Ein digitales Archiv soll das jüdische L.A. dokumentieren

Mapping Jewish L.A.

Die Stadt der Engel ist auch die der Juden. Ein digitales Archiv dokumentiert, wie eng der Aufstieg von Los Angeles zur Metropole mit der Entwicklung der jüdischen Community verbunden ist.

Zwischen zwei großen Palmen, die Mascarabürsten gleichen, befindet sich auf der Fairfax Avenue in Los Angeles das in Pastellfarben gestrichene Ladenlokal des Canter’s Deli. Es ist das wohl älteste jüdische Nobelbistro der Westküste. Das Traditionsgeschäft ist rund um die Uhr geöffnet und schließt nur an hohen jüdischen Feiertagen wie Yom Kippur und Rosh Hashana. Der Laden ist ein Familienunternehmen: Familie Canter musste während der Weltwirtschaftskrise ihren Delikatessenladen in New Jersey aufgegeben. 1931 eröffnete die Familie in Los Angeles den »Canter’s Deli«. Die heutigen Räumlichkeiten im Gebäude des ehemaligen Old Esquire Theatre auf der Fairfax Avenue bezog der Deli im Jahr 1953. Der ehemalige Bühnenraum des Kinos dient als Cocktaillounge mit dem Namen »Kibitz Room«. Hier halten die Red Hot Chili Peppers Jam-Sessions ab, oder es tagt die Slapstick-Show »Heavy Shtetl Night«. Im voll besetzten Deli erinnern die braunen Laminattische, die orangefarbenen Kunstlederbänke und die Glasdecke in brauner Herbstlaub-Optik an eine Omaküche der sechziger Jahre. Es riecht nach Essig, Bohnerwachs und Streuselkuchen. Eingeweihte bestellen Speisen, die gar nicht mehr auf der Karte stehen und nur auf Nachfrage zubereitet werden. Beim »Billy Bob Special« handelt es sich um zwei Roggenbrotscheiben mit Eiersalat, wer »The Marylin« bestellt, erhält ein gegrilltes Käsesandwich mit Tomaten. In der Nähe der großen Filmstudios gelegen, verkehrten in Canter’s Deli Stars wie Marilyn Monroe oder Mel Brooks, der, so erzählt ein alter Stammgast, während der Drehpausen des Films »The Producers« den Deli einmal im Nazikostüm aufsuchte; ein Fauxpas, den die Inhaber aber mit Humor aufnahmen.
Über die von Palmen gesäumte Straße weht dezent der Duft von »Knockwurst« und Pas­trami: Für viele Bewohner von Los Angeles ist Canter’s Deli heute noch ein symbolischer Ort, der für die gewachsene Bedeutung der jüdischen Gemeinde steht. Was die Community in Los Angeles ausmacht, ist nicht nur ihre Sichtbarkeit, sondern die selbstverständliche Verschmelzung von nicht-jüdischen und jüdischen Lebenswelten. Neuerdings widmet sich das vom Fachbereich Jewish Studies der University of California Los Angeles organisierte Projekt »Mapping Jewish Los Angeles« den jüdischen Traditionen der Stadt. In fünf Jahren soll in Zusammenarbeit mit Google Maps ein digitales Archiv unter dem Titel »Hyper Cities« geschaffen werden. Es will die Spuren und Stationen der jüdischen Community seit Beginn der Einwanderung zugänglich machen und soll auch als App verfügbar sein. Gesammelt werden historische und aktuelle Stadtpläne, 3-D-Rekonstruktionen von Gebäuden, Fotographien, Dokumen-
te und Kurzvideos. Ziel ist es, den Beitrag jüdischer Kultur zur Stadtentwicklung von Los Angeles von der Bretterbudenkolonie im frühen 19. Jahrhundert zu einer Weltmetropole zu dokumentieren.
Die Migrationsgeschichte der Stadt zeugt von Vielfältigkeit. Nach jüngsten Erhebungen wurden etwa 40 Prozent der Bevölkerung von Los Angeles außerhalb der USA geboren; nicht-hispanische Weiße sind mit knapp 29 Prozent in der Minderheit. Daher sind weitere Projekte geplant. Bereits in Vorbereitung sind die Archive »Mapping Filipino Los Angeles«, »Mapping Chinese San Francisco« und »Mapping Jewish New York«.
Jüdische Einwanderer kamen vor allem um 1900, während der Weltwirtschaftskrise von 1929 und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in die Stadt. In den dreißiger Jahren bot Los Angeles den Migranten, was an der Ostküste fehlten: Arbeit und günstige Wohnbedingungen, noch dazu ein mildes Klima und saubere Luft. In dieser Zeit verwandelte sich das östlich von Downtown gelegene Boyle Heights von einer einstigen Villensiedlung angelsächsischer Pioniere zu einem dicht bevölkerten Viertel von aus New York, Chicago und Europa zugezogenen Juden. Diese eröffneten Delis, koschere Metzgereien, Bäckereien, jiddische Volksschulen und Synagogen, die das Stadtbild Los Angeles bis heute prägen. Aufgrund der steigenden Zahl arbeitender Mütter eröffnete 1935 der »Julia Ann Singer«-Kindergarten in einer neu gebauten, zweistöckigen Villa mit Garten. Phillips Music Company versorgte jüdische und mexikanische Kunden gleichermaßen mit den beliebten Schlagern der Zeit, wie etwa »Jiddische Mambo« oder »Tico Tico« des Musikers Mickey Katz, dem Großvater der durch »Dirty Dancing« bekannt gewordenen Schauspielerin Jennifer Grey. Katz trat regelmäßig im Million Dollar Theatre an der Ecke des Grand-Central-Marktkomplexes auf.
Als der Grand Central Market 1917 im heutigen Downtown eröffnete, boten, so stellt es das Projekt »Mapping Jewish LA« heraus, jüdische Geschäftsinhaber neue Einkaufserfahrungen. Unter hellen Arkadendächern offerierten über neunzig Geschäfte und Stände mit Obst, Fisch, Pralinen und Malzmilch kulinarische Besonderheiten für eine klassenübergreifende Kundschaft. Heute bieten die Hallen des Markets vor allem Nobelessen für die Mitarbeiter der umliegenden Bürogebäude oder dienen als Treffpunkt für den Wochenendbrunch.
Vom Grand Central Market aus entwickelte Isadore M. Hattem ein neues Geschäftsmodell: den »ersten« Supermarkt, zumindest an der amerikanischen Westküste. Hattem entstammte einer sephardischen Familie aus Konstantinopel und war über Frankreich und Brasilien 1914 nach Los Angeles gekommen. Zunächst fand er Arbeit an einem Obstwagen vor dem Burbank Theatre, dann kaufte er seinen eigenen Obststand und erwarb schließlich drei weitere, die er im Grand Central Market betrieb. 1927 eröffnete Hattem mit seinem Bruder den Lebensmittelladen Hattem’s Market, den die Lokalzeitung Southwest Wave in den Rang eines »Supermarket« erhob. Es gab kein Servicepersonal mehr, nur an den Frischetheken standen noch Verkäufer, ansonsten griffen die Kunden selbst zu. Der Laden bot das gesamte Lebensmittelspektrum: Obst, Gemüse, Deli, Fleisch, Fisch, Milchprodukte und eingeschweißte Frischware in Kühlregalen, außerdem haltbare Konserven in Regalreihen. Der Markt verfügte über einen eigenen Parkplatz, eine weitere Neuerung von Hattems Modell. In seinem Laden fanden Modeschauen statt, Hattem verkleidete sich zur Winterzeit auch schon mal als Weihnachtsmann, um die Kinder der Nachbarschaft zu unterhalten. Das Geschäft war rund ums Jahr 24 Stunden geöffnet und hatte keine Türen zum Abschließen; vor dem Geschäft plätscherte ein Springbrunnen mit Justitia-Statuette – eine genaue Tortenreplik des Gebäudes wurde jährlich zum Geschäftsjubiläum gebacken.
Seit den dreißiger Jahren und bis in die unmittelbare Nachkriegszeit hatte sich das jüdische Viertel von Los Angeles von den Boyle Heights, wo inzwischen die lateinamerikanische Community lebt, in den Westen, auf die sogenannte Miracle Mile, das ehemalige Zentrum der Filmindustrie, das die Straßenzüge rund um die Fairfax Avenue umfasst, verlagert. Von dort breitete es sich nordöstlich in Richtung des San Fernando Valley aus, ein Los Angeles vorgelagertes Stadtgebiet mit suburbanen Zügen. Der »Jewish Pass« beziehungsweise die nordwärts führende Sepulveda Avenue ist ein 1962 fertiggestellter Highway und für die jüdische Gemeinde so etwas wie die Brooklyn Bridge Manhattans: urbanes Bindeglied und Symbol sozialen Fortschritts. Ursprünglich war es die Straße der Tongva-Indianer, der Ureinwohner der Westküste, seit 1769 diente sie den spanischen Missionaren als nordwärts führender Verkehrsweg. Heute befinden sich auf der Sepulveda Avenue viele wichtige jüdische Einrichtungen in Los Angeles, etwa die Leo-Baeck-Synagoge, das Skirball Cultural Center und die American Jewish University.
»Mapping Jewish Los Angeles« widmet sich den Orten jüdischer Kultur in L.A. und weniger den Persönlichkeiten der Filmindustrie. Dies, obwohl die Geschichte der Unterhaltungsindustrie eng mit den jüdischen Einwanderern, darunter viele Emigranten, die vor dem heraufziehenden Nationalsozialismus flohen, verwoben ist. Zu nennen wären der gebürtige Berliner Billy Wilder, der Theaterschriftsteller Bruno Walter, der Filmkomponist Erich Wolfgang Korngold, Max Ophüls, Bruno Walter, Marcus Loew, der Gründer der Metro-Goldwyn-Mayer-Filmstudios, und die österreichische Schauspielerin Hedy Lamarr. Das Projekt konzentriert sich vor allem auf den Kinobauer S. Charles Lee sowie den Maler und Stummfilmproduzenten Hugo Ballin. Zwischen 1926 und 1948 entwarf der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende S. Charles Lee 250 Kinos. Die meisten entstanden in Hollywood, viele sind noch heute in Betrieb. Seine Bauweise ergab sich aus dem ästhetischen Art-Deco-Stil der Zeit – die an Schwanenflügel erinnernde Außenfassade des Bruin Theatre (1937) in Westwood etwa oder der in Schwarz-Gold gehaltene Innenraum des Fox Wilshire (1928–1932) – vor allem aber aus der oft nur kleinen Baufläche, die Lee für seine Gebäude zur Verfügung stand. Im Tower Theater (1926–1927) etwa ließ er den Innenraum durch das Einfügen zahlreicher, romanisch inspirierter Fenster größer und heller erscheinen, als er war. Außen ermöglichen die Türme vieler von Lee entworfener Kinos das Anbringen von Werbung mit Leuchtschrift, und lassen an moderne Miniaturkathedralen weltlicher Illusionen denken.
Hugo Ballin, der einer New Yorker deutsch-jüdischen Familie entstammte, fertigte eindrucksvolle Wandmalereien in öffentlichen Gebäuden der Stadt. Der Artdirektor für Samuel Goldwyn arbeitete als ästhetischer Berater auch eng mit den Rabbis der jüdischen Gemeinde zusammen. In der Wilshire Synagoge etwa riet Ballin den Innenarchitekten, in Kinos auf einen Mittelgang zu verzichten, da die zentralen Sitzplätze die beste Sicht auf das Sanktuarium (im Kino die Leinwand) ermöglichen. Ballins von den Warner Brothers in Auftrag gegebenes Wandbild, das im 360-Grad-Winkel die Wände der Wilshire-Synagoge entlangführt, erzählt die Geschichte des Judentums beginnend mit dem Buch Mose bis in die Gegenwart des Jahrs 1929, dem Auftragsjahr des Kunstwerkes. Das Wandbild ähnelt dem Zelluloidband eines Filmstrips; viele der weiblichen Darstellungen darauf gleichen Ballins Frau, der Schauspielerin Mabel Croft. »In seiner Lebensgeschichte klingen einige der Tropen an, die für die jüdische Gemeinde Hollywoods charakteristisch sind«, erklärt Caroline Luce, die Kuratorin von »Mapping Jewish Los Angeles«. »Ballin gehörte einer Kohorte junger Männer an, die begierig waren, ihren Weg in die amerikanische Szene zu finden. Sie waren nach Los Angeles gekommen, da sie dachten, hier auf Neuland zu treffen, auf dem sich ihre grandiosen Selbstbilder verwirklichen ließen«, fährt Luce fort. »Während Juden in New York und New England sich mit fest verwurzelten sozialen und künstlerischen Hierarchien konfrontiert sahen, schien LA Möglichkeiten zur Erlangung von Ruhm und Wohlstand direkt innerhalb der Elitekreise der Macht zu bieten.«
In der Burbank City Hall stellt das wohl berühmteste, 1943 fertiggestellte Wandbild Ballins. »The Four Freedoms« stellt die durch den Zweiten Weltkrieg erlangten beziehungsweise wiederhergestellten »vier Freiheiten« dar: die Freiheit der Rede, die Freiheit der Religion, die Freiheit von Mangel und die Freiheit von Angst. In der oberen Bildhälfte sind Allegorien der vier Freiheiten dargestellt, darunter ihre praktische Umsetzung. Unterhalb »der Redefreiheit« hält eine Frau ein Buch in allen Sprachen, daneben spricht ein Mann von einem Podium. Unterhalb der Freiheit der Religion befinden sich Betende der christlichen, der jüdischen und der indianischen Religionen; unterhalb der Freiheit von Mangel sind Darstellung von Familien mit voll beladenen Einkaufskörben, unter der Freiheit von Angst sind Waffen zerstörende Figuren und Familien verschiedener ethnischer Herkünfte beim Abendessen oder friedlichem Zeitungslesen zu sehen. Für Ballin waren die USA Heimstatt dieser Freiheiten, an denen alle Völker, auch die der Shoah entkommenen Juden, teilhaben konnten.