»Star Wars« und die Grenzen des Weltalls

Von oben sieht alles so friedlich aus

Wer wird schon an den Grenzen der Atmosphäre Halt machen? Über den Mythos der bemannten Raumfahrt.

Aufgestoßen wurde das Tor zum Weltraum am 3. Oktober 1942 in Peenemünde. An diesem Tag drang eine von der dortigen Heeresversuchsanstalt gestartete, später als V 2 berühmt-berüchtigt gewordene Rakete erstmals in den Grenzbereich des Weltraums vor. Während die Nazis die Rakete ausschließlich als Prototyp jener modernen Massenvernichtungswaffen feierten, die nach Kriegsende für ein fast 40jähriges globales »Gleichgewicht des Schreckens« sorgen sollten, beschworen ihre Schöpfer, allen voran der umstrittene Raketenkonstrukteur Wernher von Braun (1912–1977), schon eine Zukunft des Menschen in den Sternen. Tatsächlich sollte eine Weiterentwicklung der V 2, die Saturn-V-Rakete, ein gutes Vierteljahrhundert später die ersten Menschen zum Mond befördern.
Mit der Rakete, respektive dem Raumschiff, verbanden sich von Anfang an jedoch sehr viel weiter reichende Ambitionen. Flüge zu Mond und Mars stellten nur erste Schritte auf dem Weg zur Erkundung des Weltraums dar, von dem sich Weltraumpioniere und Wissenschaftsphilosophen wie John Desmond Bernal (1901–1971) bereits seit den zwanziger Jahren eine Erneuerung und letztlich eine »Vergöttlichung« der menschlichen Spezies versprachen. Für den russischen Astrofuturisten Konstantin Ziolkowski (1857–1935) war die Erde ohnehin nicht mehr als die Wiege der Menschheit und er war sich sicher: »Der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben.« Diese Überzeugung teilt offenbar auch der amtierende Chef der berühmtesten Raumfahrtbehörde der Welt, Nasa-Direktor Charles Bolden, der im April vergangenen Jahres bekräftigte, dass eine nur auf einem Planeten angesiedelte Spezies zum Untergang verdammt sei: »Wenn diese Spezies auf unbestimmte Zeit überleben soll, müssen wir eine multiplanetarische Spezies werden, wir müssen zum Mars vorstoßen. Und der Mars ist das Sprungbrett zu weiteren Sonnensystemen.« In historischer Perspektive vermengen sich in dieser Überzeugung Anklänge an den amerikanischen Frontier-Geist mit dem imperialistischen Gestus der Ingenieure von Peenemünde, die von der »Eroberung des Weltraums« träumten. Die bemannte Raumfahrt – deren wissenschaftliche Notwendigkeit unter Experten höchst umstritten ist, weil es im Weltraum keine Aufgaben gibt, die von Maschinen nicht kostengünstiger und auch zuverlässiger erfüllt werden können – präsentiert sich so als existentiell notwendige Bedingung. Und ihr Mythos als moderne Hybris.
So zumindest schien sich die Situation für Hannah Arendt darzustellen, als sie 1958 unter dem Eindruck des im Jahr zuvor gestarteten Sputniks die Befürchtung äußerte, dass mit dem vielbeschworenen space age eine historische Epoche eingeleitet sei, in der der Mensch Gefahr laufe, kraft der ihm zur Verfügung stehenden technischen Mittel seine vermeintliche Naturbindung zu verlieren: »Sollte das, was die Aufklärung für die Mündigkeitserklärung des Menschen ansah und was in der Tat eine Abkehr, zwar nicht von Gott überhaupt, aber von dem Gott bedeutete, der den Menschen ein Vater im Himmel war, schließlich bei einer Emanzipation des Menschengeschlechts von der Erde enden, die, soviel wir wissen, die Mutter alles Lebendigen ist?« Während für Arendt eine solche, ins Grenzenlose ausufernde Emanzipation nur als Entfremdung gedacht und gefürchtet werden konnte, konstatierte Günther Anders etwas mehr als zehn Jahre später eine gänzlich entgegengesetzte Bewegung. Die Raumfahrt orientiere sich infolge der Mondlandung wieder auf nähere Ziele, sie vollziehe einen »Rücksturz zur Erde«.
Spätestens mit den ikonographischen Fotografien »Earthrise« (1968) und »Blue Marble« (1972), die zu den meistreproduzierten der Geschichte zählen, schien sich ein Perspektivenwechsel zu vollziehen, wie ihn Anders in seinen 1970 erschienen »Reflexionen über Weltraumflüge« prognostiziert hatte: »Das entscheidende Ereignis der Raumflüge besteht nicht in der Erreichung der fernen Regionen des Weltalls oder des fernen Mondgeländes, sondern darin, dass die Erde zum ersten Mal die Chance hat, sich selbst zu sehen, sich selbst so zu begegnen, wie sich bisher nur der im Spiegel sich reflektierende Mensch hatte begegnen können.« Sollte sich der Griff nach den Sternen also nicht Ausdruck der von Arendt befürchteten menschlichen Hybris, sondern als Auslöser einer zeitgemäßen Reflexion über die Natur des Menschen erweisen?
Zumindest den beiden berühmten Bildern des blauen Planeten wird ein nicht unbeträchtlicher Einfluss auf die Herausbildung eines globalen Umweltbewusstseins seit den siebziger Jahren zugeschrieben. Und in gewisser Weise scheint auch das Prestigeprojekt der zeitgenössischen Raumfahrt, die International Space Station (ISS), eher Spiegelbild irdischer Verhältnisse als Sprungbrett ins Weltall zu sein. Für die Vordenker der Raumfahrt sollten Raumstationen von jeher genau diese Funktion erfüllen und ein Hauch solchen Bestrebens wehte noch durch das Post-Apollo-Programm der Nasa, in dem, nach der Einstellung der Mondflüge, neben dem Spaceshuttle auch eine Raumstation als nächste Ziele der bemannten Raumfahrt genannt wurden. 1984 bekräftigte Präsident Ronald Reagan die Absicht, innerhalb von zehn Jahren eine funktionstüchtige Raumstation im erdnahen Orbit zu errichten, der er den symbolträchtigen Namen »Freedom« gab. Wie alle zu Zeiten des Kalten Krieges unternommenen Weltraumprojekte, zielte auch der Bau der Raumstation, an dem sich neben den Vereinigten Staaten die westeuropäischen Verbündeten, Kanada und Japan beteiligten, darauf, die Überlegenheit der »freien Welt« gegenüber dem Systemrivalen Sowjetunion zu beweisen. Tatsächlich wäre die ISS ohne die Unterstützung und das Know-how Russlands, das nach dem Ende des Kalten Kriegs schließlich in das Projekt einbezogen wurde, wohl niemals zustande gekommen. Doch während Russland weiterhin mit im Boot transglobaler Geopolitik sitzt, verweigern die Vereinigten Staaten der aufstrebenden Welt(raum)macht China weiterhin jedwede Beteiligung an der ISS. Dafür betreibt China seit 2011 seine eigene Raumstation.
Nicht nur in politischer Hinsicht scheint der menschliche Griff nach den Sternen also eher Spiegelbild irdischer Rivalitäten und Geltungsansprüche zu sein als Vorwegnahme einer im Kosmos zu Harmonie und Einheit gelangten Menschheit. Hannah Arendts Befürchtung, dass der Mensch durch den Aufbruch ins Weltall seine irdische Natur verliere, erweist sich weiterhin als unbegründet. Von Ausflügen und Ansiedlungen im fernen Weltraum, die in den fünfziger und sechziger Jahren bereits zum Greifen nahe schienen, ist die Raumfahrt trotz des immer wieder hochkochenden Mars-Hypes und der schlagzeilenträchtigen Suche nach sogenannten Exo-Planeten derzeit weit entfernt; Boldens Nasa ist nach der Außerdienststellung der Spaceshuttles 2011 nicht einmal in der Lage, Menschen zur ISS und zurück zu befördern.
Und was dringt schon von dort zur Erde herunter? In Mobil, dem Reisemagazin der Deutschen Bahn, darf Alexander Gerst, jüngster deutscher Astronaut, der sich 2014 für ein gutes halbes Jahr auf der ISS aufhielt, eine Auswahl seiner eindrucksvollsten Bilder der Erde präsentieren. Ein David Bowie intonierender kanadischer Astronaut avancierte kürzlich zum Popstar: »Planet Earth is blue/And there’s nothing I can do«. Über den wissenschaftlichen Nutzen der ISS, die mit ihren geschätzten Kosten von etwa 100 Milliarden Euro als das teuerste zivile Projekt aller Zeiten gilt, streiten die Experten hingegen bis heute. Sicher scheint, dass das Unternehmen bemannte Raumfahrt mit rationalen und ökonomischen Gründen ­allein kaum erklärt werden kann. »Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist vor allem die Wirkung eines wahnwitzigen Überschwangs«, hatte Georges Bataille in seiner Theorie der Verschwendung behauptet, in der er einen zentralen, wenn auch – in Zeiten moderner und gleichsam naturalisierter Nützlichkeitserwägungen – schwer vorstellbaren Antrieb menschlichen Handelns zu erkennen glaubte.
Ist der menschliche Griff nach den Sternen also nicht mehr (und nicht weniger) als die Verlängerung dieses wahnwitzigen Überschwangs in den Weltraum? Tatsächlich stellt die bemannte Raumfahrt nicht nur den Gipfel moderner Rationalität und Technik dar, sie ist auch ein zutiefst mythisches Phänomen. Als solches konfrontiert es den Menschen des 21. Jahrhunderts mit seiner scheinbar »vormodernen«, im Sinne Hannah Arendts hinter die Aufklärung zurückfallenden Natur. Auch Arendt würde nicht bestritten haben, dass die Aufhebung der vermeintlichen Entfremdung, die durch die Technik in die Welt gekommen ist, und die Versöhnung von modernem Menschen und mythischer Natur nicht hinter die Technikmächtigkeit zurückführt, sondern durch sie hindurch. Allerdings ist der Weg dorthin weder vorgezeichnet noch festgelegt: »Reaktionäre Modernität«, die den technischen Fortschritt vorbehaltlos bejaht, mit ihm für gewöhnlich einhergehende soziale und kulturelle Differenzierungs- und Emanzipierungsprozesse jedoch ablehnt, beflügelte bereits die Ingenieure von Peenemünde. So muss offen bleiben, was der Mensch im Weltraum sucht und finden wird. Sich selbst und eine Natur, die genauso modern wie vormodern, genauso berechenbar wie unbegreiflich ist? Oder unendliche Weiten, deren Erforschung und Eroberung nicht nur sein Überleben sichern, sondern auch seine »göttlichen« Potentiale hervorbringen werden? Ob als Ritual der Verschwendung oder als phantastische Ermächtigung: Der Mythos lebt.