Tante Hessen

Dem passionierten Facebook-Nutzer werden sie seit einer Weile um die Ohren gehauen: Angebote für T-Shirts oder Kapuzenpullover, die den demographischen Angaben des Nutzers angepasste Slogans bereithalten und den Machern sicher »total frech«, ja vielleicht sogar »kess« vorkommen mögen. Mir zum Beispiel werden Hemden feilgeboten, auf denen steht: »Unterschätze niemals die Macht eines Hessen, der aus Bayern kommt« – meinem Wohn- beziehungsweise Wurfort angepasst. Außerdem werde ich vom selben System auch als »sexy Tante« erkannt, warum, will ich gar nicht wissen. Seit ich aber einen jungen Fachhochschulstudenten mit so einem »individu­ellen« Hessen-Bayern-Humpahumpa-Hemd herumlaufen sah, weiß ich auch, dass es Leute da draußen gibt, die diese Hemden nicht nur zu sehen kriegen, sondern wirklich kaufen, die also ihre Kontaktdaten nicht nur den Datenkraken, sondern der ebenso krakigen Umwelt ausliefern möchten. Man möchte sie für arme Teufel halten, verlorene Seelen, die auf jeden Quatsch hereinfallen. Doch bietet der Selbstdeklarierungswahn auch Anlass zur Hoffnung. Ohne es zu wollen, rütteln die mächtigen Hessenbayern auf diese Weise am größten Hindernis für eine gesellschaftliche Veränderung, nämlich dem bürgerlichen Individualismus, der zuverlässig noch jede Revolution verhindert hat. Wenn die Leute per T-Shirt schon die Ahnung kundtun, gar kein richtiges Individuum zu sein, sondern eine zufällige Ansammlung statistischer Daten, dann ist vielleicht auch die Erkenntnis nicht mehr fern, dass es dieses einzigartige Individuum gar nicht gibt, sondern nur allerhöchstens ein Dutzend verschiedener Leute, die millionen- und milliardenfach immer wieder neu aufgelegt werden. Vielleicht sind also die Sexytanten die Avantgarde eines ganz neuen Klassenbewusstseins …