Der türkische Film »Mustang« erzählt von Ausbruchsversuchen junger Frauen

Da waren’s nur noch zwei

Deniz Gamze Ergüvens Spielfilm »Mustang« erzählt von fünf Schwestern, die in einem türkischen Küstendorf in der Obhut von Großmutter und Onkel aufwachsen – und von ihren Ausbruchsversuchen.

Am letzten Tag vor den Sommerferien – die Sonne brennt, die Stimmung ist ausgelassen – begehen Lale und ihre vier Schwestern den Fehler, nach der Schule nicht direkt nach Hause zu ihrer Großmutter und ihrem Onkel zu gehen. Stattdessen gehen sie hinunter zum Strand und tollen mit ihren männlichen Mitschülern herum. Ein harmloses Spiel, das den Teenagern jedoch zum Verhängnis wird, als eine Nachbarin der Großmutter von den Vergnügungen der Mädchen berichtet. Was sich fortan in dem verschlafenen türkischen Küstendorf zuträgt, hat die schrittweise Vernichtung allen Amüsements zum Ziel.
Das osmanische Herrenhaus mit den hohen dunkelbraunen Fenstern wird zum Gefängnis umfunktioniert. Die Jungfräulichkeit der fünf Schwestern wird ärztlich attestiert, moralisch verdächtige Objekte wie Kaugummis, Telefone und Computer werden weggesperrt, während verschiedene weibliche Verwandte und Bekannte Gefallen daran finden, aus den Mädchen gute Hausfrauen zu machen. Gefangen in unförmigen braunen Uniformen und einem Umfeld, in dem es um mehligen Teig, prallgefüllte Weinblätter und die zukünftige Mitgift geht, rebellieren die Mädchen auf je eigene Weise. Doch jeder Versuch, der häuslichen Zuchtanstalt zu entkommen, zieht eine folgenschwere Reaktion der familiären Autoritäten nach sich. Die Großmutter beschließt zuletzt: Die Heiratsfähigen sollen so schnell wie möglich in arrangierte Ehen abgeschoben werden. Bis Lale, die jüngste Schwester, allein übrigzubleiben droht und alles in Bewegung setzt, um nach Istanbul zu fliehen.
Die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven macht mit ihrem ausgesprochen schönen, wenngleich erzählerisch konventionellen Drama auf die Realität junger Frauen aufmerksam, die unter dem Druck einer patriarchalen, jeglichen emanzipatorischen Bemühungen trotzenden Gesellschaft aufwachsen. Die in Ankara geborene und in Frankreich lebende Regisseurin wirft damit einen sehr europäischen Blick auf die Türkei. Obwohl ihre Protagonistinnen alle starke, unbändige Mädchen verkörpern, bleibt der fade Nachgeschmack einer problematischen Verschränkung von Repression, Region, Religion und Geschlecht. Istanbul dient dabei als Chiffre für die Freiheit schlechthin, während das Dorf als Hort der Rückständigkeit dämonisiert wird.
Zugleich eröffnet der Film eine interessante politische Metapher. Die Figur des Onkels personifiziert das Patriarchat in Reinform: eine dominante Männlichkeit, die alles lustvoll Weibliche zugleich begehrt und vernichtet. Ergüven macht es den Zuschauern einfach, diesen Mann zu verteufeln. Doch ist er nicht auch die Verkörperung gegenwärtiger türkischer Politik? Entspricht er nicht ­einem Recep Tayip Erdoğan, der Bürger demütigt, gegeneinander aufhetzt, keine Kritik duldet und sich zum Übervater einer Nation aufschwingt, die in seinen Augen unmündig ist? In einer Szene sitzen die letzten drei ledigen Schwestern mit dem Onkel und der Großmutter am Esstisch. Der Verlust der älteren Schwestern und die nahende Verheiratung der nächsten verleihen der Grundstimmung einen Anspannung, die durch einen Moment ungehaltenen Lachens gebrochen wird. Im Film unterbindet der Onkel das Lachen – so wie der stellvertretende Ministerpräsident der Türkei, Bülent Arınç, im Juli 2014 forderte, Frauen das Lachen in der Öffentlichkeit zu verbieten, da es moralisch verwerflich sei. Und wenn die Schuluniform durch die Kochschürze ersetzt wird, lässt das mitunter an Erdoğans erst kürzlich veranlasste Hetzkampagne gegen Wissenschaftler denken, die einen Aufruf gegen Gewalt in den vorwiegend von Kurden bewohnten Regionen unterzeichneten.
Insofern spiegelt »Mustang« eine Gesellschaft wider, die an Despoten zu ersticken droht und Mechanismen entwickelt hat, um mit diesen Einschränkungen umzugehen: Sei es durch Selbstzensur, Aneignung der auferlegten Konventionen, Resignation, Subversion oder Konfrontation.
Ergüven, die an der renommierten Filmhochschule La Fémis in Paris studiert hat, inszeniert ihre Protagonistinnen, die größtenteils zum ersten Mal vor der Kamera stehen, als begehrend und begehrenswert. Der Film lebt vom Charme einer verspielten, sinnlichen und heftigen Weiblichkeit, wie sie schon lange nicht mehr im Kino zu sehen war und die zuweilen etwas überholt zu sein scheint. Immer wieder liegen die Schwestern – den puritanischen Auflagen trotzend – leicht bekleidet und kichernd auf einem Meer aus Kissen und Decken, ihre Körper ineinander verschlungen, während die Sonnenstrahlen sie durch die Gitter der hohen Fenster beleuchten.
Nun könnte man dem Film diese sehr konstruierten Bilder vorwerfen, doch sorgen sie gerade durch ihre Künstlichkeit für eine verklärende Distanz, die die Narration ins Märchenhafte zieht und das Gegengewicht zu den bitteren und tragischen Momenten bildet. Der Blick auf die Mädchen ist lust- und respektvoll zugleich, sie bleiben immer auch Subjekte der Handlung. Die lichtdurchfluteten Einstellungen von Kameramann David Chizallet wirken als Stimmungsbarometer und verleihen auch dem Haus einen eigenen Charakter. Dieses Spiel von hell und dunkel wird durch die Musik von Warren Ellis, der ansonsten unter anderem mit Nick Cave and the Bad Seeds auf der Bühne steht, konzentriert.
Trotz der ausgesprochen dunklen Passagen ihrer Coming-of-Age-Geschichte, lassen sich immer wieder auch hoffnungsvolle Momente finden. Mithilfe eines Humors, der zwischen subtil und grotesk oszilliert – und das sind die wirklich interes­santen Szenen von »Mustang« –, versucht Ergüven auch ein Dilemma innerhalb der Gesellschaft aufzuzeigen: Frauen, die sich gegenseitig helfen und zugleich rückständige Traditionen reproduzieren. Sie wirken einerseits als Verbündete gegen die und zugleich als Komplizen der patriarchalen Traditionsbesessenheit. Veranschaulicht wird das besonders in der detailliert durchgetakteten Zurschaustellung der jungen Mädchen vor den Familien ihrer zukünftigen Bräutigame. Die Szene lebt von der subversiven Kraft der Schwestern und der absurden, bittersüßen Situationskomik. Der Intensität des Films zum Trotz wünscht man sich von Ergüven mehr von diesen erzählerischen Zwischentönen.
Aufgrund der schwesterlichen Konstellation erinnert »Mustang« an Filme wie »The Glass House« (2001) von Daniel Sackheim oder »Dogtooth« (2009) von Giorgos Lanthimos; inhaltlich sind Parallelen zu Sofia Coppolas Verfilmung des Romans »Virgin Suicides« (1999) von Jeffrey Eugenides zu finden. Während in Coppolas Film jedoch aus der männlichen Perspektive erzählt wird, nimmt »Mustang« den Blickwinkel der jüngsten Schwester Lale ein. Die Folgerung, nordamerikanische Frauen als Opfer männlicher Vorherrschaft zu sehen, wird in Coppolas Film kaum suggeriert, wohin­gegen »Mustang« diese Art der Verallgemeinerung für die türkischen Verhältnisse durchaus zulässt. Das ist wohl die Schwäche von Ergüven: Sie verleiht ihren Figuren zwar eine unheimliche Vitalität, nimmt der Story aber gleichsam jene Nuancen, die für mehr intellektuelle Spannung gesorgt hätten. Denn ein Bruch mit Konventionen innerhalb der Dramaturgie hätte durchaus der Grundaussage des Films entsprochen.
Der französisch koproduzierte Film wurde auf den 68. Filmfestspielen von Cannes in der Reihe »Qinzaine des réalisateurs« uraufgeführt und ist in neun Kategorien für den französischen Filmpreis César nominiert. Bleibt offen, wie die Academy »Mustang« bewertet, der bei der Oscar-Verleihung für Frankreich als bester ausländischer Film antritt. Vielsagend ist übrigens auch, dass Deniz Gamze Ergüven somit die einzige Spielfilmregisseurin unter den Nominierten ist.

Mustang. Frankreich, Deutschland, Türkei, Katar 2015. Regie: Deniz Gamze Ergüven. Darsteller: Güneş Nezihe Şensoy, Doğa Zeynep Doğuşlu, Elit İşcan, Tuğba Sungur­oğlu und andere. Filmstart: 25. Februar.