr wisst es noch nicht.«
Eines Tages sieht sich ein Gefangener von einem Fliegeroffizier angesprochen, der die Naivität besitzt, ihn zu fragen, was er über den Krieg denkt. Der Franzose zeichnet sogleich ein grauenhaftes Bild von der Lage, in die Deutschland sich leichtsinnigerweise verstrickt hat, und zeigt die Strafe auf, die sich ihm Schritt für Schritt nähert. Ich erinnere mich vor allem an das Fazit seiner Schelte, so entschieden, dass es den anderen ganz verdutzt zurückließ:
»Und überhaupt«, schrie er, »wenn man es nicht einmal fertig bringt, seine Gefangenen zu ernähren, macht man auch keinen Krieg!«
Wir hatten einen Unteroffizier, der damit betraut war, uns exerzieren zu lassen. Rosiges Gesicht, den Kopf stets leicht zur Seite geneigt, süßliche Rede, schüchternes und verlegenes Auftreten; im zivilen Leben war er Puppenfabrikant. – Bei solch einem Einfaltspinsel, wird man sagen, gab es durch provozierendes Auftreten wenig Ehre zu gewinnen. – Richtig, aber obwohl er so gut wie nie Bemerkungen machte und sich mit den Bewegungen begnügte, die mit all der Nachlässigkeit ausgeführt wurden, die Franzosen bei einer Arbeit, die sie langweilt, an den Tag legen können, besaß er ein kleines Heft, in das er von Zeit zu Zeit brav persönliche Notizen kritzelte. Und die Folge davon war für gewöhnlich, dass nach ein paar Tagen einer von uns für schlechte Haltung bei der Übung in die Zelle abgeführt wurde. Das Tier war also doch giftig. Nun denn! Trotz der Gefahr, die es bedeutete, ihn zu reizen, kann ich nicht ohne Lachen, fast hätte ich gesagt ohne Mitleid, an die Ungeheuerlichkeiten denken, die ihn anhören zu lassen manchen von uns gelang. Selbstverständlich hatte auch er die ausgesprochen deutsche Manie, uns nach unserer Meinung zum Kriegsgeschehen zu fragen. Niemals waren es also wir, die anfingen. Aber natürlich waren wir es, die fortfuhren, und mit welchem Schwung! Ich erinnere mich vor allem an die Zeit des Angriffs auf Verdun. (5) Der Arme hatte die Unvorsichtigkeit begangen, uns vom ersten Tag an zu verstehen zu geben, dass er mit dem unmittelbaren Fall der Festung rechnete. »Nächste Woche werden wir in Verdun sein!« hatte er uns mit einer etwas schüchternen und zufriedenen Miene verkündet. Indem er sich also eine Sicherheit verlieh, die tatsächlich zu empfinden er in diesem Moment zweifelsohne weit entfernt war, entgegnete ihm einer meiner Kameraden schroff, dass die Deutschen weder nächste Woche, noch den folgenden Monat, noch überhaupt jemals in Verdun einmarschieren würden. Und man stelle sich seinen Triumph vor, als die Ereignisse seine Weissagung bestätigt hatten! Ich sehe ihn noch vor mir, wie er dicht vor der Nase seines Opfers und mit geradezu drohenden Gesten sprach: »Na, also! Da sehen Sie, wie Sie in Verdun einmarschiert sind! Neulich waren Sie noch in Douaumont. Heute sind Sie nicht mehr da. Das ist aber eine sehr komische Art des Vormarschs … Na ja, gut, vielleicht mit der Zeit! … Aber nein, ihr werdet niemals dort ankommen. Ihr seid einfach zu blöd. Der Kronprinz wird euch alle vor unseren Schützengräben krepieren lassen; aber weiter vorankommen werdet ihr nicht« etc. Unter diesen Anfeindungen, deren Wortlaut ich keineswegs übertreibe, hatte unser Mann einen jämmerlichen und beleidigten Ausdruck angenommen, aber er rührte sich nicht. Zitternd und geduckt wie ein Vogel unter einem Platzregen versuchte er einfach nur mit einem falschen kleinen Lächeln der Verlegenheit auf den Lippen, dem Redefluss unseres Kameraden Einhalt zu gebieten, indem er ihm die Hand auf den Arm legte: »Erlauben sie mal! Erlauben sie mal!« Aber er dachte überhaupt nicht mehr an sein Notizbuch noch an seine Uniform, die ihm eine so schreckliche Macht über seinen Gesprächspartner verliehen. Er war entnervt, sonst nichts.
Einem Wachtposten – ein »braver Junge«, der kein einziges Wort Französisch konnte – hatten Gefangene wie einem Kanarienvogel folgenden einfachen Satz beigebracht: »Sie sind erledigt, die Boches!« Und er ging ihn überall mit Verzückung wiederholen. Wenn wir ihm im Lager begegneten, riefen wir ihm zu: »Sind sie erledigt?« Und er antwortete: »Sie sind erledigt, die Boches!« Eines Tages sahen wir ihn dann ganz traurig daherkommen: Irgendwer hatte ihn über den Sinn seines liebsten Ausspruchs aufgeklärt. Aber alles, was er tat, war, sehr unglücklich und ganz zerstört darüber zu sein, ihn nicht mehr von sich geben zu dürfen.
Wenn wir durch die Stadt kamen, liefen uns die Kinder von K. hinterher und riefen uns »Schokolade! Schokolade!« zu. Aber wir besaßen die Kaltblütigkeit, ihnen nichts zu geben, bevor nicht auch sie ihren Untergang durch das gleiche Sakrament aus eigenem Munde bestätigt hatten: »Sie sind erledigt, die Boches!« Und obwohl sie weniger dumm als der Wachtposten waren und den Sinn des Satzes vollständig erfassten, zögerten sie keinen Augenblick, mit solcher Münze das kostbare Täfelchen zu bezahlen. Aus ihren Tiefen stieg keine Empörung auf, die ihnen untersagt hätte, davon Gebrauch zu machen.
Es gab im Lager einen kleinen, gedrungenen Feldwebel, der früher einmal in unserer Fremdenlegion gedient hatte. Seine ganze Liebe galt einem Raben, den er mit mütterlicher Fürsorge aufzog. Er ließ ihn in seinem Zimmer schlafen und gewährte ihm dort Freiheiten, die allem Anschein nach für den Geruchssinn deutlich wahrnehmbare Spuren hinterließen. Das ist zumindest das, was die Gefangenen mir erzählt haben, die zum Arbeitsdienst unter seiner Führung gingen und die er fast ausschließlich damit beschäftigte, Würmer und Insekten für seinen Schützling zu sammeln. Die Franzosen duzten ihn alle, und wenn sie ihn fragten: »Na, Münch, was denkst du denn über den Krieg?« antwortete er unabänderlich mit sächsischem Akzent: »Vielleicht werden die Boches Sieger sein, vielleicht werdet ihr’s sein. Ich selbst pfeif drauf.«
Eines Tages schickte man, um den Samstagsspaziergang zu begleiten, einen alten kleinen Feldwebel, sauber, gut rasiert, mit klaren, traurigen Augen. Ich weiß nicht warum, aber ich vermutete sofort, dass er im zivilen Leben entweder Zuckerbäcker oder Anstandslehrer sein müsse. Kaum hatten wir das Lager verlassen, kommandierte er: »Halt!« Dann näherte er sich den Gefangenen, die sich an der Spitze befanden, und fragte den ersten auf französisch: »Was machen Sie?« Leicht verwirrt verstand unser Kamerad die Frage nicht sofort. »Welcher Beruf?« setzte der Deutsche sanftmütig von Neuem an. »Grundschullehrer«, antwortete also der Gefangene. »Aha! Aha!« gab der Feldwebel mit zweimaligem Kopfnicken und großen Zeichen der Zustimmung von sich. Dann ging er zum Zweiten über. »Was machen Sie?« – »Buchhalter.« – »Aha! Aha!« Er kam zum Dritten, um dieselbe Auskunft einzuholen. Aber der Rest der Kolonne hatte sich nun lebhaft für die Unterhaltung zu interessieren begonnen. Ein Geist des Spotts durchfuhr sie wie eine Welle. Wir fingen an, uns die ausgefallensten Antworten auszudenken. Schon der Dritte von uns, der befragt wurde, erwies sich als »Marchand de Cacaouëts«, als »Erdnusshändler«. »Cacaouëts? Cacaouëts?« wiederholte der Alte mit fragender Miene, wobei er den Kopf ein wenig zur Seite neigte. Aber er ließ sich von so einer Kleinigkeit nicht aus der Ruhe bringen und setzte brav seine Untersuchung fort. Sein Französisch war vermutlich weder sehr umfassend noch besonders auf dem Laufenden, denn er geriet mehr als einmal in Verlegenheit. Wenn er nicht verstand, warf er einen kurzen Blick in die Runde, als ob er uns alle zu Zeugen der Sonderbarkeit der Antwort machen wollte, die man ihm gegeben hatte, und er sah uns sehr wohl an, dass wir im Begriff waren, uns vor Lachen zu biegen. Aber er ließ sich durch nichts entmutigen. Einer von uns hatte ihn nicht im Unklaren darüber lassen wollen, dass er »Marchand de Cochons«, Schweinehändler, sei. »Couchons? Couchons?« machte er mit der gleichen verlegenen Unruhe. Und zog weiter. Er hörte nicht eher auf, bis er den fünfzig oder sechzig Mann, die unter seinem Befehl standen, ihre Geheimnisse entlockt hatte. Dann nahm er wieder das Kommando auf und setzte die Kolonne zufrieden und unterrichtet wieder in Marsch. Er marschierte an unserer Seite mit kleinen, hüpfenden Schritten, und wir machten lauthals Scherze auf seine Kosten. »Ist es möglich«, fragte ich mich, »dass er nicht begreift, dass man sich über ihn lustig macht?« Aber ich glaube eher, dass es ihm egal war; er spürte wohl vage, dass wir nicht sehr ernst waren, aber dieser Eindruck ging bei ihm nicht in Empörung über, er rührte an keine Verwundbarkeiten, er setzte keine Eigenliebe in Flammen, er ließ ihn ruhig, hilfsbereit und zufrieden bleiben. Das war im Winter, es hatte geschneit. Als wir an dem Punkt waren, ins Lager zurückzukehren, ließ er uns auf der Höhe eines weiten Schneefeldes von Neuem anhalten. »Und jetzt macht eine Schneeballschlacht!« sagte er schlicht. Im Laufe des Gefechts wurde er dann mehrfach von scheinbaren Irrläufern getroffen. Er lächelte ein bisschen, klopfte sich ab und fuhr damit fort, uns gelassen zu betrachten.
F. B. war ein großer sächsischer Unteroffizier, beleibt und friedfertig, mit langen Armen, die ihm von den leicht gekrümmten Schultern hingen. Wenn er im zivilen Leben Uhrmacher war, so war er es beim Militär kaum weniger, und er dachte an nichts anderes als daran, uns Uhren anzubieten, für die er uns übrigens wirklich vorteilhafte Preise machte. Er hatte in Frankreich gelebt und konnte unsere Sprache ganz passabel; er sprach wenig, verstand aber ausgezeichnet. Nicht alle Gefangenen waren mit diesem Detail vertraut. Eines Tages kommt er in ein Büro, in dem ein paar Franzosen arbeiteten, die eben nicht darüber Bescheid wussten. Einer von ihnen, schlecht gelaunt, begrüßt ihn mit dem klassischen Ausruf, in dem sich auf unvergleichliche Weise die Seele eines jeden guten Franzosen Luft macht, wenn sich ihm, wo auch immer, eine Gelegenheit dafür bietet:
– Will der uns jetzt auch noch zum Sch…  bringen, der A… da?
Katastrophe, sollte man annehmen. Donnerwetter, Wutgeschrei, Kerker, Folter. Aber nichts von alledem. Unter dem Gewicht der Beleidigung ein wenig gebeugter als üblich sagte unser Mann mit melancholischem und resigniertem Tonfall, indem er die Silben ein bisschen zog, wie einer, der feststellt, dass er kein Glück hat, schlicht auf Französisch:
»Das ist jetzt schon das dritte Mal seit heute morgen, dass man mich einen A … nennt!«

Eine unglaubliche Profillosigkeit: Das ist es, was ich vor allem anderen am Deutschen festzustellen glaube, das ist es, was mir wirklich am Ursprung seines Charakters zu stehen scheint. Im Ganzen genommen sind diese Leute in keiner Weise empfindlich, sie kennen keine Ungeduld, nichts juckt sie. Manchmal, wie im Fall des kleinen Alten, kann diese Gutmütigkeit rührend sein, sogar nach Großmut aussehen und nach Vergebung der Beleidigungen. Aber man hätte Unrecht, wenn man dies bewunderte und sich darauf wie auf eine positive Tugend verließe; man liefe Gefahr, schwer enttäuscht zu werden. Um sie richtig zu verstehen, darf man darin nichts anderes sehen als die Schwäche des Grundstocks, als den Mangel an psychischen Gegebenheiten, an dem die deutsche Seele leidet. Da ist es hohl, nichts weiter.
Und muss man nicht »ein bisschen hohl sein«, um die eigene Lage und den eigenen Vorteil, den die Ereignisse bieten, so schlecht zu behaupten, wie es die Deutschen tun?
Einer meiner Kameraden, Buchhändler von Beruf, hatte sich als Architekt und Absolvent der École des Beaux-Arts von Paris ausgegeben. Er genoss als solcher ein außerordentliches Ansehen. Man hatte ihm ein Büro bewilligt, wo er mehr oder weniger tat, was er wollte; man kam ihn um Rat fragen und man nannte ihn: »Herr Baumeister!« Kurz gesagt, er saß auf ­einem Thron. Und eines Tages fragt ihn der deutsche Architekt, welches seiner Ansicht nach die Bedingungen Frankreichs für den Frieden seien.
»Wir brauchen«, antwortet er ohne jede Verlegenheit, »Elsass-Lothringen und hundert Milliarden!«
»Hundert Milliarden! Sie irren sich, Sie meinen bestimmt: fünf Milliarden.«
»Ich habe gesagt: hundert Milliarden.«
»Aber das ist ja fürchterlich, das ist ja fürchterlich!«
Und der Deutsche geht also all seinen Freunden erzählen, dass Frankreich für einen Friedensschluss Elsass-Lothringen und hundert Milliarden verlangt. Einer nach dem anderen kamen sie dann zu meinem Kameraden, um sich die Neuigkeit bestätigen zu lassen. »Es war«, erzählte mir dieser, »als hätte ich wirklich die uneingeschränkte Verhandlungsvollmacht der französischen Regierung gehabt. Alle kamen sie an meinem Tisch vorbei:
›Ist es wahr, dass Frankreich hundert Milliarden verlangt?‹ erkundigten sie sich.
›Ganz genau, hundert Milliarden.‹
›Aber das ist ja schrecklich! Niemals werden wir zu diesen Bedingungen Frieden schließen können. Niemals werden unsere Regierenden da zustimmen.‹
Und mit gesenkten Schultern zogen sie verzweifelt wieder ab.«
Man beachte, dass sie damals auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs waren.
Wenn sie das, was sie waren, wirklich EMPFUNDEN hätten, wenn sie es aus Begeisterung und aus Eingebung gewesen wären, wenn sie auch nur ein bisschen von Leidenschaft ergriffen gewesen wären, ließe sich dann glauben, dass sie sich von dem Urteil, das ihnen ein gewöhnlicher Gefangener entgegenzuhalten wagte, hätten einschüchtern lassen und dass sie auch nur einen Augenblick lang die Forderungen eines derartigen Bevollmächtigten berücksichtigt hätten? Aber schon die Selbstsicherheit meines Kameraden war zu viel für sie, sie waren zu schlecht ausgestattet, um ihr die Stirn bieten zu können; kein Appell an ihr Herz gewährte ihnen den Schutz, die Widerwehr, die Schlagfertigkeit, die dazu nötig gewesen wären. Ihr Gefühlsleben ließ sie elendig im Stich.
Und so war es jedes Mal, wenn sie sich uns stellen mussten. Sie verfügten nicht einmal über etwas, um sich auf der Höhe der Situationen zu halten, die sie selbst erzeugten. Das Gefühl, unter dem ich in Gefangenschaft vielleicht am meisten gelitten habe, ist das der Widerprüchlichkeit. Und nie habe ich es stärker empfunden als zum Zeitpunkt der ersten »Vergeltungsmaßnahmen«. Man hatte uns feierlich darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Franzosen den deutschen Gefangenen in Kamerun eine schreckliche Behandlung angedeihen ließen, dass sie sie von Kannibalen bewachen ließen, so dass mehrere dieser Unglückseligen ganz einfach von ihren Wachen aufgeknabbert worden waren, dass die deutsche Regierung sich dazu genötigt sah, Gegenmaßregeln zu ergreifen, um diesen noch nie dagewesenen Akten der Rohheit Einhalt zu gebieten, und dass wir infolgedessen in die Sümpfe Pommerns oder Hannovers geschickt werden würden, wo wir bis zur Hälfte in einem übelriechenden Schlamm steckend zu arbeiten hätten. Der Unteroffizier und Chef unserer Baracke hatte uns bereits sein Beileid ausgesprochen und Abschied genommen, denn er glaubte nicht, dass auch nur einer von uns lebend von dort zurückkommen könne. Ein vielversprechender Anfang. Aber als der Tag des Aufbruchs gekommen und die Kolonne dabei war, das Lager zu verlassen, ließ man sie halten, und ein Offizier richtete auf französisch dies folgende kleine Kompliment hier an uns:
»Meine französischen Freunde, wir sind sehr erfreut gewesen, euch bis jetzt hier gehabt zu haben, wir haben euch absolut nichts vorzuwerfen, und wir bedauern es sehr, dass die Machenschaften eurer Regierung uns zwingen, uns von euch zu trennen. Aber seid versichert: In dem Lager, in das man euch abführt, werdet ihr genauso gut behandelt werden wie hier; ich kann euch versichern, dass ihr euch über nichts zu beklagen haben werdet. Und in ein paar Monaten werdet ihr froh und munter und vollkommen glücklich über euren Ausflug zu uns zurückkehren.«
Ich garantiere nicht für die absolute Genauigkeit des Wortlauts, aber das war eben der allgemeine Sinn der Ansprache, die uns gehalten wurde. Ich gestehe, dass mir das ziemlich komisch vorkam, und noch bevor wir am Bahnhof angekommen waren, begann ich nicht mehr wirklich zu verstehen, wo ich war oder wohin zum Teufel das alles führen konnte. Noch etwas ganz anderes war es allerdings, als wir uns dann im Zug befanden. In den Arbeitervorstädten Dresdens und Leipzigs, die wir durchquerten, standen Frauen an den Fenstern, und sie warfen uns beim Vorüberfahren Küsse zu. Ich sage das, weil ich es gesehen habe. Ich erinnere mich, dass ich den bittersten, aufreibendsten Fragen ausgesetzt den Kopf in die Hände vergrub: Was also war das alles hier? Was wollten diese Dummköpfe denn von mir? Konnten sie sich nicht wenigstens entscheiden? Wenn wir schon im Krieg waren, warum nicht dabei bleiben? Wenn sie mir Böses wollten, warum taten sie es mir dann nicht vom Grunde ihrer Seele aus an? Ich hätte wenigstens den Hass fühlen wollen, der sie gegen mich antrieb. Da sie sich schließlich offenbart hatten, warum folgte ihr Herz nicht nach? Ich begnügte mich nicht mit ihren Entladungen, ich verlangte zugleich nach ihrer Wut und ihrem Abscheu. Ich konnte für mein Wohlbefinden absolut nicht darauf verzichten. Noch wusste ich nicht gut genug Bescheid, um zu durchschauen, dass es selbst dann, als sie mich zum Tode verurteilten, nichts in ihrem Herzen gab. Ich konnte noch nicht erkennen, dass sie unfähig waren, die Entscheidung, die sie getroffen hatten, mit echtem, mit gefühltem Zorn zu speisen. Ich traute mich weder, das unerhörte Elend ihrer Rache zu erkennen, noch die widerliche Leere, die ihre Grausamkeit gebar.
Was ich eben voranstellte, muss korrigiert werden: Worunter ich in Deutschland vielleicht am meisten gelitten habe, ist der Mangel an Hass, ich meine – Mangel an spontanem, an natürlichem Hass. Das hat mich schon auf dem Schlachtfeld überrascht. Als man uns als Gefangene zu den hinteren Linien abführte, lösten sich aus einer Truppe, die am Waldrand Pause machte, ein paar Männer, um uns vorbeiziehen zu sehen, zum größten Teil junge, fast alle bartlos, manche mit mädchenhaftem Gesicht.
»Die Schweine!« sagte einer von ihnen ganz zaghaft, und man konnte an seiner Stimme erkennen, wie wenig er von dieser Beleidigung überzeugt war und dass er sie ganz einfach wiederholte, bemüht und wortgetreu, so wie er sie gelernt hatte, wie ein Losungswort, wie eine Auskunft, die er von seinen Vorgesetzten erhalten hatte. Er glaubte daran; und das war alles. Aber wehe, wenn er sie sich selbst hätte ausdenken müssen …
Und ich habe seither tausend Demütigungen erdulden dürfen: Aber nie – beziehungsweise nur ein einziges Mal vielleicht – habe ich Hass auf mich niedergehen gefühlt. Dass sich mir die Menschenfreunde hier aber gut in Acht nehmen! Und dass sie dieses Eingeständnis ja nicht verwenden, um auf eine spontane Brüderlichkeit unter Feinden zu schließen. Keine Schlussfolgerung könnte unzutreffender sein. Die Posten, die uns zum Arbeitsdienst abführten, waren sehr weit davon entfernt, vor Rührung und Liebe zu uns überzuborden. Sie hatten einfach leere Herzen. Mit ihrem kleinen Bajonett, das ihnen gegen die Beine schlug, ihrem mit Schweineschmalz beschmierten Schwarzbrot in der Patronentasche, ihren runden Dienstmützen auf dem Kopf, schritten sie fromm und stark, marschierten sie festen und gehorsamen Schrittes links und rechts neben uns zum Steinbruch oder zu der auszubessernden Straße, die man ihnen zugewiesen hatte. Sie lauschten unseren Unterhaltungen, sie beteiligten sich an unseren Scherzen, sie verwünschten mit uns »die Dicken«, die Reichen, die diesen Krieg gemacht haben, um sich noch fetter zu fressen. Nichts in ihnen sprach in diesen Augenblicken gegen uns. Aber es durfte ja nicht plötzlich »Chocolat«, der Feldwebel, der mit der Beaufsichtigung der Arbeitsdienstler betraut war, auf seinem gescheckten Pferd am Horizont auftauchen. Was für eine sofortige Gefechtsbereitschaft! Wie schleunig sie damit zu tun hatten, vor uns rumzuhüpfen und uns anzuschreien und die Nummer derer aufzunehmen, die ihr gebrülltes »Hände aus den Taschen!« nicht verstanden hatten! Und genau hier begann mein Leid. Denn einmal mehr hätte ich für mein inneres Wohlbefinden all diese Wut wirklich aus ihnen selbst hervorgehen hören müssen, hätte ich ihre Seele selbst sie auswerfen fühlen müssen. Ja, vielleicht hätte ich ihnen verziehen, vielleicht hätte ich in der Zukunft eine Aussöhnung mit ihnen für möglich gehalten, wenn sie in diesem Augenblick »ernsthaft« über mich hergefallen wären. Denn dann hätte ich in ihnen Menschen sehen können, statt es mit Marionetten zu tun zu haben.

Anmerkungen
(1) Der nationalistische und antisemitische Schriftsteller Charles Maurras (1868–1952) war schon vor dem Ersten Weltkrieg ein ausgewiesener Deutschenfeind und Vordenker der französischen Rechten, wurde nach dem Krieg Anhänger des Faschismus und im Zweiten Weltkrieg bedeutender Unterstützer der Kollaboration mit dem Deutschen Reich.
(2) Im Text Rivières deutsch wiedergegebene Stellen sind kursiv gesetzt.
(3) Aus der zweiten Strophe der »Wacht am Rhein«.
(4) Société de secours mutuel.
(5) Die Schlacht um die Festung Verdun begann am 21. Februar 1916 mit einem Angriff der deutschen 5. Armee, die nominell unter dem Oberbefehl des Kronprinzen Wilhelm von Preußen stand. Sie endete am 19. Dezember 1916 ohne deutschen Sieg.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Jacques Rivière: Der Deutsche. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Daniele Raffaele Gambone, Lilienfeld-Verlag, Düsseldorf 2014, 208 Seiten, 19,90 Euro.
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