Das Konzeptalbum »Brute« der Musikerin Fatima Al Qadiri

Musik und Macht

Die aus Kuwait stammende Musikerin und Künstlerin Fatima Al Qadiri lebt mittlerweile in Berlin. Nun legt sie mit »Brute« ein Konzeptalbum über Polizeigewalt und Versammlungsfreiheit vor.

New York, Montag, 26. September 2011. Der MSNBC-Moderator Lawrence O’Donnell schaut mit ernster Miene in die Kamera: »Am Wochenende haben ein paar Störenfriede einen friedlichen Protest gegen die Gier der Wall Street in einen Ausbruch des Chaos verwandelt. Sie trugen Pfefferspray, Waffen und Abzeichen.« Die folgenden Bilder zeigen, wie Beamte des NYPD eine kleine Gruppe von Demonstranten in eine Seitenstraße abdrängen und nacheinander zu Boden ringen. Verglichen mit dem, was sich kurze Zeit später in der US-amerikanischen Kleinstadt Ferguson ereignen wird, mögen die Aktionen der Ordnungshüter geradezu harmlos erscheinen – den Eindruck unangemessenen Handelns, von polizeilicher Willkür, bestärken sie dennoch.
Mit »Brute« legt die Produzentin Fatima Al Qadiri nun ein Album vor, das Wut und Verzweifelung in den Mittelpunkt stellt. »Wut treibt dich hinaus auf die Straße, Verzweiflung bringt dich wieder hinein«, erklärt sie. Die Stimmung der Bewohner der westlichen Welt will sie mit ihrem Werk eingefangen haben. Sound-Samples wie jenes von Lawrence O’Donnell sind die akustischen Eckpfeiler. Doch die Perspektive der Kuwaiterin Al Qadiri ist vor allem die einer desillusionierten Außenseiterin.
Zum Gespräch bittet sie kurzfristig in ein Café in Berlin-Mitte. Draußen Baustellenlärm, drinnen Al Qadiri unter Strom. Sie wohnt ums Eck. Bis morgen will sie eine kurzfristig angenommene Auftragsarbeit fertigstellen. Dennoch nimmt sie sich mehr als eine Stunde Zeit. Mit ihren Fingern illustrierend, zieht sie dabei Begriffe wie »Wort« oder »Geruch« aus Mund und Nase. Mehrfach langt sie während des Interviews über den kleinen Tisch, um die Schulter des Gegenübers anzutippen, und lacht am Ende ihrer Sätze herzlich, etwa nach diesem: »Die Menschheit ist wie ein bösartiger Virus auf dem Planeten. Wir können einfach nicht aufhören.«
Dass sie so gutgelaunt ist, liegt auch daran, dass sie am Vortag ihr drei Jahre gültiges Künstler-Visum erhalten hat. Es waren eher private Überlegungen als künstlerische oder wirtschaftliche, die sie nach Berlin kommen ließen, sagt sie. »Um ehrlich zu sein: Auch wenn Kultur und Leben mehr und mehr aus dem Zentrum verdrängt werden, weil große Firmen ihr Geld in innerstädtischen Immobilien parken – im Herzen bin ich New Yorkerin. Mit Unterbrechungen habe ich dort mehr als zehn Jahre gelebt.«
Fatima Al Qadiri wurde 1981 geboren. Als Kind erlebte sie die irakische Invasion Kuwaits und den folgenden Golfkrieg. Etwas mehr als ein Jahr später hielt sie das Videospiel »Desert Strike« in den Händen, eine glorifizierende, actionlastige »Aufarbeitung« der Ereignisse durch die US-Spielefirma Electronic Arts. Aus dieser surrealen Erfahrung machte sie 20 Jahre später, mittlerweile in den USA lebend, ihre dritte EP, »Desert Strike«.
Auf ihrem ersten Tonträger hatte sie, zu dem Zeitpunkt noch unter dem Namen Ayshay, was im Arabischen soviel wie »was soll’s« oder »was auch immer« bedeutet, die A-Capella-Traditionen muslimischen Gesangs elektronisch verfremdet. In »Muslim Trance« beispielsweise unterlegte sie im Internet gefundene sunnitische und schiitische Gesänge mit Drum-Beats.
Al Qadiri arbeitet stets konzeptionell. Ihr Debütalbum »Asiatisch«, 2014 auf Hyperdub erschienen, dem Label des Produzenten Steve Goodman alias Kode9, war der chinesischen Kultur(kopier)technik des Shanzai sowie der Wahrnehmung Asiens im Westen gewidmet (Jungle World 24/2014). Da wird ein Mandarin-Cover von Sinéad O’Connors »Nothing Compares 2 U« neben geisterhaft dröhnende Sci-Fi-Beats gelegt. »Alle meine Arbeiten entspringen persönlichen Erfahrungen«, meint die auch als bildende Künstlerin und Journalistin arbeitende Al Qadiri. »Sie bilden zusammen mit Interpretationen, dem Spiel mit Genres und Geschichte mein Fundament.« Als Vorbild dienen ihr etwa klassische russische Komponisten wie Prokofjew und Rachmaninow, aber auch ihre Mutter, eine professionelle Geschichtenerzählerin.
Die prägende Erfahrung für »Brute« ereignete sich im Jahre 2000. »Mit 17 Jahren kam ich das erste Mal in die USA«, erinnert sich Al Qadiri. »Im Frühjahr meines ersten College-Jahres, fanden in Washington große Proteste gegen den IWF und die Weltbank statt. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich so viele Polizisten gesehen. Zu Fuß, zu Pferd, auf Motor­­rädern, in Autos und Hubschraubern. Als hätten sie sich einfach aus dem Beton heraus materialisiert, um nun ganz Nordwest-DC abzuriegeln.«
Al Qadiri erlebt die hermetische Abriegelung eines ganzen Stadtgebietes. Und sie sieht zum ersten Mal in ihrem Leben Tränengas und Wasserwerfer im Einsatz. »Meine Illusionen über westliche Demokratien und Freiheitsrechte lösten sich damals in Nichts auf.« Der Unterschied zwischen Kuwait und den USA schien zu verschwimmen, die Beklemmung kehrte zurück.
Nochmals drei Jahre später ist Al Qadiri auf dem New Yorker Times Square. Man demonstriert friedlich gegen die Invasion im Irak. Die Sicherheitskräfte schienen die Lage jedoch anders zu bewerten. »Ich sehe noch immer diese lange Front aus Polizisten vor mir. Alle in einer Linie aufgereiht und in voller Montur. Sie begannen auf den Boden zu stampfen und bedrohliche Laute von sich zu geben. Wieder einmal dachte ich, ich wäre in einem schlechten Film«, sagt Al Qadiri. Zwei Dinge habe sie damals gelernt: »Erstens: Es ist nicht in Ordnung, den Kapitalismus bei seiner Arbeit zu unterbrechen. Zweitens: Man sollte die Regierungspolitik nicht in Frage stellen, sei es in Kriegsfragen, sei es in Fragen von Rasse oder Wirtschaft.«
Auf »Brute« baut sich dieses Bedrohungsszenario am mächtigsten in den schief flatulierenden Fanfaren von »10-34« auf. Das Lied bricht an keiner Stelle los, doch die Stimmung birst vor Vorahnung – wie gemacht für Roland Emmerich. 10-34 ist in den USA der gebräuchlichste Polizei-Funkcode im Falle eines Aufruhrs, der Riot-Code. Interessanterweise, der Künstlerin allerdings unbekannt, heißt es im Matthäusevangelium, 10:34: »Meint nicht, dass ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« Das passt wie der Schlagstock aufs Auge. Andere Titel des Albums lauten »Endzone« und »Curfew«.
»Die Anwendung von Macht kann bewirken, dass man seine Empathie für andere verliert. Die Musik sollte genau danach klingen«, sagt Al Qadiri. Sie will mit ihrer Arbeit anregen, über Versammlungsfreiheit und Polizeireformen zu diskutieren: »Es muss Bildungsarbeit geleistet und es müssen Untersuchungen angestellt werden. Ich habe den Eindruck, dass Sadisten sich ganz bewusst bei der Polizei bewerben.« Dabei geht es nicht nur um Gewalt gegen Schwarze und Minderheiten, sondern gegen alle.
Entstanden ist »Brute« während einer gesundheitlich bedingten Pause der Künstlerin Anfang des vergangenen Jahres. Damals hütete sie nach einer Knieoperation das Bett, verpasste die erste Tour ihres Projekts »Future Brown«. Für dieses hatte sie mit den Kollegen Asma Maroof, Daniel Pineda (beide von Nguzunguzu) und J-Cush sowie zahlreichen weiteren Musikern aus unterschiedlichen Ländern ein Album mit scharfkantiger Clubmusik aufgenommen. So aber lag Al Qadiri in Kuwait, verfolgte die Ausschreitungen in Baltimore in den sozialen Medien und spielte wieder ihre alten SEGA-Videospiele: »Als Kind hatte ich mit neun Jahren damit angefangen, weil ich weder über meinen Kopf, noch über meinen Körper die Kontrolle besaß. Aber in den Spielen war ich Gott.«
Sie wurde süchtig nach dieser Kontrolle, die sie abseits der strengregulierten kuwaitischen Gesellschaft in den fiktiven Pixelwelten ausüben konnte. Als Jugendliche assoziierte sie diese Phase dann vor allem mit Depressionen und ließ die Finger von den Spielen. Bis sie für anderthalb Monate an das Krankenbett gefesselt war.
Wohl auch deshalb liefert »Brute« wahrlich keine Aufputschmusik für den Lautsprecherwagen. Eher ist es ein schwerverdaulicher Brocken, der auf einen stürzt. Es ist der futuristisch anmutende Soundtrack zu Protestaktionen wie im April 2015 in Madrid. Damals antworteten Kritiker auf die Verabschiedung des spanischen Anti-Protest-Knebelgesetzes mit einer Hologramm-Demonstration vor dem Parlament. »Können Sie sich das vorstellen?« sagt Al Qadiri und schaut entgeistert. »Das ist wie in einem Science-Fiction-Film! Und wir reden hier immerhin von Spanien. Manchmal kann es einem so vorkommen, als seien sich der Nahe Osten und der Westen in Bezug auf die Versammlungsfreiheit gar nicht so unähnlich. Dabei ist doch das der entscheidende Punkt, Kriege einmal außen vor gelassen: Warum sollte man sonst in Europa sein, wenn es keine Versammlungsfreiheit gibt?«

Fatima Al Qadiri: Brute (Hyperdub/Cargo Records)