Unterwegs in Rojava
Amûdê, 5. Oktober
Ich sitze in einem Kleinbus, der über eine sandige Straße holpert. Es ist heiß, aus dem Radio dröhnt kurdische Volksmusik. Draußen sieht es aus wie auf dem Mars. Für die einen ist es Westkurdistan, für die anderen Nordsyrien und für wieder andere die PKK-Homezone. Die lokale Bevölkerung nennt das Gebiet Rojava. Drei bis dreieinhalb Millionen Menschen leben hier. Kurden stellen die Bevölkerungsmehrheit. Es gibt auch viele sunnitisch-arabische Dörfer in Rojava. Daneben leben hier christliche Assyrer und noch einige andere Minderheiten.
Wir passieren einen Checkpoint, in Rojava gibt es mehr davon als Ampeln oder Verkehrsschilder. An jedem Ortseingang findet sich einer, die meisten bestehen aus ein paar improvisierten Panzersperren und einem kleinen Wachhäuschen. Ein halbes Dutzend Asayis (Polizisten) mit Kalaschnikows bewacht den Posten und durchsucht verdächtige Autos auf Waffen und Sprengstoff. An diesem Checkpoint tragen die Asayis den Zusatz »Suryoye« auf ihrer Uniform, das bedeutet, dass es sich um eine assyrische Polizeieinheit handelt.
Kemal sitzt neben dem Fahrer und raucht. Vor langer Zeit hat er sich der PKK in Nordkurdistan angeschlossen. Das Guerillaleben lief für Kemal nicht so gut, er wurde festgenommen und verbrachte 20 Jahre in türkischen Gefängnissen. Er kennt einen der Asayis. Freundlich wird der Bus ohne Kontrolle durchgewunken.
»Wir sind gegen einen Gott. Wir sind gegen eine Religion. Wir sind gegen ein Volk. Wir sind für viele gleichzeitig«, sagt Kemal. Rojava wird explizit als eine multikulturelle Gesellschaft begriffen. »Wir wollen, dass alle in Frieden nebeneinander und miteinander existieren können. Das geht aber nur, wenn man die Gesellschaft auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung aufbaut. Und dafür müssen alle das Recht haben, Teil der Gesellschaft zu sein. Sie müssen demokratisch mitentscheiden können.« Tatsächlich ist die Grundlage der politischen Entscheidungsfindung ein kompliziertes System von Räten. Durch Quoten sollen alle ethnisch-religiösen Minderheiten berücksichtigt werden. Die Beteiligung von Frauen wird besonders gefördert, alle wichtigen Räte haben eine Doppelspitze.
In der Ferne sehe ich eine Bergkette, die schon zur Türkei gehört. Wenn man die Grenzen von Rojava nicht mit dem Frontverlauf verwechselt, der das Gebiet vom Islamischen Staat (IS) trennt, sind sie nur schwer auszumachen. »Wir sind kein klassischer Nationalstaat. Wenn sich Orte und Gemeinden dem Rätesystem anschließen, sind sie ein Teil von Rojava«, erklärt Kemal. Bisher besteht es aus drei voneinander abgetrennten Kantonen: Afrîn im Nordwesten, Cizîrê im Nordosten von Syrien und das schwer umkämpfte Kobanê dazwischen.
Ignoriert von der Weltöffentlichkeit hat sich in diesem Landstrich ein demokratisches Experiment entwickelt. Die Rebellion gegen das Regime Bashar al-Assads war hier deutlich zaghafter als in anderen Teilen Syriens. Als die Revolte anderswo in einen Bürgerkrieg umschlug, konnte die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) das Machtvakuum nutzen und sich als bestimmende politische Kraft etablieren. Die Rolle der PYD in der Revolte gegen das syrische Regime ist sehr undurchsichtig. Vieles weist zumindest auf eine zeitweise taktische Komplizenschaft mit der syrischen Ba’ath-Partei hin.
Die PYD ist die Schwesterpartei der berühmt-berüchtigten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Beide Parteien beziehen sich auf die Ideen von Abdullah Öcalan. Zum Glück hat »Apo« (Onkel) - und damit auch die PKK - bereits vor einigen Jahren deutlich Abstand vom alten völkischen Stalinismus genommen. Mit der Annäherung Öcalans an das Denken des US-amerikanischen libertären Sozialisten Murray Bookchin trat die PKK in eine neue Phase ein. Der so entstandene, etwas windschiefe »Apoismus« wurde zur neuen Leitdoktrin. Es soll kein kurdischer Staat und auch keine Konföderation von Teilstaaten gegründet, sondern eine Selbstverwaltung durch kommunale Basisorganisation aufgebaut werden. Faktisch ist die PKK so zur Vorkämpferin einer neuen radikaldemokratischen Bewegung geworden. Als eine Altlast ist vor allem der bizarre Führerkult um den »Onkel« geblieben.
Wir halten bei einem Straßenhändler in einem kleinen Ort, um unsere Cola-Vorräte aufzufüllen. Merkwürdigerweise gibt es in ganz Rojava nur Pepsi-Cola zu kaufen. Der Straßenhändler trägt zwei Halsketten mit Heiligen. An einer Kette baumelt ein goldenes Kruzifix, an der anderen ein Bild von Öcalan.
Aus der Revolte ist eine demokratische Revolution geworden. Trotz diverser sozialistischer Einsprengsel wird dabei nicht das bürgerlich-kapitalistische Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln in Frage gestellt. Rojava ist also kein kommunistisches Projekt, aber immerhin ein rätedemokratisches. »Eine solche Gesellschaft aufzubauen, braucht viel Zeit und Geduld. Es braucht aber auch dringend die Kritik und Hilfe von Freunden«, sagt Kemal, der ehemalige PKK-Kämpfer.
Camp Newroz, 6. Oktober
Wir erreichen das Flüchtlingscamp Newroz, nahe der kurdischen Stadt Dêrik. Wie fast alles in Rojava wird auch das Camp durch ein Rätesystem organisiert und die Sprecher werden gewählt. »Hier leben noch etwa 6 000 Flüchtlinge, überwiegend Yeziden, in 800 Zelten«, berichtet der Sprecher des Camps. »Noch vor einigen Wochen waren es fast doppelt so viele. Die meisten sind in den Irak weitergezogen, weil sie befürchten, dass sie hier nicht sicher sind.« Er sagt, dass die Situation gerade erträglich sei, man sich aber große Sorgen wegen des kommenden Winters mache.
Während er vom Leben im Camp erzählt, laufen immer wieder Kinder ins Zelt und gucken neugierig. Manche setzen sich einfach dazu. Ein kleines blondes Mädchen klettert am Campsprecher hoch. Seufzend lädt er das lachende Kind wieder ab. Dann sagt er zu den Medizinern der Delegation: »Ihr solltet mit den Freunden von Heyva Sor a Kurd (Kurdischer Roter Halbmond) reden, die organisieren die medizinische Versorgung hier.« Gemeinsam gehen wir durch das Lager. Das etwa fünfjährige Mädchen geht an der Hand des Sprechers mit. Ich frage, ob das Mädchen seine Tochter sei. Er schüttelt den Kopf: »Ihre Eltern haben die Flucht nicht überlebt.«
Auf dem Weg durch das Camp wird deutlich, dass es eigentlich ein Dorf ist. Es gibt eine Schule, ein Krankenhaus und ein große Küche. Brot ist hier, wie überall in Rojava, kostenlos. Da auch der öffentliche Nahverkehr frei ist, sind viele Campbewohner auf der Arbeitssuche im ganzen Kanton unterwegs. Ich treffe Ahmet, einen jungen Yeziden. Auf seinen Handrücken hat er sich vor kurzem »Apo« tätowiert. Er erzählt mir von der legendären »Gruppe Soran«. Spätestens seit Juni 2014 hielt sich dieses Kommando der Hezen Parastina Gel (HPG), des militärischen Arms der PKK, in der irakischen Stadt Sinjar versteckt. Die gerade mal zwölfköpfige Guerillatruppe agierte verdeckt, jenseits des kurdischen Gebiets auf irakischem Territorium. Als im August der IS angriff und mit dem Massaker begann, flüchteten die irakisch-kurdischen Peshmerga aus dem Gebiet und überließen die schutzlose Bevölkerung den IS-Terroristen. In dieser Situation gaben sich die Guerilleros zu erkennen. Sie organisierten und koordinierten die Flucht vieler Yeziden in die nahen Sinjar-Berge. Zum Teil lieferten sie sich auch Gefechte mit dem vorrückenden IS. Anfang August versteckten sich über 40 000 Menschen im Gebirge. Mindestens 500 Menschen wurden von nachsetzenden IS-Kämpfern massakriert. Andere verdursteten, starben vor Erschöpfung oder nahmen sich aus Angst und Verzweiflung das Leben. Tage später schossen sich Einheiten der YPG, der Frauenarmee YPJ und der HPG ihren Weg aus Rojava zu den Bergen durch das IS-Gebiet frei. Durch den schmalen Korridor konnte der Großteil der Flüchtlinge nach Rojava evakuiert und ein Genozid an den Yeziden verhindert werden. Zur gleichen Zeit warfen die USA Hilfsgüter ab und flogen Luftangriffe gegen den IS. Doch es waren nicht nur Milizionäre und Guerillagruppen, die geholfen haben. »Alle Autos aus Rojava waren da, um uns abzuholen«, erzählt Ahmet. »Ich werde das nie vergessen. Kurden, Assyrer und Araber sind mit ihren eigenen Autos gekommen, um uns Wasser und Brot zu geben. Sie haben die Kinder, die Alten und die, die schon zu schwach zum Laufen waren, mit den Autos in Sicherheit gebracht.«
So tief wie die Dankbarkeit gegenüber den Guerillas und Milizen ist, sitzt jedoch auch die Wut auf die irakisch-kurdischen Peshmerga. »Die haben uns einfach den Schlächtern überlassen!« sagt Rashid, ein Yezide, der mit seiner Familie im Flüchtlingscamp lebt, sichtlich verärgert. »Ich werde eher unter Daesh (die arabische Bezeichnung für den IS, die Red.) leben als noch einmal den Versprechungen der Peshmerga zu glauben. Nichts ist schlimmer als ein falscher Freund, dem du vertraust, der dich aber verlässt, wenn du Hilfe brauchst.« Ein anderer Flüchtling fällt ihm ins Wort: »Noch schlimmer als ihre Feigheit ist, dass sie ihre Waffen mitgenommen haben, anstatt sie uns zu geben. Wir hätten gekämpft.« Einige junge Yeziden hätten sogar versucht, die flüchtenden Peshmerga aufzuhalten und ihnen ihre Waffen zu entreißen. Ahmet fügt hinzu: »Die Peshmerga haben zwei Freunde von mir erschossen, als sie versucht haben, die Waffen zu nehmen.«
Ich frage in die Runde, ob sich die Leute hier im Camp Newroz sicher fühlen. Der Apotheker des Lagers antwortet: »Die Guerillas und die YPG/YPJ haben für uns gekämpft und sind für uns gestorben. Wir sind ihnen auf ewig dankbar. Ich habe keinen Zweifel, dass sie wieder für uns kämpfen, wenn die Terroristen kommen sollten.« Dann guckt er mich ernst an und fügt leise hinzu: »Aber die haben nur Kalaschnikows und ihr gutes Herz. Der IS hat Panzer!«
»Mein Name ist Jelal. Ich möchte euch etwas zeigen«, sagt plötzlich ein Mann in gebrochenem Englisch. Er bittet uns in sein Zelt und legt ein paar Gebetsketten auf den Boden. »Das ist das einzige, was mir von meiner Frau und meinen Kindern geblieben ist. Machen Sie bitte ein Foto davon.« Ich verabschiede mich von Jelal und suche die Mitglieder der Delegationsreise. Einige unterhalten sich im Zelt einer Großfamilie mit einer Gruppe von Frauen. Ich mache mich daran, vor dem Zelt meine Schuhe auszuziehen, dann halte ich inne. Aus dem Inneren des Zeltes höre ich die Stimme eines Freundes, der für die Delegationsreise als Dolmetscher arbeitet. Er übersetzt mit stockender Stimme. Die Frauen sind nur sehr knapp den Jihadisten des IS entkommen. Unter Tränen berichten sie, was sie auf ihrer Flucht erleben mussten. Sie erzählen von unvorstellbaren Gräueltaten. Ich gehe nicht ins Zelt. Das Schockierende im Camp Newroz sind nicht die Lebensbedingungen, sondern was die Menschen auf ihrer Flucht erlebt haben.
Serê Kanyiê, 12. Oktober
Wir sind nahe der Front, westlich von Serê Kanyiê. Es ist fast windstill. Die Abendsonne taucht ein verlassenes Dorf in goldenes Zwielicht. Es gibt hier nicht den üblichen Verkehrslärm, keine plärrenden Kinder, keine Musik oder ratternde Dieselgeneratoren. Das Einzige, was ich höre, ist die Stimme eines Kommandeurs der YPG. Er wiederholt: »Das hier ist die Front. Wir können keine Sicherheit garantieren. Ganz wichtig ist, dass du machst, was ich dir sage.« Ich nicke wieder. Es ist jetzt das fünfte oder sechste Mal, dass er uns diese Verhaltensregeln erklärt. Vorsichtig luge ich über einen aufgeschütteten Wall aus rotbraunem Sand. Der Milizionär kauert neben mir und zeigt mit dem Finger auf einen Hügel in etwa einem halben Kilometer Entfernung. »Daesh«, flüstert er. Ich sehe niemanden. »Das mit den Scharfschützen ist ein Problem. Da muss man einfach vorsichtig sein«, warnt er.
Die Front besteht im Westen von Rojava nicht aus langen Schützengräben. Es gibt keinen erbitterten Stellungskrieg oder klare Frontlinien. Beide Seiten besetzen jeweils verlassene Dörfer und belauern sich gegenseitig in einem Kleinkrieg. Ich blicke mich um. Zwischen den Lehmhäusern halten sich nur zwölf Milizionäre versteckt. Einige liegen auf den Dächern und halten mit Ferngläsern Ausschau. Im Schatten eines Lastwagens, auf dem ein großes Geschütz montiert ist, sitzt eine kleine Gruppe und trinkt Tee. »Ich habe keine Angst zu sterben«, betont der höchstens 20jährige Mendo, ein Kämpfer der YPG. »Ich fürchte mich nur davor, gefangengenommen zu werden. Alle haben Angst davor, lebend in die Hände von Daesh zu geraten«, sagt er.
Der IS ist für seine extreme Brutalität bekannt. Gefangene haben kaum eine Überlebenschance. Sie werden zu Tode gefoltert, gekreuzigt oder enthauptet. Eine militärische Spezialität des IS sind schnelle Schwarmangriffe. Selbstmordattentäter fahren mit Sprengstoff beladene Jeeps und Lastwagen in die gegnerischen Stellungen und reißen so Schneisen in die Verteidigung. Es folgt ein Schwarm schneller, mit schweren Maschinengewehren ausgerüsteter Pick-ups und gepanzerter Geländewagen. Der Gegner wird einfach überrannt. Im Gegensatz zum IS oder den Peshmerga im Irak ist die Ausrüstung der YPG bescheiden. Dafür kann die YPG auf den Erfahrungsschatz der verbündeten PKK-HPG zurückgreifen. Die führt seit fast 30 Jahren einen Guerillakrieg gegen die waffentechnisch überlegene türkische Armee. In vielen Punkten agieren auch die YPG und ihre Fraueneinheiten der YPJ wie eine Guerilla. Die Kämpferinnen und Kämpfer arbeiten in kleinen, mobilen Gruppen, die ihre Gegner in Hinterhalte locken.
Der Kommandoführer telefoniert per Freisprecheinrichtung mit einem Freund, der in Kobanê eine Einheit befehligt. Im Hintergrund sind Schüsse zu hören. In heiterem und triumphierendem Tonfall erzählt er, wie die YPG gestern selbst eine IS-Flagge auf einem leeren Gebäude in der Stadt gehisst hat, in dem sie zuvor Sprengsätze versteckt hatten. Dann hätten sich die Milizionäre zurück gezogen. Zahlreiche Daesh-Kämpfer seien in den nächsten Stunden in das Gebäude gezogen und hätten sich dort verschanzt. Die YPG habe dann das Gebäude per Fernzündung gesprengt und dabei Dutzende IS-Kämpfern getötet. Der Kommandeur gratuliert.