Das neue Album von Ánde Somby und Chris Watson

Der Juraprofessor mit dem Wolfspelz

Mit »Yoiking with the Winged Ones« führt Ánde Somby in Zusammenarbeit mit Chris Watson von Cabaret Voltaire in die Klangwelt einer alten europäischen Gesangstradition ein.

Vor allem hört man Weite. Wind, Entfernung, Natur, es zwitschern Vögel. Irgendwoher kommt eine Stimme, ein Jaulen. Das Jaulen ist zunächst noch eindeutig als Gesang zu deuten, entwickelt sich aber innerhalb einer Viertelstunde zu einem heiseren Bellen, kaum mehr menschlich, das immer wieder droht, sich in der Stille zu verlieren. »Es ist harte Arbeit«, erzählt Ánde Somby. »Wenn ich den Wolf yoike, gerate ich bald an meine körperlichen Grenzen. Dann kommt der Wolf zu mir und sagt: Relax, Mann! Aber ich will nicht entspannen und arbeite weiter daran, meiner Stimme Intensität zu verleihen.«
Gemeinsam mit dem Soundkünstler Chris Watson hat der Norweger Somby kürzlich ein Album veröffentlicht, das einfach als esoterisch wegsortiert worden wäre – wäre Chris Watson nicht Gründungsmitglied der legendären Post-Punk-Band Cabaret Voltaire, wäre das Label nicht die avancierte New-Wave-Bude Ash International – und wäre die Klangwelt, die Watson hier auf Platte bannt, nicht eine der eigentümlichsten und durch ihre intim wirkenden Field Recordings faszinierendsten seit langem.
Veröffentlichungen dieser Art, die dokumentieren, was entfernt von Rationalität und Vernunft musikalisch vor sich geht, schaffen es regelmäßig, auch im breiteren musikalischen Austausch wahrgenommen zu werden. Im vergangenen Jahr etwa wurden 40 Jahre alte Aufnahmen des britischen Künstlers David Toop veröffentlicht. Toops Mitschnitte schamanischer Riten der Yanomami aus Venezuela sorgten unter dem Titel »Lost Shadows. In Defence of the Soul« für einiges Aufsehen. Und konfrontierten den Hörer mit einer alten Frage: Inwieweit sollte man sich erlauben, der Sehnsucht nach Trance, Selbstvergessenheit und Phantasiereise nachzugeben? Während David Toop – der übrigens, ähnlich wie Watson, aus dem Umfeld des Post Punk kommt, er spielte bei The Flying Lizards – jedoch als Künstler im Mittelpunkt stand, nicht die eigentlichen Sänger und Tänzer, wird Ánde Somby als gleichberechtigter künstlerischer Partner wahrgenommen.
Wenn Somby nicht singt, wirkt er als schamanisch inspirierter Jura-professor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Arktischen Universität Tromsø. »›Yoiking with the Winged Ones‹ öffnet eine Tür«, sagt Somby. »Man kann die starke Tradition des Yoik durchaus künstlerisch erweitern.«
Ánde Somby kommt zum Interview geradewegs vom Set einer neuen Fernsehshow, in der norwegische Gesangssternchen eine Woche mit Yoik-Künstlern zusammenarbeiten – in Norwegen haben Yoiks den Status des Exotischen längst verloren. »Yoik muss manchmal demystifiziert und zugleich remystifiziert werden – wie alles, was lebt«, kommentiert er bedeutungsschwanger die Renaissance des Gesangs. Yoik ist der traditionelle Gesangsstil der Sami, der indigenen Bevölkerungsgruppe in den arktischen Regionen Europas. Als rentierzüchtende »Lappen« früher fester Bestandteil der Folklore der Volkskundemuseen, erstreckt sich der Siedlungsraum der samischen Bevölkerung von Norwegen, Schweden und Finnland bis über die russische Kola-Halbinsel – wenn auch überall als Minderheit, so besitzt sie doch in den skandinavischen Ländern einige Unabhängigkeit, die sich in samischen Parlamenten und einem länderübergreifenden Rat widerspiegelt.
Dass Yoik noch immer existiert, wertet Somby, der Experte für »indigenes Recht«, als Geschenk. Er sagt es auf seine Weise: »Yoiking ist ein Stonehenge ohne Steine. Musik und Religion sind oft eng verknüpft – als das römische Imperium und später das Christentum über Europa rollten und religiöse Traditionen auslöschten, löschten sie auch musikalische Traditionen aus. Der Yoik ist ein einsamer Überlebender, hoch im Norden.«
Ursprünglich war Yoik ein schamanischer Gesang, der den Sängern half, sich in Tiere hineinzuversetzen. Heute ist er zwar der rituellen Bedeutung enthoben, bleibt aber aus der Perspektive der Praktizierenden eine geheimnisvolle Kunst. »Jedes Tier hat ein Yoik. Im Schamanismus ist die Idee der Transformation erstaunlich: lebendige Wesen können nie sicher sein, wer sie sind. Das bringt uns dem Ziel etwas näher, wirklich alle Wesen zu respektieren. Ich kann nicht sicher sein, wer ich bin, wenn ich yoike – es ist für mich ein Mysterium. Und damit bin ich einverstanden.«
Es gibt viele solcher Momente im Gespräch mit Somby, in denen man eigentlich nicht akzeptieren will, was er gerade von sich gibt. Seine Gesänge schreibe er nicht selbst, sagt er, er erhalte sie als »Schubs von den Ahnen«: »Die Gesänge kommen zu mir wie ein Vogel, der auf meiner Schulter landet, und dann yoike ich und versuche herauszufinden: Passt du zu meiner Stimme, passt du zu meinem Rhythmus, meiner Seele? Wenn es passt, habe ich auch eine Verantwortung gegenüber dem Yoik – schließlich landete er auf mir. Ich weiß also nicht, wer diese Yoiks macht. Niemand weiß, wie es funktioniert.«
Somby heult also mal wie ein Wolf, dann summt er wie ein Moskito vor Watsons Field Recordings umher. Lässt man die erwartbaren, aber auch nicht grundfalschen seiner Botschaften (alle Lebewesen sollen Brüder und Schwestern sein, Atomkraft schlimm, Nationalstaat erst recht) beiseite, bleibt vor allem ein Wunsch, den Somby mit seinen Yoiks verwirklichen will: »Mein Traum wäre es, dass Minder- und Mehrheiten durch meine Musik inspiriert werden, etwas wilder zu singen. Lasst uns endlich wilder singen!« Für einen Professor der Rechtswissenschaften ein mindestens ungewöhnlicher Ansatz.
Ánde Somby feat. Chris Watson: Yoiking with the Winged Ones (Ash International).