Proteste in Tel Aviv und Holot

Alles nur eine Verwechselung

Nach Protesten in Tel Aviv und Jerusalem nimmt sich die israelische Regierung des Themas Rassismus an und entschuldigt sich offiziell. Doch neben den äthiopischstämmigen Israelis sind auch Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern mit Rassismus konfrontiert.

Mehrere Hundert Demonstranten, mehrheitlich jüngere äthiopische Israelis, zogen Anfang Mai einen Tag lang friedlich durch Tel Aviv. Dabei blockierten sie zur Hauptverkehrszeit den Ayalon Highway, eine der zentralen Verkehrsadern der Stadt.
Die Polizei ließ die Demonstrierenden mehrere Stunden gewähren, selbst die betroffenen Pendler zeigten Verständnis für das Anliegen der »Etiopim«. Erst als die Demonstranten beschlossen, dem Bürgermeister von Tel Aviv im Rathaus auf dem Kikar Rabin einen Besuch abzustatten, griff die Polizei unverhältnismäßig hart und unkoordiniert ein. Die Situation eskalierte. Tags darauf berichten die Medien über den Einsatz von Blendgranaten, Wasserwerfen, Reiterstaffeln und Sondereinsatzkommandos sowie über verletzte Demonstranten und Polizisten.
»Der Eindruck, dass die äthiopischen Israelis ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sind, trügt«, sagt Amare, ein äthiopisch-jüdischer Student, am Abend auf dem Rabin-Platz: »Wir wollen über den israelischen Rassismus aufklären. Da-rüber, dass die strukturellen Bedingungen für uns schwierig sind. Vor allem sind wir heute hier, um gegen die zunehmende Polizeigewalt zu demonstrieren.«
Der Demonstration in Tel Aviv ging eine ähnliche, ebenfalls von der Polizei beendete Demons­tration in Jerusalem voraus. Den Ereignissen in Tel Aviv folgen Protestmärsche in Ashkelon und Haifa.

Die Forderung der Etiopim ist klar: Die Polizisten und Beamten der Immigrationsbehörde, die die beiden äthiopischstämmige Israelis Damas Pakada und Walla Bayach im vergangenen Monat angegriffen hatten, sollen strafrechtlich verfolgt werden. Sie wollen aber auch signalisieren: Wir sind anders als unsere Eltern, wir lassen uns aus Dankbarkeit nicht mehr alles gefallen.
Die Etiopim, wie sie in Israel heißen, oder Beta Israel, wie sie sich selbst bezeichnen, sind jüdische Israelis äthiopischer Abstammung, die vorwiegend in den achtziger und neunziger Jahren ins Land kamen. Die Operation Moses (1984) und Operation Salomon (1991) genannten »Rettungsaktionen« brachten jeweils binnen weniger Tage über 14 000 äthiopische Juden aus Addis Abeba nach Israel, um sie vor der großen Hungersnot und später der Machtübernahme durch Rebellen in Sicherheit zu bringen. In einer weiteren Welle kamen Anfang der nuller Jahre Tausende Falash Mura ins Land, also Rekonvertiten, deren Status als Juden noch immer umstritten ist. Um die Neuankömmlinge in die israelische Gesellschaft zu integrieren, verabschiedete die Knesset einen sogenannten absorption plan: Die Flüchtlinge erhielten Sprachkurse, finanzielle Unterstützung und günstigen Wohnraum sowie die israelische Staatsbürgerschaft mit allen Rechten und Pflichten einschließlich Armeedienst. Heute zeigt sich, dass die »Absorbtion« bisher nur mittelmäßig geglückt ist. Etiopim verdienen im Durchschnitt weniger als arabische, mizrachische und aschkenasische Israelis und schneiden im Bildungswesen schlechter ab. Die Situation in den nur von äthiopischen Juden bewohnten Stadtvierteln von Rishon Le Zion oder Rehovot ist zumeist prekär.
»Während die äthiopischen Israelis heute nur zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, haben 40 Prozent der Gefängnisinsassen äthiopische Vorfahren«, sagt Fentahun Assefa Dawit, der Vorsitzende der Organisation Tebeka, die sich für die Rechtsgleichheit von äthiopischen Israelis einsetzt. Viele Etiopim werfen der Regierung schon lange vor, im »Absorptionsplan« die ethnisch-kulturellen Unterschiede nicht berücksichtigt zu haben. »Vor allem den Juden aus den ländlichen Gegenden Äthiopiens fällt die Integration in die hiesige Lebensweise schwer und umgekehrt wurde die israelische Bevölkerung nicht ausreichend auf die Neuankömmlinge vorbereitet«, so Dawit. Auf der Demonstration erzählt eine der Teilnehmerinnen von ihren Erfahrungen: »Als Kind hat mich der Busfahrer regelmäßig nicht in den Schulbus hineingelassen. Später in der High-School haben die Lehrer immer gesagt, dass ich sowieso keinen beruflichen Erfolg haben werde, weil ich aus einer Migrationsfamilie komme.«

Die stellvertretende Bürgermeisterin von Tel Aviv, Mehereta Baruch Yon, selbst äthiopische Israelin, spricht es der Presse gegenüber klar aus: »Unser Problem ist unsere Hautfarbe. Obwohl wir hier geboren und Israelis sind, sind wir für die anderen immer nur Äthiopier. Egal ob wir gebildet sind oder nicht.«
Inzwischen haben sich Präsident Reuben Rivlin und Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bei den äthiopischen Juden entschuldigt, Netanyahu hat den angegriffenen Soldaten Damas Pakada persönlich empfangen. Rivlin sagte nach den Protesten: »Wir müssen diese offene Wunde in unserem Land anschauen, wir haben geirrt, nicht hingeschaut, nicht hingehört.« Solche Äußerungen dienen der Schadensbegrenzung, zeigen aber auch, dass die Proteste eine gewisse Stärke in Israel entfaltet haben. Es zeigt auch, dass simple Vergleiche mit Baltimore hier ins Leere laufen. Obwohl Netanyahus neue Regierung vor allem durch rechte und ultrarechte Wählerstimmen zustande gekommen ist, sind Verständnis für die Etiopim und sogar eine Entschuldigung hier mehrheitsfähig. In Israel beginnt eine Auseinandersetzung über den Umgang mit den äthiopisch-jüdischen Migranten in der Vergangenheit und heute.

Anders sieht die Situation für die nicht jüdischen afrikanischen Migranten aus. Sie leben im Süden Tel Avivs und immer mehr von ihnen in der südwestlichen Wüste Negev in Holot.
Auf der Grundlage des 2012 erweiterten Anti­infiltrationsgesetzes wurde die offiziell als »Holot Residency« bezeichnete Einrichtung geschaffen. Ein offenes Abschiebegefängnis für bis zu 10 000 Insassen, verwaltet durch den israelischen Gefängnisdienst. Dort leben Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan, die zuvor im südlichen Teil Tel Avivs gelebt hatten, bevor man ihnen ihr Visum entzog. Sie dürfen Holot tagsüber bis 22 Uhr verlassen, kommen sie jedoch zu spät oder verstoßen gegen andere Regeln, werden sie automatisch für drei Monate ins gegenüberliegende Gefängnis Saharonim verbracht. Holot ist kaum an den öffentlichen Nahverkehr angebunden. Be’er Sheva, Tel Aviv und Jerusalem liegen mehrere Busstunden entfernt. Weit kommen die Insassen ohne Geld für ein Taxi also nicht, meist reicht es nicht einmal für eine Busfahrtkarte. Die Bedingungen in der Einrichtung sind miserabel. Es gibt kein sauberes Wasser und die Insassen berichten, dass das Essen häufig nicht genießbar sei. Seife, Zahnpasta und vor allem Trinkwasser kann nur in der Einrichtung und nur gegen Geld erworben werden. Auch medizinische Hilfe ist rar, viele der Flüchtlinge leiden an chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck, erhalten jedoch keinerlei Medikamente. Ein weiteres Problem ist das Fehlen psychologischer Versorgung. Viele der Insassen haben Folter und Gefängnishaft überlebt und ihr Zustand verschlechtert sich angesichts der erneuten Internierung. Im April lief einer der Insassen zur nahen ägyptischen Grenze, in der Hoffnung, von israelischen Soldaten erschossen zu werden.

»Wenn du kein Optimist bist, kannst du hier nicht bleiben«, sagt Aman Beyene, ein 38jähriger Buchhalter aus Asmara, der vor acht Jahren nach Israel kam. Er ist inzwischen seit 18 Monaten in Holot und erlebt die zunehmende Repression am eigenen Leib. 2007 konnte er nach siebenjährigem Zwangsdienst und monatelanger Folter in unterirdischen Gefängnissen in Eritrea mit Hilfe beduinischer Schleuser fliehen. Über den Sudan, Kairo und den Sinai erreichte er Israel. »Zu dieser Zeit, Ende 2007, war es mit den Schleusern noch nicht so schlimm wie heute. Zum Glück war der Zaun zwischen Ägypten und Israel nur ganz niedrig, man konnte einfach darübersteigen. Es war irre, wir sind drübergeklettert und die Soldaten sagten: ›Welcome to Israel‹«, erzählt Beyene. »Die israelischen Grenzsoldaten haben uns mit in ihr Camp genommen und nach einer Nacht brachten sie uns mit einem Militärbus nach Be’er Sheva, dort hielt der Bus einige Kilometer vor der Stadt in der Wüste und der Fahrer sagte: ›Lauft!‹«
Über Umwege und mit der Hilfe einer Taxifahrerin schafften sie es in den Südteil von Tel Aviv, wo Beyene einen Job und eine Wohnung fand und schließlich ein Visum erhielt. Dort lebte er sechs Jahre und arbeitete als Bauarbeiter, Reinigungskraft im Supermarkt und schließlich als Parkplatzwächter im Zentrum von Tel Aviv. Im Januar 2014 wurde sein Visum nicht verlängert, und da er das Angebot der israelischen Behörden, das Land mit 2 500 US-Dollar in Richtung eines nicht benannten Drittlandes zu verlassen, nicht annahm, kam er nach Holot. Das Oberste Gericht hat im Sommer 2014 entschieden, das Abschiebegefängnis in Holot zu schließen. Derzeit erhalten daher nach und nach die Insassen von Holot Schreiben, in denen ihnen zweierlei zur Wahl gestellt wird: Entweder erhalten sie 3 500 US-Dollar und gehen damit in ein nicht benanntes, angeblich sicheres Drittland oder sie gehen direkt ins Gefängnis Saharonim. Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass es sich bei den Drittländern um Ruanda und Uganda handelt. Über diejenigen, die sich dafür entschieden haben, Israel zu verlassen, hat Aman nur traurige Nachrichten erhalten. Tesfai Kidane, einer seiner engsten Freunde und Zimmernachbarn aus Holot, gehörte zu den Flüchtlingen, die Mitte April vom »Islamischen Staat« in Libyen zusammen mit 57 anderen äthiopischen und eritreischen Flüchtlingen getötet wurden, drei von ihnen waren zuvor in Holot. Über andere Bekannte erfuhr Beyene, dass sie beim Versuch, aus Ruanda nach Europa zu kommen, erschossen wurden oder im Mittelmeer ertranken. Daher entscheidet sich derzeit kaum mehr jemand zu gehen, fast alle bleiben in Saharonim, dem Gefängnis in der Wüste, in Sichtweite von Holot.
Walla Bayach kommt aus Be’er Sheva. Gegenüber Israeli News berichtete er über Misshandlungen durch Beamte der Immigrationsbehörde: »Sie fragten mich, ob ich Sudanese oder Eritreer sei und ich habe erklärt, dass ich Israeli bin, auch wenn ich gar nicht verstanden habe, wer sie sind. Sie haben sich nicht zu erkennen gegeben, sondern mir die Arme verdreht und mir Handschellen angelegt.« Auf die Frage, ob Amare eine Verbindung zwischen den Protesten der Etiopim und dem wachsenden Rassismus den ostafrikanischen Flüchtlingen gegenüber sieht, antwortet er: »Es geht um die Hautfarbe. Wenn man sich auskennt, kann man vielleicht noch einen Sudanesen von einem Äthiopier unterscheiden, aber es ist kaum möglich, den Unterschied zwischen mir und einem Eritreer festzustellen. Die Polizei und die Leute von der Immigrationsbehörde halten uns für Flüchtlinge. Wir werden häufiger nach unseren Personalausweisen gefragt und oft passiert noch mehr. Das ist ein Problem, das wir lösen müssen.«

Bisher gibt es keine öffentliche Stellungnahme der großen Äthiopischen Gemeinde zur Überschneidung ihrer Situation mit der der Flüchtlinge. Es gibt aber durchaus Kooperation. Einige der Flüchtlinge aus dem Süden Tel Avivs waren auch auf dem Kikar Rabin bei den Protesten der Etiopim, einige wenige äthiopische Juden engagieren sich für die Flüchtlinge. Wenige bisher, da sie, wie der Student Amare sagt, immer noch fürchteten, »ihre eigene, ohnehin schon marginalisierte Position dadurch zu gefährden«. Sie würden aber immer mehr, so Amare weiter, »da es immer deutlicher wird, dass es hier um Rassismus geht, den wir als äthiopische Juden und israelische Staatsbürger mit Mitteln bekämpfen können, die den Flüchtlingen aus Ostafrika nicht zur Verfügung stehen. Ob schwarz oder weiß, wir sind alle Israelis.«
»Ich glaube, Rassismus und Fremdenhass, die sich gegen die Äthiopier richteen, sind nicht neu, kommen jetzt aber an die Oberfläche«, sagt Elliot, ein kanadisches Mitglied der israelischen NGO March for Freedom, die sich für die Flüchtlinge einsetzt und deren Protest unterstützt. »Es gab immer wieder Berichte, dass äthiopische Juden zusammengeschlagen wurden, nicht nur von der Polizei, sondern auch von Bürgern, die danach entschuldigend sagten, sie hätten die Opfer für Flüchtlinge gehalten. Es gibt aber auch viele Berichte, in denen äthiopische Israelis verprügelt wurden, schlicht weil sie äthiopische Israelis sind.«
March for Freedom organisiert seit 2012 wöchentliche Busreisen zum Open Detention Center Holot, um auf die aktuelle Bedrohung durch Abschiebungen hinzuweisen. Esther, eine pensionierte Übersetzerin aus Holon, und ihre Tochter fahren nicht das erste Mal mit nach Holot, sie sagen, es sei ihre moralische Pflicht als Israelis, sich für Flüchtlinge zu engagieren. Esthers Mann war Flüchtling, ihre Eltern haben den Holocaust überlebt. Ihre Tochter betont, es ärgere sie, dass sich so wenige für die Flüchtlinge engagieren, da alle »so besessen von der Besatzung sind«. Dabei sei die Situation der Flüchtlinge im Gegensatz zur Frage des Nahost-Konflikts klar. Hier könne jeder denkende Israeli Position beziehen.

weitere Fotos von Holger Priedemuth