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Wie fing das eigentlich an mit diesem Putin? Ab wann konnte man ihn nicht mehr ignorieren? Gut, dass die Jungle World ein Archiv hat, und dass es diese Zeitung schon so lange gibt. Am 11. August 1999 schrieben wir: »Bis zu den Parlamentswahlen am 19. Dezember soll nun Wladimir Putin, bisher Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, sein Glück versuchen. Putin, der lange als KGB-Agent in Deutschland arbeitete und als ›der graue Kardinal‹ bekannt ist, wurde von Jelzin auch als dessen möglicher Nachfolger auf dem Präsidentensessel ins Spiel gebracht. Jungle World übernimmt keine Garantie, dass sich Putin bis zum Erscheinen dieser Zeitung in seinem Amt halten kann.« Tja, da waren wir wohl etwas zu skeptisch damals – oder zu optimistisch, wie man’s nimmt. So richtig warm geworden sind wir mit ihm tatsächlich nie. Schon im Januar 2000 schrieben wir über Putins Image als das des »entschlossenen Terminators«. Aber sind wir deshalb russophob? Sicher nicht, auch wenn es nicht ganz zu leugnen ist, dass bei der Gründung der Jungle World gewisse Antipathien gegenüber gewissen Sowjetnostalgikern aus ehemals eigenen Reihen bestanden haben könnten. Zu Recht – wie wir heute wohl sagen dürfen. Denn was aus denen geworden ist, das weiß man ja. Geschenkt. In dieser Ausgabe widmen wir Putin beziehungsweise seinem Regime oder nein, genaugenommen seinen Fans in aller Welt den Schwerpunkt. Und auch im Ausland und auf der Interview-Seite können wir Russland nicht ignorieren.
Dabei droht noch ganz andere Unbill, die man angeblich nicht ignorieren darf. Damit meinen wir nicht die »Spionage-Affäre« ein paar Blocks weiter in der Rudi-Dutschke-Straße. Kinderkram! Vielmehr herrscht die geheime »Weltregierung« dem Spiegel zufolge bereits aus dem Silicon Valley heraus über uns, und ach, die »Pleite-Griechen« stürzen uns, der Bild-Zeitung zufolge, alle, alle ins Verderben, und, ohje, ohje, auch der Nobelpreisträger ist unzufrieden. Beim Lübecker Literaturtreffen klagte Günter Grass, dass die Politik Proteste von Schriftstellern (Grass) weitgehend ignoriere. Weder die Bundeskanzlerin noch die Öffentlichkeit reagiere, wenn Schriftsteller (Grass) Position bezögen. Lieber Herr Grass (Schriftsteller), wir sind zwar nicht die Bundeskanzlerin, aber glauben Sie uns: Jedes Mal, wenn wir Sie ignorieren, dürfen Sie das als Entgegenkommen verstehen. Wobei wir Sie, um mit Theodor Fontane zu sprechen, gerne darauf hinweisen möchten: »Bloßes Ignorieren ist noch keine Toleranz.« Und uns ist auch bewusst: »Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.« (Aldous Huxley). Drum bevorzugen wir Karl Valentin: »Nedd amoi ignorier’n!« In diesem Sinne: Widmen wir uns mal wieder Putin.