Ein Label mit Haltbarkeit

Immer wieder Tröglitz

Mit »Nie wieder Deutschland« hat die radikale Linke vor 25 Jahren die deutschnationale Vereinigungseuphorie getrübt. Was den Rassismus angeht, sind die schlimmsten Befürchtungen von damals noch übertroffen worden. Die Losung ist aktueller denn je.

25 Jahre nach seiner Erfindung ist »Nie wieder Deutschland« immer noch ein Spruch, zu dem oppositionelle Linke greifen, wenn sie mit ihren Volksgenossen direkt konfrontiert sind. Er kombiniert »Nie wieder Faschismus« und »Nie wieder Krieg« zu einer Kurzmitteilung, die sofortige Adrenalinschübe auslöst. Zuletzt benutzten ihn die Demonstrantinnen und Demonstranten, die am 1. Mai in Tröglitz gegen Tröglitz auf die Straße gingen. Den Ort, der ausländerfrei bleiben möchte, bezeichneten sie als Drecksnest; dessen Einwohnern versicherten sie ihre Feindschaft: »Gegen eure Dorfgemeinschaft«. Der Sprechchor »Nie – nie – nie wieder Deutschland« hat auf Antifa-Demos ungefähr den Rang wie »Atomkraft – nein danke« bei den Ökologen. Im deutlichen Kontrast zur lachenden Sonne stößt er immer auf Dissens.
Mit gespielter Naivität wird dann die Frage aufgeworfen, was die Parole politisch eigentlich bedeute. Deutschland gibt es doch, das Skandieren von Parolen ändert daran nichts. »Echte« Linke und Kommunisten würden niemals ein kleines Städtchen pauschal beleidigen, schreibt ein Bürger mit erkennbarer SED-Sozialisation auf Facebook. Das hat er gut beobachtet. Die echten Linken würden den Nationaldemokraten von Tröglitz einen Vortrag über Banken und Konzerne halten, vor allem über das globale Finanzkapital, dessen Opfer sie ebenso seien wie übrigens auch die Flüchtlinge. Deshalb dürfe man sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Auf dieser Ebene kann man Verständigungen erreichen. Denn über das Finanzkapital haben die Tröglitzer schon etwas gehört. Da kennen sie sich aus. Erstaunlicherweise ist diese anspruchsvolle politische Konstruktion leichter zu vermitteln als der schlichte Sachverhalt eines Ortes, auf dem der Fluch eines Konzentrationslagers liegt.
Tröglitz ist schlimmer als ein Drecksnest. Im nahe gelegenen Industriegebiet Zeitz errichteten die Nazis Anlagen zur Treibstoffgewinnung aus Braunkohle. Das Unternehmen hieß BRABAG und war natürlich kriegswichtig. NS-Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht hatte schon 1934 dafür gesorgt, dass die führenden Kohle- und Mineralöl-Unternehmen mit der IG Farben an der Spitze diesen Konzern gründeten, um synthetisches Benzin mittels Kohlehydrierung zu gewinnen – ein Verfahren, auf das die deutsche Chemieindustrie heute noch stolz ist. 1944 wurde die Fabrik durch Bombardements der Alliierten schwer beschädigt. Für ihre Wiederherstellung forderte BRABAG Zwangsarbeiter aus den Konzentrationslagern an. Etwa 9 000 Häftlinge, vornehmlich ungarische Juden, wurden nach Tröglitz in ein Zeltlager und nach Rehmsdorf in ein Barackenlager geschickt. Dieses sogenannte »Außenlager Wille« gehörte zum KZ Buchenwald. Die Bedingungen waren dort so brutal, dass die Häftlinge meist nur wenige Wochen überlebten.
Ein Nobelpreisträger für Literatur hat darüber berichtet, freilich nicht der, dessen Name hierzulande in aller Munde ist. Imre Kertész beschreibt im »Roman eines Schicksallosen« seinen Weg durch Auschwitz, Buchenwald und Zeitz. Dass es sich bei Zeitz um Tröglitz/Rehmsdorf handelt, kapieren wir erst jetzt, weil sich einer der beiden Verfasser einer Studie über die BRABAG-Lager in der Zeit zu Wort gemeldet hat (Tobias Bütow, Franka Bindernagel, »Ein KZ in der Nachbarschaft«, Verlag Böhlau, 2004).
Die damaligen Tröglitzer sahen manchmal hin und manchmal weg, wenn die Zwangsarbeiter-Kolonne wie jeden Tag durchs Dorf marschierte. Sie wussten natürlich alles, weil die meisten von ihnen im gleichen Industriepark beschäftigt waren. Nach 1945 breitete sich das große Schweigen aus, ganz genauso wie im Westen. Die Steinbaracken wurden als Garagen benutzt oder zu Wohnungen umgebaut. Arbeiter und Angestellte legten sich für die neuen, volkseigenen Kombinate genauso ins Zeug wie für die früheren Reichsbetriebe. Wer von Zwangsarbeit und Mord – hier bei uns – sprechen wollte, wurde und wird rüde angegangen. Da wollen wir uns doch lieber mit den deutschen Kriegswunden beschäftigen! Heute ist der Ort eine NPD-Bastion. Wen kann das erstaunen?
Gnadenlos bringt Tröglitz alles auf den Punkt: den Holocaust vor den Augen der Bevölkerung, die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie, die Mitarbeit der Kommunen, die Verantwortung skrupelloser Industrieller, die Hinnahme durch die Belegschaften und die durchgängigen Traditionslinien bis zum heutigen Tag.
All das ist seit langem bekannt, und es war auch 1990 schon lange bekannt. Aber da wollte es erst recht niemand hören. Die Vereinigungs­euphorie jagte von einem Höhepunkt zum nächsten: Party für die Freiheit, für die Einheit, für die Verbrüderung, für die D-Mark, für das Wir-sind-wieder-wer. Immer wieder war es dieses Wieder, das die Volksgenossen vor Glück erbeben ließ, wenn es ausgesprochen wurde.

In dieser kritischen Phase hielt es die radikale Linke des Westens für angebracht, daran zu erinnern, wie das vorige Mal beschaffen war, als Deutschland noch wer war und worauf sich das Wieder bezog. So entstanden die zwei Nie-Wieder- Deutschland-Demonstrationen (NWD), am 12. Mai in Frankfurt und am 3. November 1990 in Berlin, die einzigen größeren Aktionen gegen die deutsche Einheit. Auf ihnen marschierten auch ostdeutsche Teilnehmer in nicht geringer Zahl mit. Die Feststellung der NWD-Initiative, dass der begeistert gefeierte Nationalismus den Rassismus beflügeln werde, taten viele Linke mehrheitlich als absurd, irrelevant und hysterisch ab. Einige Monate später zeigten die Ereignisse von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln, wie berechtigt die Warnung war.
Seither sind über 200 Menschenleben der Nazigewalt zum Opfer gefallen. Es gab die zehnjäh-rige Mordserie einer rechtsterroristischen, von V-Männern umgebenen Gruppe mit dem bezeichnenden Namen »Nationalsozialistischer Untergrund«. Ungeachtet dessen marschierten an vergangenen 1. Mai im Kernland des NSU 800 Vollnazis durch Saalfeld, um sich in schamloser Offenheit zum NS zu bekennen – lediglich flankiert von einigen Dutzend Polizisten, die weder willens noch imstande waren einzugreifen. Zurzeit hören wir im Wochentakt von weiteren Städten, die als Nazihochburgen gelten müssen. Nach Tröglitz und Saalfeld sind es nun Bitterfeld, Zossen, Hofheim.
Dass es derart viele Nazihochburgen geben würde, von denen nur ein Bruchteil hier erwähnt ist, konnte die NWD-Initiative nicht ahnen. Wir wussten nur, dass jeder sogenannte demokratische Umbruch in den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks von rechtsradikalen Exzessen begleitet war. Also war das auch in Deutschland zu erwarten. Wir haben uns ziemlich gewunden, um eine Erklärung für das Phänomen zu finden. Immerhin hatte sich die DDR, anders als die Bundesrepublik, eindeutig zum Antifaschismus bekannt.

Setzte die Dynamik des einigen Vaterlands rassistische Potentiale aus dem Untergrund frei? Begehrten die Ostdeutschen aus Ablehnung gegen alles, was ihren Staat ausgemacht hatte, eben auch gegen den »verordneten Antifaschismus« auf? Waren die westdeutschen Nazikader mit tatkräftiger Hilfe der Geheimdienste dermaßen erfolgreich bei ihren Rekrutierungen im Osten, dass man von einem Import des Exportweltmeisters sprechen muss? In Wahrheit waren die Ursachen wohl viel direkter.
Der Historiker Harry Waibel, ein gestandener Altlinker, wühlte sich jahrelang durch die in Berlin archivierten Stasi-Akten hindurch, um Unterlagen zum Thema Neonazismus, Antisemitismus und Rassismus in der DDR zu finden. Seine Ausbeute war reich und ist in seinen beiden 2012 und 2014 publizierten Büchern dokumentiert. Über 8 600 neonazistische Propaganda- und Gewalttaten kann Waibel belegen, darunter 900 antisemitische Vorfälle und 725 rassistische Angriffe. Häufig richteten sie sich gegen Vertragsarbeiter aus Mosambik, Vietnam oder Kuba, gegen die gleichen also, die nach der Wende in ihren Wohnheimen, auf Straßen und Bahnhöfen heimgesucht wurden. Mindestens zehn Tote soll es bei pogromartigen Vorfällen in den siebziger und achtziger Jahren in der DDR gegeben haben. Waibel berichtet von Kneipenschlägereien und Menschenjagden. Auch Tröglitz findet Erwähnung.

Die Staatssicherheit notierte alles und hielt es unter Verschluss. Die lokalen Behörden wurden zum Schweigen verpflichtet, Strafen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fielen gering aus. Ein Bekanntwerden dieser Umtriebe hätte dem Image der DDR geschadet und möglicherweise auch Irritationen bei den sozialistischen Bruderländern ausgelöst. Mit diesen Erkenntnissen tingelt Waibel auf kleinen Veranstaltungen durch die Republik wie ein einsamer Rufer in der Wüste. Dabei verdienen sie es, geprüft und diskutiert zu werden.
»Nie wieder Deutschland« muss nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit die einzig richtige, wegweisende Parole sein. Natürlich hätte ich sie mitgerufen, wenn ich von der Demo gegen das Drecksnest rechtzeitig erfahren und an ihr teilgenommen hätte. Aber was machen wir mit jenen Tröglitzern, die inzwischen ihre Bereitschaft erklärt haben, Flüchtlinge privat aufzunehmen? Imre Kertész mit ihnen zu lesen, wäre vielleicht eine gute Idee.

»Roman eines Schicksallosen« unter:
http://netz-gegen-nazis.de/seite/buecher-zum-download