Pierre Chopinaud und Saimir Mile im Gespräch über die Lage der Roma in Frankreich

»Wir geben Roma eine Stimme«

Saimir Mile und Pierre Chopinaud betreiben den Blog »La voix des Rroms« (Die Stimme der Roma) über die Situation der Minderheit in Frankreich. Ihr Engagement gilt vor allem der Aufklärung, doch sie wollen Roma auch Mut machen, für ihre Rechte zu kämpfen. Mit der Jungle World sprachen die beiden über ihre Arbeit und die Lage der Roma in Frankreich.

Wie ist die derzeitige Lage der Roma in Frankreich? Hat sich unter der amtierenden sozialdemokratischen Regierung im Vergleich zu deren konservativer Vorgängerin irgendetwas geändert?
Mile: Nichts hat sich geändert. Außer wie sie ihre Politik der Öffentlichkeit verkauft. Nach wie vor wird gegen die Siedlungen und Slums gehetzt, in denen Roma-Migranten leben. Die Politik produziert solche Siedlungen, irgendwann werden die Menschen dann umgesiedelt und es entsteht woanders eine neue Siedlung.
Diese Situation zu erhalten, ist für die Regierung nützlich. Sie kann dann immer über die wenigen Menschen in den Slums reden, statt das gesellschaftliche Problem anzugehen. Das ist wie gesagt dieselbe Politik wie die der Konservativen, vielleicht schlimmer.
Woher kommt Ihrer Meinung nach die gesellschaftliche Verachtung gegenüber Roma?
Mile: Ich denke, das passiert in Krisenzeiten. Die Probleme mit Minderheiten resultieren aus der Krankheit der Mehrheit.
Chopinaud: Die öffentliche Aufmerksamkeit wird auf etwas anderes gelenkt. Wie zum Beispiel bei der Hetze gegen die illegalen Siedlungen. Es ist eine Frage des Wohnens, doch statt eine Lösung für das Wohnungsproblem zu suchen, das mehr als vier Millionen Menschen betrifft, werden die 17 000 Roma-Migranten als illegal stigmatisiert. Und so wird das eigentliche Problem umgangen.
Mile: Rassismus entsteht nicht von selbst, sondern ist ein Instrument, um eine bestimmte Politik durchzusetzen. Und dagegen versuchen wir unsere Instrumente einzusetzen.
Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?
Mile: Wir kümmern uns vor allem um Roma-Migranten. Wir informieren über ihre Situation und geben ihnen damit eine Stimme. Wir sind eine antirassistische Organisation, die aus verschiedenen kleinen Gruppen besteht. Bei Aktionen sind wir mal fünf, mal 50 Menschen. Und wir arbeiten mit anderen antirassistischen Gruppen zusammen, es ist ein Netzwerk im Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und eben Antiziganismus.
Chopinaud: Bei einer dieser Informationskampagnen begleiten wir Raymond Gurême an französische Schulen, der dort seine Geschichte erzählt. Er ist ein 90jähriger französischer Rom, der in der Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs von 1940 bis 1944 sowohl vom Vichy-Regime als auch von den Deutschen mehrmals verhaftet und in Lager gesperrt wurde. Er konnte jedes Mal fliehen und kämpfte in der Résistance. Zusammen mit der Journalistin Isabelle Ligner hat er seine Verfolgungs- und Widerstandsgeschichte vor ein paar Jahren auch in dem Buch »Interdit aux nomades« (Nomaden verboten) verarbeitet. Bei diesen Terminen sprechen wir mit den Schülerinnen und Schülern auch über unsere Arbeit.
Mit diesem Programm sind wir auf Einladung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg nun auch das erste Mal nach Deutschland gekommen, um uns dort in einer Französisch-Klasse mit deutschen Schülern auszutauschen. Die zeigten reges Interesse, es war ein guter Tag.
Bei der Veranstaltung im Dokumentations- und Kulturzentrum wurden Sie gefragt, ob es – wenn Rassismus in Krisenzeiten entsteht und es im Kapitalismus immer wieder Krisen gibt – Rassismus und Antiziganismus geben wird, solange der Kapitalismus besteht.
Chopinaud: Ja, und man kann nur antworten: Es ist eine strukturelle Krankheit des Kapitalismus, der die Ausgrenzung von Menschen produziert. Und zwar auf rassistischer Grundlage, das geschieht sowohl in den USA als auch in Europa.
Mile: Die Probleme der Roma in Ost- und Mitteleuropa haben viel mit dem Übergang zum Kapitalismus zu tun. Sie immigrieren nach Frankreich, weil ihre lokale Gesellschaftsstruktur auf dem Land in Rumänien oder Bulgarien komplett zerstört ist. Die soziale Struktur hat sich in den osteuropäischen Ländern in den neunziger Jahren stark verändert und auch die dort lebenden Roma haben alles verloren.
Chopinaud: Es ist auch eine Form von Kolonialismus. So werden etwa Nordafrikaner in Frankreich nach wie vor aufgrund ihres Aussehens stigmatisiert. Und diesen kolonialistischen Reflex analysieren wir auch in der Beziehung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Roma-Minderheit. Dabei sind Unterdrückung und exotische Faszination zwei Seiten einer Medaille. Man kann viele Klischeebilder finden von sexy Romnija, ihren Tänzen und Kleidern, die dazu führen, das darauf Phantasien projiziert werden. Das passiert aber auch bei den negativen Stereotypen, die auf das Objekt des Interesses projiziert werden.
Wie könnte sich das ändern? Bietet vielleicht die EU Chancen für mehr Integration und Gleichberechtigung?
Chopinaud: Für mich ist der einzige Weg, dass die Menschen selbst Stopp sagen. Wir können unsere Arbeit machen, uns organisieren, aber die Veränderung muss von den Menschen kommen. Ich erwarte nichts von irgendwelchen Institutionen.
Mile: Es stimmt, dass das Hauptziel der Schaffung Europas war, Kriege auf dem Kontinent zu verhindern, und das wurde ja auch geschafft – in Westeuropa. Doch die Konflikte haben sich verschoben. Es gab vor 20 Jahren den Genozid auf dem Balkan, mitten in Europa.
Die EU ist kein Projekt der europäischen Bürger, sondern von ein paar wenigen Menschen. Wirkliche Veränderungen können nur auf Graswurzelebene geschehen, sich von einer kleinen Gruppe auf die nächste kleine Gruppe ausweiten und so weiter. Wenn wir von oben etwas erwarten würden, wären wir verloren.
Wie sehen Sie die staatliche Erinnerungskultur in Frankreich in Hinsicht auf die Nazikollaboration und den Holocaust?
Chopinaud: Wir benutzen nicht das Wort Holocaust, weil es ein religiöses Konzept beinhaltet, wir aber über politische Prozesse in der Geschichte sprechen. So ist der Genozid an den europäischen Roma eine spezifische Geschichte und der Genozid an den europäischen Juden eine andere.
Die Erinnerung an den Genozid der Roma in Frankreich ist sehr schwach. Es gibt kaum Bücher darüber, nur eine allgemeine Anerkennung in dem Sinne: Während des Zweiten Weltkrieges wurden Roma von den Faschisten getötet. Aber warum und welche Mechanismen da wirkten, ist nicht bekannt und interessiert auch keinen. Unser Engagement geht also vor allem dahin, die spezifischen Mechanismen des Antiziganismus zu erklären, die wir noch heute beobachten. Wie kann eine Regierung wie die französische den historischen Genozid an den Roma hierzulande anerkennen, wenn gleichzeitig so etwas passiert wie mit Raymond Gurême und seiner Familie im vergangenen Jahr? Als Überlebender des Völkermords war er einem willkürlichen und brutalen Angriff französischer Polizisten ausgesetzt, nur weil er mit seiner Familie in Wohnwagen wohnt und damit nicht ins Bild der Mehrheitsgesellschaft passt. Dass es Polizisten waren, die ihn grundlos angriffen und schlugen, zeigt, welche Stimmung in Frankreich gegen Roma herrscht und dass diese Stimmung von oben gesteuert wird. Die Frage, was damals passiert ist, ist also untrennbar mit der Frage verbunden, was gegenwärtig passiert.
Mile: Die Formel »Nie wieder!« ist ein Dogma, das keine Aufklärung enthält. Denn was passiert ist, soll eine Ausnahme und die Täter sollen ausschließlich böse, verrückte Menschen gewesen sein. Aber derzeit haben wir das beste Beispiel dafür, dass es »normale« Menschen in »normalen« Zeiten in einer »normalen« Gesellschaft sind, die nach diesen Mechanismen denken und handeln.
Was zum Massenmord führte, steckte nicht nur im NS-Regime, sondern gab es bereits lange vorher auch in anderen Ländern Europas. Als die Nazis Frankreich eroberten, fanden sie die jahrzehntealten Listen, auf denen die Nomades registriert waren, bereits vor. Der Krieg und die Nazis waren die Katalysatoren für die Effizienz dieses Systems der Gewalt und Vernichtung während dieser Periode. Doch nach dem Krieg wurden diese Mechanismen nicht außer Kraft gesetzt und die Polizisten von heute sind die gleichen wie damals. Ich meine natürlich nicht die konkreten Menschen. Aber das System besteht noch, in der kulturellen Struktur und der Funktionsweise der Institutionen.