Nach den arabischen Revolten

Konterrevolutionäre in der Krise

Vor fünf Jahren begannen die Revolten in Tunesien. Schnell weiteten sie sich in 17 Länder aus und führten zu Umbrüchen in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten. Der sogenannte arabische Frühling hat seitdem die gesamte Region verändert.

Es könnte eine der letzten größeren Zahlungen aus den Kassen der königlichen Konterrevolution gewesen sein. Darlehen in Höhe von 200 Millionen Dollar gewährte Saudi-Arabien vergangene Woche Ägypten, bestimmt zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen in dem von Arbeitslosigkeit und Massenarmut gebeutelten Postrevolutionsstaat. Kurz zuvor hatte die Wahhabiten-Diktatur in Aussicht gestellt, dem klammen Präsidenten Abd al-Fattah al-Sisi auch in den kommenden drei Monaten noch einmal finanziell aus der Patsche zu helfen: 1,2 Milliarden Dollar würden für Öleinkäufe zur Verfügung gestellt, hieß es aus dem Königshaus, 1,5 Milliarden zum Ausbau der maroden Infrastruktur auf der Sinai-Halbinsel.
Dass das Geld ausgerechnet kurz vor dem Jahrestag der Revolution gegen Ägyptens Langzeitherrscher Hosni Mubarak fließt, ist kein Zufall. Eine neue Welle des Protests in Ägypten, die auch auf die eigene Bevölkerung ansteckend wirken könnte, will die nervöse Führung um König Salman mit allen Mitteln verhindern. Dafür scheut dessen Entourage um seinen erst 30 Jahre alten Sohn, den stellvertretenden Kronprinzen Mohammed, keine Kosten – trotz des fast 100 Milliarden Dollar großen Haushaltslochs, trotz des kostspieligen Kriegs im Jemen. Das ägyptische Regime muss unbedingt an der Macht gehalten werden, lautet die Devise eine halbe Dekade nach dem Sturz Mubaraks, der Sisi noch kurz vor dem Umbruch zum Militärgeheimdienstchef befördert hatte.

Damit bleiben König Salman und sein Sohn Mohammed der Linie treu, die die Führungsmacht des Golf-Kooperationsrats (GCC) seit Beginn der arabischen Revolutionen 2011 verfolgt: Mit sozialen Wohltaten und Gehaltserhöhungen stellte der vor einem Jahr verstorbene König Abdullah die Bewohner des eigenen Wüstenreichs seitdem ruhig; in der Region setzte er auf finanzielle Unterstützung der etablierten autoritären Regime sowie konterrevolutionärer Kräfte dort, wo es den Aufständischen gelungen war, das alte Establishment von den Schalthebeln der Macht zu vertreiben. Diese Marschrichtung gilt zumindest so lange weiter, bis der dauerhaft niedrige Ölpreis ein Ende der saudischen Scheckbuchdiplomatie erzwingt.
Ägypten als bevölkerungsreichstem Land der arabischen Welt kam bei der Umsetzung dieser Strategie von Anfang an eine Schlüsselrolle zu. Das tiefe Misstrauen etwa, das mittlerweile die Beziehungen zwischen den langjährigen Verbündeten Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten prägt, lässt sich darauf zurückführen, dass Prä­sident Barack Obama im Februar 2011 Mubarak gegen den Rat Abdullahs die Unterstützung versagte – so wie wenige Wochen zuvor dem tunesischen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali.
Das Aus für den vom Westen hofierten Autokraten in Tunis war der fallende Dominostein, der die Aufstände gegen die ancien régimes in Ägypten, Bahrein, Jemen, Libyen und Syrien ins Rollen brachte. In insgesamt 18 arabischen Staaten kam es bis Februar 2012 zu Protesten; neben den Rücktritten Ben Alis und Mubaraks erreichten die Demonstranten den Sturz von Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi sowie den – wenn auch schleichenden – Machtverzicht von Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh.
Dass der anfangs so vielversprechende nationale Dialog in Sanaa bis vor drei Jahren als Erfolgsmodell für die Beendigung der Kriege in Libyen und Syrien gepriesen werden konnte, ist heute kaum noch vorstellbar. Die neue Verfassung sah eine gerechtere Machtverteilung zwischen den Separatisten im Süden, Houthis und anderen Bevölkerungsgruppen vor; im Konsens, nicht in der Konfrontation, schien bis 2013 eine friedliche Konfliktlösung möglich. Inzwischen aber ist das ärmste Land der arabischen Welt zum Schlachtfeld im Stellvertreterkrieg zwischen der sunnitischen Führungsmacht Saudi-Arabien und dem Iran herabgesunken, ein Ende von humanitärer Krise und Luftangriffen steht nicht zu erwarten.

Noch weiter zurück liegen die »Tage des Zorns« auf dem Tahrir-Platz, unter dem Uhrenturm von Homs und vor dem lokalen Hauptquartier von Gaddafis Revolutionskomitee in Bengasi Anfang 2011. Von einem auf den anderen Tag weggefegt schien seinerzeit die Angst, auf der die Scheinstabilität der postkolonialen Diktaturen Nordafrikas, der Levante und der Arabischen Halbinsel gefußt hatte. Vom Westen in augenzwinkender Kumpanei geduldet und gefördert, war es den Repressionsregimen mit Hilfe ihrer Geheimdienstapparate, den Horden prügelnder Polizisten und einer die Verhältnisse zementierenden Gesinnungsjustiz gelungen, Millionen Menschen von Marakesch bis Manama, vom Atlantik bis zum Persischen Golf, über Jahrzehnte zu schweigender Passivität zu vergattern.
Dass damit 2011 für einen historischen Augenblick Schluss war, macht den Kern des arabischen Aufbegehrens aus. Diese Erfahrung lässt sich der Revolutionsgeneration nicht mehr nehmen, ungeachtet der restaurativen Tendenzen, die unmittelbar nach den Umstürzen in Tunesien und Ägypten einsetzten – und die fünf Jahre später die Verhältnisse in weiten Teilen der arabischen Welt prägen.
Denn die Hoffnung der Aufständischen, dass mit dem Sturz der Despoten auch eine umfassende Umwälzung der politischen Systeme in ihren Ländern eingeleitet würde, erfüllte sich nicht. Allenfalls in Tunesien hat die Kompromissbereitschaft islamistischer wie liberaler Politiker dazu geführt, dass Machtausübung nicht mehr allein als Blankoscheck betrachtet wird, mit dem die Wahlgewinner alles für sich beanspruchen und den Verlierern nichts zugestehen. In Ägypten folgten diesem Prinzip die Muslimbrüder unter dem ersten frei gewählten, inzwischen zum Tode verurteilten Präsidenten Mohammed Mursi ebenso wie der nach nur einem Jahr islamistischer Herrschaft 2013 per Putsch an die Macht ­gelangte Feldmarschall Sisi. Weder Katar und die Türkei, die Mursi mit Milliardenüberweisungen das wirtschaftliche Überleben sichern wollten, noch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuweit, die Sisi seit dem Staatsstreich vor 30 Monaten vor dem Bankrott bewahren, treten für pluralistische Gesellschaftsmodelle im Sinne der Revolutionäre der ersten Stunde ein.
In den Kriegsgebieten Libyens, Jemens und Syriens scheint für mindestens eine Generation der Traum von einer transparenteren Ordnung geplatzt, in der die Machthaber für ihre Untaten zur Rechenschaft gezogen werden und breite Bevölkerungsschichten Teilhabe am politischen Leben genießen. Hunderte bewaffnete Milizen stehen sich hier heute gegenüber, die einzige Ressource, an der kein Mangel herrscht, sind Waffen. Die mörderische Fragmentierung der bereits vor der Revolution dysfunktionalen, nun aber fast gänzlich aufgelösten Staatsstrukturen lässt sich bis auf weiteres nicht aufhalten. Zu stark sind die Fliehkräfte, die die sich ethnisch oder konfessionell gerierenden Clanchefs entfesselt haben, um die Kriege zu beenden. Das Scheitern weiterer Sondergesandter der Vereinten Nationen scheint für Jahre programmiert.

Das gilt in gleicher Weise für den Irak, wo noch Anfang 2013 eine friedliche Protestbewegung mit zwei Jahren Verspätung gegen Intransparenz, mangelnde Partizipationsmöglichkeiten und Korruption auf die Straßen zog. Doch wie in Syrien, wo zunächst eine überkonfessionelle Bewegung für Reformen warb – und nicht für den Sturz Bashar al-Assads –, ist der alte Ba’ath-Staat auch in Bagdad, Basra und Baiji Geschichte. Die Frage ist nur, in welchem Verhältnis die mehrheitlich von Schiiten bewohnten Südprovinzen, die autonomen Kurdengebiete im Norden und der weiterhin weitgehend vom »Islamischen Staat« (IS) kontrollierte, überwiegend sunnitische West­irak künftig zueinander stehen werden. Das vom selbst ernannten Kalifen der Terrorgruppe, Abu Bakr al-Baghdadi, nach der Einnahme Mossuls im Juni 2014 ausgerufene Ende der Kolonialgrenzen jedenfalls ist so nahe nicht. Angesichts der Furcht des Westens vor weiterem Staatszerfall dürften den 1916 im Sykes-Picot-Geheimabkommen von Frankreich und Großbritannien gezogenen Grenzen noch einige Lebensjahre beschieden sein.

Das erklärt auch den weitgehend ungebrochenen Rückhalt, den die autoritären Regime des Golf-Kooperationsrats in Washington, London, Paris, Brüssel und Berlin fünf Jahre nach den arabischen Aufständen genießen. Kritik an der Menschenrechtslage in Saudi-Arabien, wie sie nach der Hinrichtung des schiitischen Predigers Nimr al-Nimr und 46 sunnitischen mutmaßlichen Terroristen zu Jahresbeginn aufkam, hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. An der strategischen Schlüsselstellung, die die westlichen Verbündeten der al-Saud-Diktatur im Kampf ­gegen den IS beimessen, ändert das jedoch nichts: Ohne die Unterstützung aus Saudi-Arabien, so das Kalkül, wäre Sisis Sicherheitsstaat längst gekippt. Und um eine Massenflucht Millionen verarmter Ägypter über das Mittelmeer zu verhindern, werden europäische Politiker nach dem gerade zu Ende gegangenen Rekordeinwanderungsjahr auch 2016 über Leichen gehen.
Den saudischen König Salman und seinen Sohn aber, den mächtigen Vizekronprinzen Mohammed, treiben andere Sorgen um: Anschläge des IS im eigenen Land sowie ein weiteres Erstarken des Iran. Da bereits die arabischen Hauptstädte Beirut, Bagdad und Damaskus von Verbündeten des Iran kontrolliert werden, setzt das saudische Königshaus in Riad alles daran, wenigstens Sanaa zurückzugewinnen.
Den Preis für den desaströsen Feldzug im saudischen Hinterhof Jemen könnte schon bald der Diktator in Kairo zahlen. Schließlich hat sich an der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit, die zum Aufstand auf dem Tahrir-Platz führten, seit dessen Machtergreifung vor zweieinhalb Jahren nichts geändert. Und das, obwohl sich die saudischen Darlehen, Kredite und Einlagen bei der Zentralbank inzwischen auf mehr als 30 Milliarden Dollar belaufen, seit das Königshaus im Sommer 2013 der ägyp­tischen Konterrevolution bei der Absetzung des Muslimbruders Mursi zum Erfolg verhalf – zumindest vorerst. Denn angesichts des dauerhaft niedrigen Preises für Erdöl könnte mit der Unterstützung Sisis durch das saudische Königshaus bald Schluss sein.