Internationale Solidarität und die Revolutionsphantasien der deutschen Linken

Romantik schadet

In Kobanê konnte der Islamische Staat erst einmal zurückgeschlagen werden – nicht zuletzt auch aufgrund einer beeindruckenden Welle internationaler Unterstützung. Anstatt die Geschehnisse und die Solidarität in den komplexen syrischen Aufstand einzuordnen, jagt die hiesige Linke lieber ihren eigenen verklärten Revolutionsphantasien hinter her.

Die Meldungen, die in diesen Tagen aus Kobanê kommen, klingen wieder hoffnungsvoller. Straßenzug um Straßenzug werden die Kämpfer des »Islamischen Staates« (IS) aus der Stadt vertrieben. Während Kobanê noch vor wenigen Wochen fast verloren schien, kehren die geflüchteten Bewohnerinnen und Bewohner langsam wieder aus der Türkei zurück. Neben dem unermüdlichen Einsatz der YPG/YPJ, den bewaffneten Einheiten der kurdischen Unionspartei PYD, mehrerer unabhängiger islamischer Brigaden und Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA), die seit Wochen in Kobanê kämpfen, war es vor allem der starke und gut organisierte internationale Protest, der diesen Erfolg ermöglicht hat. Neben direkten Aktionen etwa von Tausenden kurdischen und türkischen Aktivistinnen und Aktivisten an der Grenze waren es erst die weltweiten Proteste, die schließlich die USA und ihre Verbündeten zu einer Intensivierung der Luftangriffe auf Stellungen des IS drängten. Selbst die türkische Regierung gab schließlich dem öffentlichen Druck nach und erlaubte den Peshmerga, schwere Waffen aus dem Irak über die Türkei nach Kobanê zu bringen. Ein Vorgang, der vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen wäre, insbesondere weil Kobanê fest in den Händen des syrischen PKK-Ablegers PYD ist. Die Kurdinnen und Kurden haben in Kobanê das geschafft, woran alle anderen syrischen Revolutionsgruppen gescheitert sind – die Welt dazu zu bewegen, ihnen gegen die Barbarei zu Hilfe zu kommen.
Auch viele Linke in Deutschland haben in den vergangenen Wochen ihre Solidarität gezeigt. Rojava, das kurdische Experiment, und Internationalismus scheinen wieder en vogue geworden zu sein. Großdemonstrationen, mitgetragen und mitorganisiert von verschiedenen Gruppen der Linken, finden beinahe wöchentlich statt, Veranstaltungen zu Kobanê und Rojava sind Publikumsmagneten und gleich zwei linke Initiativen sammeln in Deutschland Geld für die Bewaffnung der kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer.

So wichtig die schnelle Solidaritätsarbeit für Kobanê und Rojava war, so erschreckend ist es in gleich mehrfacher Hinsicht, in welch eindimensionaler und selektiver Weise die Geschehnisse von den deutschen Initiativen eingeordnet werden: So wird etwa im Aufruf der Neuen antikapitalistischen Organisation (NaO) und der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin (»Solidarität mit Rojava – Waffen für die YPG/YPJ« vom 4. Oktober) anstatt vom syrischen Aufstand gerade einmal vom »syrischen Bürgerkrieg« geredet, in dessen Mitte die Kurdinnen und Kurden einen fortschrittlichen Gesellschaftsentwurf verteidigen würden. Die Interventionistische Linke geht ihn ihrem Rojava-Aufruf (»Solidarität mit Rojava. Wer wenn nicht wir? Wann wenn nicht jetzt?«), sogar noch ein Stück weiter und schafft es tatsächlich, abgesehen von einem in Klammern stehenden Hinweis, dass Rojava in Nordsyrien liegt, Syrien überhaupt nicht zu erwähnen. Das ist nicht nur ignorant und unsolidarisch gegenüber allen anderen Kräften in Syrien, es zeigt auch, wie wenig Interesse es an den Hintergründen im Nahen Osten und in Syrien gibt.
Denn das kurdische Experiment der Selbstverwaltung im Nordosten Syriens ist nicht einfach aus sich heraus entstanden. Der Freiraum für die relative Autonomie der Kurdinnen und Kurden in Syrien ergab sich erst, weil und nachdem im März 2011 die Menschen in Dara’a die Angst vor der Assad-Diktatur überwunden hatten und für ihre Freiheit auf die Straße gingen. Und nur weil das Regime die Menschen in Damaskus, Homs, Hama und Aleppo mit all seinen militärischen Kräften angriff, gab es im Sommer 2012 den pragmatischen Befehl an die syrische Armee, sich in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Gebieten in die Kasernen zurückziehen – wo sie, wie etwa in Qamishli, noch immer geduldet wird. Der syrische Aufstand hat dabei nicht nur den Raum für das heutige kurdische Experiment geschaffen, vielmehr waren und sind die Menschen im Nordosten Syriens selbst auch ein Teil dieser Revolu­tion. Vergessen scheint, dass die Menschen auch in Kobanê, Amuda und Qamishli unter großen Gefahren seit 2011 auf die Straße gegangen sind, um sich den landesweiten Protesten nach Brot, Würde und Freiheit anzuschließen.

Selbst führende Köpfe der PYD, wie etwa Salih Muslim, ordnen ganz selbstverständlich das demokratische Experiment Rojava in den Rahmen des größeren Umbruchs in Syrien ein. Nicht so die oben erwähnten Solidaritätsinitiativen – Syrien, der Aufstand und andere progressive Kräfte jenseits der PYD scheinen keine Erwähnung, geschweige denn Solidarität zu verdienen. Dabei ist es gerade nicht so, als würden nur die drei kurdischen Kantone Rojavas unter dem IS-Terror leiden und diesen bekämpfen. Fast überall, wo sich Isis beziehungsweise der IS zu etablieren versuchte, gab es lokal heftigen Widerstand. Anfang des Jahres gelang es verschiedenen bewaffneten Einheiten der syrischen Revolution, den IS aus weiten Teilen der Provinzen Idlib und Aleppo zu vertreiben. Und selbst dort, wo sich die Jihadisten festsetzten, gibt es bis heute immer noch Gruppen, die versuchen, Widerstand zu leisten. Unterstützung und Solidarität erhalten sie nicht.
Fast noch schlimmer als die Ignoranz gegenüber einer historischen Einordnung ist die Entscheidung der Rojava-Solidaritätsaufrufe, zur syrischen Tragödie zu schweigen. Nichts zu den Massakern, die der IS in vielen arabischen Ortschaften in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rojava verübte. Kein Wort zu Yarmouk, dem palästinensischen Flüchtlingslager in Damaskus mit seinen 18 000 Bewohnerinnen und Bewohnern, wo inzwischen täglich Menschen verhungern, weil das syrische Regime seit Monaten keine Lebensmittel mehr hineinlässt. Keine Erwähnung von Aleppo, das sowohl vom IS als auch von Regimetruppen belagert wird und wo Fassbomben regelmäßig unvorstellbare Zerstörung anrichten. Ak­tivistinnen und Aktivisten sowie soziale Netzwerke versuchen vor Ort, dem alltäglichen Grauen etwas entgegenzusetzen und dabei nicht nur das Überleben zu organisieren, sondern sich auch für eine selbstverwaltete demokratische Zukunft zu engagieren. All dies findet im selben Land statt, teilweise nur wenige Kilometer von Rojava entfernt.

Eine solche Form der selektiven Solidarität schadet. Nicht nur, weil sie die historische Einordnung völlig außer Acht lässt, sondern weil sie auf fatale Weise genau jene ethnischen Spaltungen unterstützt, die die autoritären Regime im Nahen Osten, auch der Assad-Clan, über Jahrzehnte benutzt haben, um ihre Herrschaft zu stabilisieren.
Die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava konnten sich in einem vergleichsweise geschützten Raum entwickeln, etwas, wozu die durchaus vergleichbaren Strukturen in anderen Teilen Syriens niemals eine Chance hatten, denn sie waren von Beginn an das Ziel brutaler Angriffe durch das Assad-Regime und seine Verbündeten. Zudem gab es mit der PYD eine Organisation, die ein politisches Konzept hatte, über das andere Oppositionelle, inklusive der meisten anderen kurdischen Parteien, in diesem Maße nicht verfügten.
Dabei ist natürlich auch das Experiment in Rojava nicht frei von Widersprüchen. So kam es seitens der PYD immer wieder zu Übergriffen auf Aktivistinnen und Aktivisten anderer Organisa­tionen und zur Ersetzung bereits bestehender Selbstverwaltungs- durch Parteistrukturen der PYD. Mitte des Jahres veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht, in dem detailliert Menschenrechtsverletzungen der PYD in Rojava aufgelistet werden, darunter willkürliche Verhaftungen, Misshandlungen von Gefangenen und politisch motivierte Morde. Die PYD hat auf diesen Bericht reagiert, einige Vorwürfe zurückgewiesen, aber auch Missstände zugegeben und Veränderungen zugesagt. Auch Vertreter der Kantone in Rojava haben wiederholt betont, dass sie noch in einem demokratischen Lernprozess sind, und baten um internationale Unterstützung hierfür. Dieses selbstkritische Verhalten steht in auffälligem Kontrast zum oftmals unkritischen und naiven Bild, das hierzulande die politische Linke von Rojava und der PYD zeichnen. Anstatt das demokratische Projekt in Nordsyrien mit seinen Widersprüchen und Herausforderungen ernst zu nehmen, droht Rojava in der hiesigen Solidaritätsarbeit zur Projektionsfläche von linker Revolutionsromantik zu verkommen – als eine Insel des Guten in einer feindseligen Umgebung, in der unter Führung der PYD völlig widerspruchslos eine herrschaftsfreie Gesellschaft aufgebaut wird. Selbst gestandenen Mitgliedern der PYD graut es inzwischen davor, welch romantisches Bild von ihrem täglichen Überlebenskampf hier gezeichnet wird.
Schon bei den Kämpfen um Kobanê und der Unterstützung der kurdischen Einheiten durch die FSA hat sich gezeigt, dass sich das Schicksal von Rojava nicht vom Schicksal der syrischen Revolution insgesamt trennen lässt. In nächster Zeit könnte dies auf dramatische Weise noch deutlicher werden, da sowohl die Regierungstruppen von Assad wie auch die Kämpfer des IS auf Aleppo und damit auch auf den wenige Kilometer entfernten Rojava-Kanton Afrin vorrücken. Bereits in den vergangenen eineinhalb Jahren gab es eine enge, wenn auch nicht immer einfache Kooperation zwischen den Einheiten in Afrin und den umliegenden oppositionellen Gruppen. Für das Überleben von Rojava wird entscheidend sein, ob gemeinsam der barbarischen Tyrannei von Assad und dem Terror des IS Einhalt geboten werden kann. Statt einer selektiven Solidarität, die Zusammenhänge ausblendet, braucht es Unterstützung – für das Projekt Rojava und die anderen progressiven Kräfte der syrischen Opposition.