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10.30 Uhr, Konferenztisch. Zwei tippen auf ihren Smartphones, drei reden durcheinander und einer, der wirft immer wieder kurze prüfende Blicke unter den Tisch. Was glotzt der denn so? Ist ihm Geld aus der Tasche gepurzelt? Sucht er auf der Tischunterseite nach seinem alten Kaugummi? Nein, es ist ernster. Er schüttelt ungläubig den Kopf, reibt sich die Augen, blinzelt, doch nichts ändert sich: Da hat doch jemand eine kurze Hose an! Nun gut, dieser Strolch ist ein flotter Bursche und seine borstigen Waden sehen zum Anbeißen aus. Aber sind wir denn zum Surfen hier? Nein, sind wir nicht. Das hier ist ein Büro, eine Bastion gesitteter Arbeit also. So wie jede Bank, jede Versicherung – da kommt auch niemand auf die Idee, halbnackt aufzukreuzen. Wobei, so ganz lassen sich die Traditionsbranchen nicht mit unserer Situation vergleichen. Im Umgang und so, na klar, immer freundlich bemüht. Aber: das Klima! So gut wie jeder Bürokomplex dieser Erde verfügt über ausgetüftelte Belüftungssysteme, die es ermöglichen, dass der Anzug selbst in den Sommermonaten trocken bleibt. Das läuft hier anders. In den heißen Mittagsstunden kommt die Arbeit zum Erliegen und Redakteurinnen und Redakteure wedeln sich gegenseitig mit Druckfahnen etwas kühlere Luft zu. Wer würde sich unter solchen Bedingungen um Etikette scheren?
Also: Tropical Island in der Jungle World? Der Lektor kommt im halbgeöffneten Hawaiihemd mit Strohhut und Adiletten vorbeispaziert? Die Geschäftsführung trägt heiße Höschen, Arztsocken und Funktionssandalen? Der CvD rennt in Badelatschen und mit Basecap über den Flur? Die Politikredakteurin ist eine passionierte Barfußläuferin? Morgens wird die erste Piña Colada getrunken, mittags ein Schläfchen in der Hängematte gemacht, nachmittags hilft ein Sprung in den Hauspool oben auf der Dachterrasse, die die Verlagsleitung zur Verbesserung des allgemeinen Betriebsklimas hat bauen lassen? Vergessen Sie es. Die Realität sieht anders aus. Düsterer, viel düsterer. Um die Tropicalisierung der Redaktion zu verhindern, wurde das schwedische Verdunkelungsrollo Tupplur angeschafft, dessen Spezialgewebe kein Sonnenlicht durchlassen soll. Aber die Ansprüche der Kollegen und Kolleginnen sind höher. In mehrstündiger Heimarbeit wurde das Rollo mittels Spezialkleber so aufwendig verstärkt, dass es den Strahlenschutzvorschriften japanischer Atomreaktoren entspricht. Jetzt sind die Räumlichkeiten dunkel und kühl. Kein Sonnenstrahl dringt mehr durch, nichts lenkt von der Arbeit ab. Ob der Kollege heute Hotpants trägt oder die Kollegin wieder im ­Beachlook kommt, kann einem egal sein. Man sieht nichts mehr.