Um die Wurst

Beinahe jede Ernährungsparanoia wird willig ins Weltbild eingeschweißt, kein Thema beschäftigt Angehörige aller Schichten mehr als die Frage, was man warum nicht essen dürfe; und ein jeder berichtet bereitwillig aus dem Turm der eigenen Askese. Deswegen um so überraschender die öffentliche Reaktion, als die Weltgesundheitsorganisation WHO kürzlich vor der Krebsgefahr durch industriell verarbeitetes Fleisch warnte, besonders vor Wurst: Statt die neue Sorge dankbar in den Katalog der schon bestehenden Neurosen einzubauen, manifestierte sich bei vielen Zeitgenossen eine geradezu kindische Trotzreaktion: Nein, die Wurst lassen wir uns nicht nehmen!
Sogar Leute, die dem Vegetarismus zumindest Sympathien entgegenbringen, lachten da höhnisch; viele gingen sogar mit Fleiß zur Currybude und fühlten sich noch mutig, so als stünde gleich ein Inquisitor der WHO an der Ecke, um ihnen den Brätdödel aus der Hand zu schlagen. Es traf offenbar einen neurotischen Kern, der noch tiefer liegt als die orthorektischen Bedürfnisse, irgendwo zwischen Nationalgefühl, Argwohn gegen »die da oben« beziehungsweise Amiland, oralem Trotz und pubertärem Widerspruchsgeist – Viszeralnationalismus wäre ein schönes, wenn auch schwierig durchzusetzendes Wort dafür.
Findige Inspektoren der Volksseele machen sich diesen neuentdeckten psychischen Kontinent bereits zunutze. So wirbt etwa eine Kette von Fitnessstudios in Frankfurt mit Bildern fiktiver Heil- und Pflegeprodukte, die ewige Gesundheit versprechen, um darauf groß »Bull­shit!« zu stempeln – weil man Schönheit und Jugendlichkeit ja nur bekommt, wenn man sich dabei die Gelenke schön kaputtstrampelt. Aus Bullshitwut joggen, fressen, Autos kaufen – die Möglichkeiten des Zornkonsums sind endlos. Die Zeiten werden deutlich ärgerlicher.