Die Modernität von Samuel Beckett

Die Kapitulation der Wörter

Samuel Beckett und der Zenit ästhetischer Modernität.

Der Argwohn gegen die seit Beginn der neunziger Jahre umlaufenden Theorien der neuen Medien richtet sich nicht zuletzt gegen das eschatologische Tremolo ihrer auftrumpfend gestimmten Reden, das so manchem Aufschneider eigen ist. Ihre Metaphern wirken immer eine Spur zu großartig, so, als seien ihre Vertreter von den eigenen Postulaten nicht recht überzeugt. Die Gesellschaft der Theoretiker der elektronischen Medien hat durch ihr Imponiergehabe etwas Kompromittierendes. Man fühlt sich wie in Begleitung einer zu grell aufgeputzten Dame, denn man weiß nur zu gut, dass, was ihr heute die Aufmerksamkeit aller sichert, sie bereits in der kommenden Saison zum Gespött machen wird.
Der Aplomb, mit dem die Propheten der neuen Medien vor zwei Dekaden eine »digitale Ästhetik« ausriefen und damit eine neue Epoche der Kunst einzuläuten beanspruchten, sei nun, da der Hautgoût des Brandneuen vergangen ist, einmal konfrontiert mit einem Werk, das von Gutenbergs Galaxis längst Abschied genommen hatte, bevor deren Ende verkündet wurde, und das diesen Abschied mittels jener elektronischen Analogmedien bewerkstelligte, die auf Basis von Spiegelung und Proportionalität operieren: Film, Fernsehen, Hörfunk, Phonographie. Samuel Becketts für diese Medien konzipierten Stücke setzen sich avant la lettre dem Kernsatz der Theorien der neuen Medien aus: Die Morgenröte der technologischen Medien läutet die Abenddämmerung alteuropäischer Kunst ein. Dass die Antiquiertheit der Dichtung der Antiquiertheit ihres Mediums, der Schrift, geschuldet ist und alle Texte mit einem medientechnischen Index versehen sind, das lehren die Bezeichnungen von Becketts Stücken seit »Das letzte Band«: »Akt ohne Worte I & II«, »Theater I & II«, »Worte und Musik«, »Film« – bereits mit den Benennungen reflektiert Beckett den Untergang der traditionellen Einheit des Kunstwerks und das Ende des Schriftprivilegs, um sie mit ihrem Medium, das ihre Botschaft ist, zu identifizieren. Beckett schrieb in seinen letzten Jahrzehnten nicht mehr für Leser, sondern adressierte seine Stücke vornehmlich an Medien. Während »Endspiel« noch Reste eines traditionellen Rollenverständnisses barg, ist es doch das letzte Exemplar der dramatischen Gattung, nach dem der Vorhang für diese fällt. Sein Titel verweist weniger geschichtsphilosophisch auf irgendein Weltende als auf das Ende seiner eigenen Gattung. Somit ist »Das letzte Band« das erste Stück nach dem Ende des Theaters. Becketts Ästhetik hat seitdem weder mit der Dramaturgie des Theaters noch mit schöner Literatur etwas gemein. In seinen Medienstücken bestimmt er die Demarkationslinie zwischen ästhetischer Theorie und Medienästhetik. Darin besteht seine auf analogen Medien beruhende technologische Revision der Dichtung.
Und doch setzt Beckett in seinen Medienstücken ein Drama klassischen Zuschnitts in Szene. »Das letzte Band« inszeniert das Drama der Literatur im Zeitalter technischer Medien, denn Krapp ist Schriftsteller, der aufgehört hat zu schreiben und, nach dem Medienwechsel von der Schrift zum Tonband, sich selbst zuhört. Das Tonband zeichnet Daten ohne den Umweg einer Encodierung auf. Somit enthalten Becketts Medienstücke eine Invektive gegen jede traditionelle Ästhetik, nämlich ihre Lehre vom symbolischen Wesen der Kunst. In der Konkurrenz, in der sich der Dichter mit dem Tonband befindet, muss jener unterliegen. Das Tonband speichert Sprache ebenso wie das sinn­absti­nen­te Geräusch, das keine Dichter mehr braucht. Es reproduziert die Autonomie des Klangs in der Kakophonie und Atonalität des Geräuschs. Dem Protokoll des Tonbands sind Wörter nur Begleiterscheinungen in der Bandbreite des Akustischen. Mit der Figur des Krapp hat Beckett bereits in den fünfziger Jahren jene prätentiösen Nachrufe übertroffen, die die Schrift als gesellschaftlich verbindliches Medium entthront und sie durch das Programmieren kybernetischer Datenbanken abgelöst sehen wollen. Man fragt sich erstaunt, wie etwa Vilém Flusser dadurch in den Ruf des avantgardistischen Patriarchen elektronischer Technologien geraten konnte, dass er die Schrift zum Vernunftmodell der Gutenberg-Ära stempelte und als neue Einsicht verkündete: »(D)er Systemanalytiker braucht nicht mehr zu schreiben, der Computer funktioniert ohne Alphabet, und der Massenmensch hat es nicht nötig zu lesen.« (1) Die adventistische Bemühtheit solcher Losungen bekommt angesichts der Beiläufigkeit, mit der Beckett anhand der analogen Hardware des Tonbands und unter Verzicht auf die Insignien der Hypermoderne ähnliche Diagnosen viel früher gestellt hat, eine unfreiwillige Komik. Viele Erkenntnisse der Theorien der elektronischen Medien waren schon vor diesen zu haben. Das Ende des Schreibens wird von Beckett nicht ausgerufen, sondern ist ein Befund, dem die Figur des Krapp längst entsprochen hat, ohne dass es dazu einer kybernetischen Kunst oder einer digitalen Ästhetik bedurft hatte.
Becketts Stücke für analog codierte technische Medien wie Radio, Fernsehen und Film radikalisieren jene Sprachskepsis, der »Das letzte Band« Ausdruck verliehen hatte. In diesen verfährt Beckett wie die phonographische Aufnahme, die, im Unterschied zur Schrift, Sprache nicht auf ihren Sinn hin prüft und für die das Aufgezeichnete den Status von Geräusch hat. In seinen Medienstücken überführt Beckett Sprache nicht in Schweigen, wie es eine kurrente Ansicht wissen will, sondern in Geräusch. Der unartikulierte, sinnwidrige, paralinguistische Abhub menschlicher Sprache und dessen Unterbrechung in den Pausen des Verstummens geben nicht mehr die Kulisse für den Diskurs ab, sondern bestreiten das Hauptprogramm als dissonante Emergenzen von Geräusch, vor dem die Wörter kapitulieren. In »Das letzte Band« münden die Wörter ins Rauschen des in der Stille weiterlaufenden Tonbands, in »Worte und Musik« unterwerfen sich die verstummenden Wörter der Musik und in »Nicht ich« verpflichtet Beckett in der Regieanweisung die Stimme zur Unverständlichkeit, bevor sie sich dem »Sausen« und »Rauschen wie Wasserfall« annähert, das sie unentwegt beschwört. In »Atem« wird der Vorgang des Ein- und Ausatmens von zwei Schreien eines Vagitus kontrapunktiert. In Becketts Medienstücken behalten Stimme und Sprache niemals das letzte Wort; zelebriert wird ihr Untergang in stochastischem Geräusch. Geräusche, Seufzer, Stöhnen, Stille, Schweigen – alles Elemente, die keinen Platz in der Ordnung des Diskurses finden, die den Zeichencharakter der Sprache dementieren und ihr doch nicht weniger angehören als Wörter, verfallen gewöhnlich dem Schicksal, aus der Ordnung des Symbolischen exkommuniziert zu werden. Sprache und ihre Schrift bringen das unsinnige Geräusch wie das sinnwidrige Schweigen der Verständlichkeit und dem Sinn zum Opfer. Diese Selektion beziffert den Preis, den Dichter und Hermeneutiker für ihre Arbeit zu entrichten haben. Absurdität ist bei Beckett kein Existential, sondern Hervorbringung analoger Aufzeichnungsapparaturen. Dies verkannt zu haben, war Adornos Irrtum in Bezug auf Becketts Werk, als er diesem eine »Idiosynkrasie gegen die mechanischen Mittel der Reproduktion« im allgemeinen unterstellte. (2) Der Primat des Geräuschs vor der Sprache in Becketts Medienstücken fordert geradezu die nicht codierend verfahrende analoge Aufzeichnungstechnik, denn das Frequenzband der elektromagnetischen Wellen reproduziert eben nicht nur artikulierte Sprache, sondern auch das Rauschen auf dem Grund aller Nachrichtenkanäle. Vor dem factum brutum des Rauschens fungiert die Stimme nicht mehr als Residuum erfüllter Innerlichkeit, zurück bleibt die nackte Äußerlichkeit des Sprachkörpers. Bestenfalls karikiert die Stimme frühere Reminiszenzen an Innerlichkeit. »Hörte mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig Jahren hielt, kaum zu glauben, dass ich je so blöde war. Diese Stimme! Gott sei Dank ist das wenigstens alles aus und vorbei«, so Krapp. Artikulierte Rede ist unter Medienbedingungen nur ein Epiphänomen von Sound, ohne dass die menschliche Stimme noch Vorrechte vor dem dissonanten Geräusch genießt. Den Schriftgläubigen entgeht die Polyphonie des Geräuschs auf dem letzten Tonband. Erst Phonographie verschafft dem Unerhörten Gehör, dem Geräusch, das sämtliche Poetiken mit einem Bann belegt hatten.
In »Das letzte Band« gab Beckett die Richtung vor, der seine Medienstücke in den folgenden Jahrzehnten bis an ein äußerstes minimalistisches Ende folgen sollten. Auf der Verweigerung des Verstehens, die der technischen Apparatur eignet, beruht das Produktionsprinzip dieser Medienstücke, in denen die Elemente des Akustischen als separate dramatische Einheiten mit Rollencharakter erscheinen (»Worte und Musik«), oder auf Sprache ganz verzichtet wird (»Atem«, »Nacht und Träume«, »Quadrat«). Becketts Drehbuch »Film«, das konsequenterweise mit dem Stummfilmakteur Buster Keaton realisiert wurde, sieht kein Wort mehr vor, sondern nur jenes »Pssst«, mit dem Sprache allüberall zum Schweigen gebracht wird. Denn nicht nur die Freisetzung ungefilterten Unsinns ist ein Verdienst der akustischen Analogmedien, auch das Schweigen hat die phonographisch-elektromagnetische Aufzeichnung zur Voraussetzung, um als Stille erscheinen zu können.
Eine Konfrontation der Ästhetiken der digitalen Medien mit Becketts Medienstücken erweist zweierlei: Zum einen, dass das Pensum, das eine digitale Ästhetik für sich reklamiert, bereits von den avancierten Werken der Analog­epoche überboten wurde, zum andern, dass die Theoretiker einer digitalen Ästhetik die Entwicklung der Technologie notorisch einem ästhetischen Fortschritt gutschreiben. Die Stichworte dieser Fortschrittsvorstellung sind bekannt: Interaktivität, Synergie von Mensch und Maschine, Ende der Gutenberg-Galaxis. Wie einst die politischen Losungen ihre Weihe aus einem Erlösungspathos bezogen, so eignet auch den Verheißungen der Ästhetiker des Digitalen ein quasi-religiöses Pathos. Peter Weibel etwa halluziniert ein digitales Endstadium der Kunst, das zugleich deren Ziel und Erfüllung sein soll und das darauf gründet, dass »die Welt selbst digital organisiert ist, und die digitale Kunst ihr immer vollendeterer Ausdruck wird.« (3) Wenn Weibel die »Techno-Kunst« als »Vorschein dieser dynamischen Kunst« anpreist, »welche die Parameter der klassischen Kunst grundlegend umstürzen und umformen wird, in Synergie mit technischen, territorialen, politischen und sozialen Umwälzungen« (4), so ist das Blochsche Pathos mit einem Verzicht auf jede analytische Anstrengung erkauft. Stellvertretend steht diese Volte für so manchen Versuch der Ästhetiker des Digitalen, sich mit den Federn der Avantgarden des 20. Jahrhunderts zu schmücken. Auch sonst scheinen die Auguren der digitalen Künste aus den Enttäuschungen ihrer dem geschichtlichen Fortschritt verpflichteten Vorgänger, mit deren politischen Aspirationen sie zwar nichts im Schilde führen, deren Gestus sie aber unverdrossen travestieren, nicht viel gelernt zu haben. Während es einst um den Konflikt zwischen Politisierung der Ästhetik und Ästhetisierung der Politik ging, wissen die Ästhetiker der neuen Medien nicht recht, ob sie die Technologisierung der Ästhetik oder die Ästhetisierung der Technologie vorantreiben sollen. Dabei handelt es sich um eine Ästhetik, die ohne Werke auskommt, der die Kunst lediglich Vorwand für technologische Spekulationen ist. Die Nonchalance, mit der dies eingestanden wird, wenn etwa Peter Weibel der Techno-Kunst auftrumpfend attestiert: »Sie wird sogar Kunst ohne Werke schaffen und Kunst ohne Kunst« (5), während Norbert Bolz am Beispiel von Computersimulationen rodomontiert: »Ohne Kunst zu sein, überbietet die digitale Ästhetik hier alles, was Kunst je hoffen konnte« (6), verblüfft nur im ersten Moment, denn gerade dadurch, dass sich die Ästhetiker der neuen Technologien den Status des Interpreten, der sich an den Werken bewähren muss und ein Publikum zu überzeugen hat, ersparen, bekleiden sie den Rang von Propheten, die zur Gemeinde von Gläubigen sprechen und die die Ankunft ihrer Visionen in die Zukunft verlegen.
Wunder nimmt dabei nicht so sehr die ästhetische Borniertheit, sondern viel mehr noch die Blindheit für die Genesis der Produktivkräfte, mit der die Ästhetiker des Digitalen auf ihrem eigenen Feld geschlagen sind. Handgreiflich wird dies am Begriff des Digitalen selbst. Zwar bedeutet das Eindringen der Digitalisierung in alle Bereiche des Alltags die umfassendste technologische Umwälzung der vergangenen Jahrzehnte, allerdings stellt diese in vielen Fällen lediglich eine strukturelle Veränderung dar. Ob der Kühlschrank von einem Mikrochip in Betrieb gehalten oder von einem Thermostat herkömmlicher Bauart reguliert wird, kann seinem Benutzer gleichgültig sein – er braucht es nicht einmal zu wissen. Heute sind alle traditionellen analogen Übertragungsmedien digitalisiert, ohne dass man ihnen das anmerken muss. Für eine jede Ästhetik gilt aber, dass für sie die Frage der Wahrnehmbarkeit zentral ist. Ausgerechnet die Digitalisierung, einen Vorgang, der sich unanschaulich in den Eingeweiden der Hardware abspielt, zum Attribut einer neuen Ästhetik zu erküren, bezeugt einen technologischen Übereifer, der ästhetische Beschränktheit gebiert. Hingegen stellt sich der Verdacht ein, dass die Digitalisierung – im Gegensatz zu dem Siegeszug der analogen Technologien Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – gerade eine Verarmung ästhetischer Erfahrung zur Folge hat. Noch Walter Benjamin rühmte den Zugewinn ästhetischer Möglichkeiten am Beispiel der Fotografie, diese mache plötzlich Dinge wahrnehmbar, die den menschlichen Sinnen bisher entzogen waren. (7) Damit erfüllte ein Medium aus der analogen Frühzeit die anspruchsvollste Forderung, die der Poesie gestellt worden war, nämlich, in den Worten Rimbauds, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Dass die Kunst ohne die Vermittlung neuer Technologien und Medien hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleibt, ist eine Folgerung daraus, die viel weiter reichende lautet aber, dass es zwischen ästhetisch restaurativen und ästhetisch avancierten Technologien zu unterscheiden gilt und dass das, was technologisch fortgeschritten ist, es in ästhetischer Hinsicht noch längst nicht zu sein braucht.
Auf ähnliche Weise erleidet die wohl bekannteste Pathosformel im Repertoire der Ästhetiker des Digitalen von der »Interaktion zwischen Mensch und Maschine« Schiffbruch, wenn man sie einer genaueren Prüfung unterzieht. Wenn Weibel den Übergang vom analogen Fernsehbildschirm zum Computerscreen als den Unterschied zwischen »passivem Konsum konventioneller Bildcodes« und »Interaktion mit neuen Bildcodes« bestimmt, so vollzieht er die Metamorphose vom lamentierenden Kulturkritiker zum Visionär der neuen Technologien mit einer Rasanz, die nur möglich ist, wenn man auf die Analyse der Produktivkräfte ebenso leichthin verzichtet, wie man von den Produktionsverhältnissen absieht. Die Befassung mit Becketts für analoge Medien geschriebenen Stücken würde ihn belehrt haben, dass ästhetische Konventionalität keineswegs Eigenschaft des Analogen zu sein braucht und dass die Bestimmung der künstlerischen Form nicht weniger eine Aufgabe der gesellschaftlichen Analyse ist als eine der Technologie. Im übrigen gibt es schon deswegen keinen Grund, ein digitales Posthistoire auszurufen, weil die Digitalisierung mittlerweile längst als Durchgangsstadium ausgemacht wurde. Es ist absehbar, dass in wenigen Jahren »eine ›biologische Wende‹ die Mikroelektronik ablösen wird.« (8)
Das Odium des Noch-nie-Dagewesenen, das die Rede von den digitalen Technologien atmet, verkennt nicht nur, dass der digitale Code weder Ziel noch Ende der Medienentwicklung bezeichnet, sondern, im Gegenteil, an deren Anfang stand. Denn abgesehen von Rauchzeichen ist die erste digitale Technik die Schrift gewesen, die auf dem diskreten und digitalen Charakter des Buchstabens beruht. Im Rückblick stellt sich Mediengeschichte als eine Alternierung von analogen und digitalen Technologien dar. Dabei ist in den meisten Perioden nicht einmal eine Sukzession dieser beiden Technologien auszumachen, sondern deren Verschränkung. So ist etwa der Buchdruck ein Verfahren der analogen Übermittlung digitaler Zeichenkörper. Und beim Internet handelt es sich um nichts anderes als um ein digitales Übertragungsmedium für analoge optische und akustische Information. In Wirklichkeit kann also der Sachverhalt der Digitalität gar nicht gemeint sein, wenn die Präzeptoren der neuen Medien ein neues Epochenparadigma ausrufen. Vielmehr ist es entweder ein Etikettenschwindel oder beruht auf Unkenntnis, wenn ein neues digitales Zeitalter von einem alten analogen geschieden wird. Das Differenzkriterium ist hingegen, ob die Encodierung von analoger Information in digitale Daten von Menschenhand geschieht, wie bei der Morsetelegraphie, oder ob diese maschinell erfolgt.
Die Tatsache, dass das Faktum der digital-binären Encodierung analoger Information unanschaulich bleibt, hat für die Verkündigung einer digitalen Ästhetik weitreichende Folgen. Denn welchen ästhetischen Überschuss soll die elektronische Digitalisierung erbringen, wenn deren technisches Betriebsgeheimnis nicht wahrnehmbar erfolgt. Eine unanschauliche Ästhetik ist eine contradictio in adjecto. Vielmehr zeigt sich die digitale Technologie gegenüber ihrer Indienstnahme durch ästhetische Programme ebenso spröde wie die Kunst gegenüber ihrer digitalen Aufrüstung. Das Kennzeichen des elektronisch-digitalen Stadiums, dass nämlich das zu übertragende diskrete Signal durch den Binärcode repräsentiert wird, hat für die Belange der Kunstproduktion keinerlei Auswirkungen, die es gestatteten, dies als ästhetische digitale Revolution auszugeben. Die Vermutung liegt nahe, dass auf dem Feld der Künste die Epochenzäsur nicht zwischen der modernen Analogtechnik und der elektronischen Digitalisierung anzusiedeln ist, sondern dass diese viel länger zurückliegt und von der Elektrifizierung bezeichnet wird, die den Hiatus zwischen konvertierenden und nicht konvertierenden analogen Übertragungsmedien bildet. Die Übertragung von Sprache und der sie transportierenden menschlichen Stimme erfolgt durch Konvertierung in elektrische Signale. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit der Trennung des Boten oder Körpers von der Botschaft oder vom Code. Dass der Schock, den etwa das erste elektrifizierte analoge akustische Medium, das Telefon, seinen frühen Benutzern versetzte, tiefer ging als jeder virtuelle Spaziergang im Cyberspace, dessen Flaneure seit je apparategestützt wahrnehmen, diesen Eindruck vermittelt noch heute die Lektüre von Walter Benjamins »Berliner Kindheit um 1900« oder auch von Marcel Prousts mnemopoetischen Großunternehmen. Beckett ist dies in seiner Lektüre der »Recherche« nicht entgangen. In seinem Essay über Marcel Proust aus dem Jahre 1931 meint man bereits einen Vorgriff auf die später in seinen Medienstücken geleistete Bewältigung der Erfahrungen apparategestützter Wahrnehmung zu vernehmen, wenn sich Beckett der von Proust geschilderten Wirkung der erstmals durch die Muschel des Telefons gehörten Stimme der Großmutter annimmt: »(D)enn er hört sie jetzt zum erstenmal in ihrer ganzen Nacktheit und Wirklichkeit, ganz anders als die Stimme, der er in der offenen Partitur ihres Gesichts zu folgen gewohnt war, so dass er sie nicht als die ihre erkennt.« (9) Sie erscheint ihm »ungreifbar wie eine Stimme aus dem Totenreich.« Was bei Proust noch als Entfremdung von der geliebten anderen durch das Dazwischentreten der technischen Apparatur lesbar ist, wird von Beckett in »Das letzte Band« als Desintegration von Bewusstsein und Erinnerung radikalisiert. Im Vernehmen der eigenen, auf dem Tonband gespeicherten Stimme und in den vom Vorgang des Zurück­spulens markierten Amnesien scheint sich Freuds Annahme zu bestätigen, dass »Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind«. (10) Die elektronischen Gedächtnisse helfen nicht einmal der Erinnerung auf die Sprünge, sondern hintertreiben diese, da sie verwirklichen, was Beckett in seiner Proust-Lektüre imaginiert hatte: »Der Mensch mit einem guten Gedächtnis erinnert sich an nichts, weil er nichts vergißt.« (11) Dadurch, dass das Gedächtnis in die technischen Speicher ausgelagert wurde, verkümmert die Fähigkeit des Erinnerns. Da das Vermögen der Erinnerung auf der Möglichkeit des Vergessens gründet, führt der Gebrauch der elektrifizierten Speichermedien zur Amnesie. Im Hinblick auf die Speicherfähigkeit gibt es lediglich einen graduellen, keineswegs einen prinzipiellen Unterschied zwischen elektrisch-analogen und binär-digitalen Technologien. Vergessen ist ein komplizierter Vorgang, der mit vielen psychischen Widerständen zu rechnen hat, das Tonband oder der Computer hingegen können nicht einmal verdrängen, sondern nur löschen. Vergessen als die Bedingung der Möglichkeit von Erinnern und somit von Erzählen ist sowohl mit der elektrisch-analogen wie der binär-digitalen Technologie hinfällig. Deswegen konnte Proust seine Mnemopoetik noch in Prosa erzählen, während Beckett den zum Lauschen vor seinen Tonbändern verurteilten Schriftsteller Krapp als Bühnenfigur oder als Protagonisten eines Hörspiels auftreten lässt. Krapp desertiert dabei gleich auf zweifache Weise ins Analogische, indem er sein angestammtes Medium, die Schrift, hinter sich lässt, denn nicht nur ist das Tonband als Analogmedium zu betrachten, sondern bereits die Stimme umgibt das Diskursive ihres Ausgesagten mit dem Analogischen ihres Timbres. Wenn aber der digitale Buchstabe tötet, so gilt unter dem Medienapriori elektrifizierter Speicherung nicht mehr, dass der Geist, der sich nach einer alten abendländischen Vorstellung in der Stimme verkörpert, lebendig macht. Somit sind die Figuren in Becketts Medienstücken Auswanderer aus der Gutenberg-Galaxis, lange bevor die Apostel der neuen Medien deren Ende ausgerufen haben. Vor allem in Becketts Krapp kristallisieren sich all jene Züge, die die Apostel der neuen Medien dem neuen Menschen der binär-digitalen Epoche zugewiesen haben. Indem sich Krapp von der Schrift ab- und der elektronisch reproduzierten Stimme zuwendet, revoziert er die Entwicklung, die den Einzelnen wie die Menschheit von der audiovisuellen Unmittelbarkeit zur Abstraktion der Alphabetisierung führt, und erfüllt so das Programm, das die Theoretiker der neuen Medien dem neuen Menschen der binär-digitalen Ästhetik vorbehalten haben. Wenn laut Hegel die phonetische Schrift Voraussetzung für die entfaltete Innerlichkeit des Subjekts ist, und wenn ferner die Technologie des Buchdrucks zum Vernunftmodell der Neuzeit geworden ist, so bedeutet dies, dass die grundstürzenden ästhetischen Möglichkeiten von den das Medienmonopol von Schrift und Buchdruck zuerst durchbrechenden analogen Produktivkräften wie Phonographie, Photographie und Film entfesselt werden. Der Ausbruch aus Gutenbergs Galaxis ist mitnichten an die Verbreitung des Computers und die Ära der sekundären Digitalisierung gebunden, sondern wurde von der Avantgarde der künstlerischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzogen.
Man kann den Fehlschlüssen, auf denen die von den Theoretikern der neuen Medien proklamierte digitale Ästhetik beruht, auf die Schliche kommen, indem man sich jenem Phänomen widmet, das sowohl in informationstheoretischer wie ästhetischer Hinsicht die Grenze zwischen analogen und digitalen Technologien markiert und das zugleich das antagonistische Verhältnis von Informationstheorie und ästhetischer Theorie demonstriert. Es handelt sich um das Rauschen. Die kybernetische Informationstheorie Shannons nahm das Rauschen lediglich als Bedrohung gelingender Kommunikation wahr. Gerade durch das, was den ästhetischen Überschuss des Rauschens abwirft, ist es der Informationstheorie Anathema, während sich umgekehrt die Kunst der Moderne und ihre Ästhetik an dem desinteressiert zeigen, was das Proprium jeder Kommunikationstheorie ausmacht: die Botschaft. Was sich informationstheoretisch auszahlt, nämlich die Perfektionierung der Aufzeichnungs- und Übertragungstechniken durch das eliminierte Rauschen, ist der modernen Kunst ein Gräuel. Das Rauschen, das die analogen Schaltkreise noch emittieren, kennen digitale Speicher nicht mehr. Suchmaschinen generieren Informationen aus dem Rauschen – Kunst transformiert Information in Rauschen. Daher stehen die analogen Medien den Erfordernissen der Kunst näher als ihre digitalen Nachfolger. Das Rauschen liefert ein Quantum an Subversion jeder Information, ja, es ist geradezu eine Manifestation einer der prominentesten Maximen moderner Ästhetik, die aus der Feder Paul Valérys stammt und das Kunstwerk als Nachahmung von Unbestimmbaren definiert. Rauschen ist erscheinende Unbestimmbarkeit und stellt sich quer zum informationstheoretischen Streben nach Gewissheit, in deren Dienst die digitalen Transformationsgeräte stehen. Klarheit, Eindeutigkeit, Verständlichkeit – was der Nachricht zugute kommt, wird an der Kunst zuschanden, die als moderne auf ihrem Rätselcharakter insistiert. »Rauschen ist kein Klang sondern Geräusch«, war Adorno bereits an der Dichtung Eichendorffs aufgegangen. (12) Dass die Digitalisierung der Bedeutungsferne des Rauschens den Kampf ansagt, indiziert ihre Unvereinbarkeit mit einem ästhetischen Verhalten, das sich mittels der analogen technischen Apparate noch entfalten konnte. Ein solches verficht nicht zudringlich den Anspruch auf Verstehen, sondern schmiegt sich der Unverständlichkeit des Rauschens an, die keine hermetische, sondern gleichsam selbstverständliche ist. Das Rauschen ist eine ästhetische Erscheinung par excellence, da es wahrgenommen wird, ohne Verstehen zuzulassen. Wenn sich die Kunst der Moderne auf einen Generalnenner bringen lässt, so lautet dieser, dass sie nicht mehr verstanden werden kann, ja, es nicht einmal mehr möchte.
In Becketts Werk ertönt das Rauschen mit der Entstehung seiner Medienstücke. Im Hörspiel »Aschenglut« erklingt es noch einmal als Reminiszenz an frühere Dichtung, als Meeresrauschen, in dem das Hörspiel endet. In »Das letzte Band« ist es in technische Regie genommen und als Rauschen des in der Stille weiterlaufenden Tonbands denaturalisiert. Die Wellen des Meeres werden gleichsam technologisch kanalisiert – sie fließen ab in den Nachrichtenkanälen der Apparate. Den Schritt von der Mimesis der Natur zur Mimesis der Apparatur tut Becketts Krapp, wenn er das Meeresrauschen am Ostseestrand in Fontanes »Effi Briest« beschwört, an einer Szenerie vortechnologischer Literatur, deren Stimmungen von den elektromagnetischen Wellen des Tonbands ersetzt werden. Wieder einmal erweist sich, dass sich die künstlerische Moderne nicht über den Leisten der technologischen schlagen lässt. Ebenso wie sich die ästhetische Moderne seit Baudelaire als Einspruch gegen die gesellschaftliche artikuliert hat, verhält sie sich heute sperrig gegenüber den technologischen Verheißungen der Digitalisierung. Der zwischen Ästhetik und Technologie klaffende Abgrund wird deutlich an der Stellung beider zur Idee des Fortschritts. Avancierte Kunst dementiert die Vorstellung des Fortschritts, die die technologische Moderne arglos für sich in Anspruch nimmt. Jene speist sich aus Unbestimmtheit und Redundanz, phänomenologisch gesprochen: aus Rauschen, dem die digitalisierte Information ein Ende bereitet. Da die Verkünder einer digitalen Ästhetik diese Zusammenhänge nicht zur Kenntnis nehmen, atmen ihre Konzepte einer auf die Transformation in verrechenbare Elemente sich gründenden Ästhetik ähnlich harmlosen Biedersinn wie die Ergebnisse, die die massenhafte Praxis des Malens nach Zahlen ausströmt. Beider Werke gehorchen als numerisch generierte dem Geist einer Ingenieurslogik, deren berechenbare Emanationen den Umkreis einer banalen trompe l’oeil-Ästhetik nicht zu überschreiten vermögen.
In aufschlussreicher Weise liefert die Digitalisierung beim Vorgang des Scannens ein Beispiel für »den grotesken Irrtum der realistischen Kunst« (13). Bei der Analog-digital-Konvertierung durch den Scanner wird das Bild nach seiner digitalen Encodierung wieder in ein analoges auf dem Bildschirm verwandelt. Telos der Digitalisierung ist also das analoge Bild der Realität. Wenn Peter Weibel als Ziel der digitalen Simulation ausgibt, »mit dem Computer Szenen zu erzeugen, die ununterscheidbar von der Natur sind«, für die er einen »derart photographischen Realismus« reklamiert, »dass das Publikum nicht imstande wäre, reale Live-Aktionen von simulierten zu unterscheiden« (14), so entgeht ihm, dass er die digitale Ästhetik auf einen hausbackenen Realismus verpflichtet, der gegenüber den Errungenschaften der künstlerischen Moderne reaktionär ist. Wenn Norbert Bolz anlässlich der digitalen Bilder dekretiert, »hier erweist sich die Wirklichkeit als Integral ihrer Simulationen« (15), so verficht er eine Fetischisierung der Wirklichkeit, die zu betreiben sich moderne Kunst seit je zu schade war. Darüber hinaus befördert dieser digitale Realismus eine Rezeptionshaltung, die den Zweifel ausschaltet, den zu provozieren die modernen Avantgarden nicht müde wurden. Bei der digitalen Ästhetik handelt es sich um eine paradoxe Wiederkehr des klassisch-mimetischen Realismus auf der Spitze technologischer Modernität. Im Modus der binären Digitalisierung wird all das restituiert, womit die Ästhetik des modernen Kunstwerks seit dem 18. Jahrhundert gebrochen hatte.
Dass technologischer Fortschritt im Stadium binärer Digitalisierung antimoderne ästhetische Regression produziert, verdeutlicht ein Blick auf die einflussreichste analoge Ästhetik des 20. Jahrhunderts, Walter Benjamins Kunstwerk­aufsatz. Auch Benjamin nahm die auf Analogtechniken, also auf Spiegel- und Proportionalitätsverhältnissen beruhende Kunst seiner Zeit unter dem Aspekt medientechnischer Apriorität wahr. Allerdings ginge man fehl, wollte man Benjamin als Vorläufer der Theoretiker einer digitalen Ästhetik betrachten. Denn im Gegensatz zu diesen begriff Benjamin die zeitgenössischen analogen Reproduktionstechnologien als ästhetische Produktivkräfte sui generis. Dies scheint mit den digitalen Technologien nicht mehr möglich zu sein. Diese werfen keinen künstlerischen Überschuss ab, ihre Kunst fungiert lediglich als legitimatorisches Anhängsel der Technologie. Der Hiatus zwischen den analogen und digitalen Technologien lässt sich präzisieren: Während Analogmedien dem Imaginären ein Refugium bewahren, hintertreiben digitale Medien als Technologie der Kommunikation das Imaginäre, das sich nicht durch Information einstellt, sondern in der Verführung durch den ästhetischen Schein. Analoge Medien lassen Unbestimmtheit zu und damit die technologische Bedingung der Möglichkeit des Imaginären. Das Imaginäre sträubt sich gegen seine Encodierung. Dass mit der digitalen Ästhetik der kybernetische Geist über die ästhetische Form siegt, dafür mag ein Wort aus dem Munde des Hohenpriesters der neuen Medien, Friedrich Kittler, herhalten: »Wahrscheinlich ist diese Feier Shannons aus meiner Feder immer nur die halbe Seite jener Wahrheit, die am liebsten das Symbolische und das Reale unter Umgehung des Imaginären im Kurzschluss direkt verschaltet sähe.« (16)
Die Hoffnungen, die Benjamin an den von den analogen Reproduktionstechnologien eingeleiteten Verfall der Aura knüpfte, erleben in der digitalen Ästhetik eine schwächliche Reprise, so dass sich Peter Weibels Ausführungen als Karikatur Benjaminscher Aspirationen fassen lassen. Wenn Weibel behauptet: »Die avancierte Technologie des digitalen Bildes, ihr Potential an Simulation durch die Computertechnologie, gibt dem Individuum unbegrenzten Zugang, unbegrenzte Möglichkeiten zur Hand, mit der eine neue visuelle Kultur, eine neue demokratische Renaissance errichtet werden wird« (17), so kann man nur hoffen, dass ein durchs Plebiszit erkorener Borgia uns erspart bleiben möge. Wenn schon die von der digitalen Technologie inaugurierte Ästhetik numerisch codierter perfekter mimetischer Modelle weder Zweifel noch Negation kennt, so ist für die aus der Digitalisierung entspringenden Vergesellschaftungsformen erst recht nichts zu hoffen.
Indem die digitale Technologie das Moment des Scheins, auf das alle Kunst selbst dann noch angewiesen bleibt, wenn sie als dessen Krise auftritt, in Simulation verwandelt, erweist sie sich vom Schlage des Realitätsprinzips. Da das digitale Simulakrum eine derart perfekte naturalistische Illusion vorstellt, dass es kein phänomenales Kriterium mehr gibt, das es von einem Blick aus dem Fenster unterscheidet, ist es treue Komplizin des Bestehenden. Die Kraft des Imaginären, aus der das künstlerische Werk seine Substanz bezog, indem es sein Unbehagen an der Wirklichkeit demonstrierte, ist in seiner der Empirie abgeschauten Form getilgt. Indem Wirklichkeit in einer digitalen Realität überboten werden soll, können keine Einsprüche mehr gegen sie formuliert werden. Wenn Weibel über die von den digitalen Technologien für die Ästhetik eingeleitete Wende fabuliert: »Wir stehen knapp vor dem Quantensprung, wo digitale Bildwerke unabhängig von anderen Kunstformen werden, wo digitale Kunst autonom wird. Das digitale Bild ist ein befreites Bild« (18), ist es nicht das erste Mal, dass eine Bewegung ihre Unterwerfung unter das Bestehende als Befreiung feiert.
Angesichts der betagten analogen Technologie von Becketts Medienstücken stellt sich die Frage, was die Elaborate einer digitalen Ästhetik jenen der analogen Epoche voraus haben sollen. Wenn in den einschlägigen Schriften der neuen Medientheorien mit apodiktischem Gestus versichert wird, dass es sich bei den neuen Medien »um Gadgets, die das Subjekt dezentrieren, die das Selbst in Schaltplänen auflösen, handelt« (19), so verstärkt ein Blick auf Becketts Medienstücke aus der analogen Vorzeit den Verdacht, dass das Gerede von den neuen Medien Banalitäten als Offenbarung an den Mann zu bringen sucht. Der theoretische Aufwand, der betrieben wird, um den neuen Technologien philosophische Dimensionen abzugewinnen, wirkt manches Mal schon verzweifelt. Aber der technologische Fortschrittsbegriff besitzt für die künstlerische Produktion keine Geltung. Nicht erst die digitale Revolution überführt klassische Kunst in Medienästhetik. Becketts Medienstücke demonstrieren die Unüberholbarkeit der analogen Ästhetik der elektrischen Epoche. Zu ihnen verhalten sich die Verkünder einer digitalen Ästhetik wie der Hase zum Igel.
Die Mesalliance von digitaler Technologie und Ästhetik lässt den Schluss zu, dass jene die Kunst nicht braucht und dass umgekehrt die Kunst durch die digitale Technologie dümmer wird, als sie zu sein brauchte, mit anderen Worten dass der technologische Fortschritt ästhetischen Rückschritt zeitigt. Nicht jede Technologie lässt sich für die Zwecke der Kunst dienstbar machen. Es trotzdem zu versuchen, schadet der Kunst mehr als der Technologie.

Anmerkungen

(1) Vilém Flusser: Gesten, Düsseldorf 1991, S. 48
(2) »Optimistisch zu denken ist kriminell.« Eine Fernsehdiskussion über S. Beckett, in: Frankfurter Adorno-Blätter 3, München 1994, S. 83
(3) Peter Weibel: Zur Geschichte und Ästhetik der digitalen Kunst, in: Ders.: Gamma und Amplitude, Berlin 2006, S. 201
(4) Peter Weibel: Transformationen der Techno-Ästhetik, in: ebd., S. 64
(5) Ebd., S. 29
(6) Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins, München 1991, S. 132 f.
(7) Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, in: Ders.: Gesammelte Schriften II/1, Frankfurt/Main 1977, S. 371
(8) Bernhard E. Bürdek (Hg.): Der Digitale Wahn, Frankfurt/Main 2001, S. 181
(9) Samuel Beckett: Proust, Zürich 2001, S. 23
(10) Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Ders.: Studienausgabe 3, Frankfurt/Main 1989, S. 235
(11) Beckett, Proust, S. 26
(12) Theodor W. Adorno: Zum Gedächtnis Eichendorffs, in: Ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt/Main 1981, S. 83
(13) Beckett, Proust, S. 68 f.
(14) Weibel, Zur Geschichte, S. 218
(15) Bolz, Kurze Geschichte, S. 133
(16) Friedrich A. Kittler: Wenn die Freiheit wirklich existiert, dann soll sie doch ausbrechen, in: Rudolf Maresch (Hg.): Am Ende vorbei, Wien 1994, S. 113
(17) Weibel, Zur Geschichte, S. 219
(18) Ebd., S. 200
(19) Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, München 1993, S. 194

Der Text ist die redaktionell gekürzte und bearbeitete Fassung eines Artikels, der in der 24. »Testcard« erschien. Carl Wiemer betreibt auch das Blog www.walserbashing.wordpress.com.