Yosef Şimşek im Gespräch über Kindesmisshandlung

»Reden hilft«

Yosef Şimşek erfährt gemischte Reaktionen auf seinen offenen Umgang mit dem Thema Kindesmisshandlung.

Welche Reaktionen gibt es auf Ihr Buch?
Auf meiner Facebook-Seite habe ich viel positives Feedback bekommen. Bei meiner Lesung in Basel waren dann auch viele junge türkische Migranten, die es gut finden, dass ich so offen über Misshandlung gesprochen habe. Die Deutschen finden das sowieso richtig. Aber es gibt auch Stimmen aus meinem alten arabisch-türkischen Umfeld in Deutschland, die mich als »Nestbeschmutzer« bezeichnen, weil ich offen über die Tradition und das Elternhaus rede. Aber ich lasse mich davon nicht mehr einschüchtern.
Wie geht Ihre Familie damit um?
Ich wollte das Buch nicht hinter dem Rücken meiner Eltern veröffentlichen. Mein Vater ist Analphabet und kann es nicht lesen. Also habe ich ihm vorher gesagt, worüber ich geschrieben habe, und er hat geantwortet: »Du bist jetzt ein erwachsener Mann und entscheidest selbst.«
Meine Mutter stand von Anfang hinter dem Buch, aber meine Geschwister finden, dass es zu persönlich geworden ist. Meine kleine Schwester ist zugleich aber auch stolz auf mich. Sie glaubt, dass ich jetzt berühmt bin. Auch mein Vater ist wohl ein bisschen stolz. Als Journalisten vom Stern zu uns nach Iskenderun kamen, um mich zu interviewen, hat er sie toll empfangen.
Ist das noch derselbe Mensch, der Sie bedroht und misshandelt hat?
Mein Vater ist alt geworden, er ist jetzt 63 Jahre und diabeteskrank. Er ist für mich nicht mehr das Riesenmonster, auch wenn er immer noch der stolze türkische Araber ist. Aber die Gewalttätigkeit ist weg und dieser harte grimmige Gesichts­ausdruck, der mir früher so viel Angst gemacht hat.
Wie leben Sie heute?
Ich wohne zusammen mit meinem jüngsten Bruder bei den Eltern und bin derjenige, der meinen Vater und meine Mutter pflegt. Ich bin es, der die Einkäufe macht, zum Basar geht, die Rechnungen bezahlt. Vielleicht hat mein Vater eingesehen, dass ich immer an seiner Seite war, und er braucht mich heute auch.
Sie haben das Buch Ihrer Mutter gewidmet. Wie ist das Verhältnis zu ihr?
Meine Mutter ist meine beste Freundin, ich verehre sie. Das ist Teil unserer Tradition. Auch wenn ich mich von der Tradition entfernt habe und nicht streng religiös bin, übernehme ich diesen Teil gerne. Meine Mutter hat sich oft gegen die traditionelle Frauenrolle behauptet, indem sie sich gegen meinen Vater gestellt hat.
Haben Sie Ihrem Vater verziehen?
Ich versuche, sein Verhalten zu verstehen. Es ging immer um seine Angst, dass ich schwul wäre, was nicht so ist, aber er meinte, dass ich mich zu stark der westlichen Kultur an­genähert habe. Ich war ein kreatives Kind, das gerne gemalt hat. Anders als in deutschen Familien war das bei uns ein großes Minus.
Welche Rolle spielt die Religion in Ihrer Familie?
Meine Familie war und ist strenggläubig und lebt nach der Religion und nach der Tradition. In meiner Familie tragen alle das Kopftuch, meine Mutter, meine beiden Schwestern, meine Schwägerinnen, und die kleine Schwester meiner Mutter ist verschleiert. Wir Kinder haben die arabischen Schriftzeichen gelernt und den Koran gelesen. Auch ich war da sehr fleißig, habe gebetet und gefastet und im Koran gelesen.
Ihre Geschwister haben sich anders als Sie der Tradition gemäß verhalten?
Sie sind wie ich in eine deutsche Schule gegangen und lebten in einer deutschen Nachbarschaft in der Nähe von Hamburg. Vor den Leuten passten sie sich an, aber zu Hause in den eigenen vier Wänden galten wieder nur die Regeln der eigenen Kultur. Das ist ein bisschen Schauspielerei gewesen.
Wie war das Verhältnis des Vater zum nichttürkischen Umfeld?
Er hielt sich von den Deutschen fern. Vermutlich fand er sie langweilig. Meine Verwandten waren stolz darauf, so zu sein, wie sie waren, und wollten sich nicht anpassen.
Sie schreiben sehr positiv über ihre deutschen Kontakte. Gab es keine Ausgrenzung und Diskriminierung?
Doch, das gab es auch. Es war aber nur eine Minderheit, etwa in der Lehrerschaft, die sich rassistisch verhalten und geäußert hat. Die positiven Erfahrungen überwiegen.
Sie hatten blaue Flecken und Schrammen. Hätte es nicht früher in der Schule bemerkt werden müssen, was zu Hause geschah?
Ich habe das versteckt und auch auf meine Mutter gehört, die wollte, dass das »Geheimnis des Hauses« gewahrt bleibt. Einmal war ich dann im Gesicht so stark verbeult, dass es sich auch nicht mehr überschminken ließ. Erst dann ist es heraus­gekommen.
Aufgefallen sind Sie zunächst nicht als Opfer, sondern als aggressiver Schüler.
Ja, es gab eine Phase, da wurde ich bei jeder Kleinigkeit wütend und war nicht mehr ich selbst. Es hat mir geholfen, über alles zu reden. Die Gespräche mit der Schulpsychologin haben mich wieder auf einen guten Weg gebracht. Ich würde mir wünschen, dass in der Gesellschaft genauer hingeguckt wird, wenn Jugendliche auffällig werden. Niemand wird schlimm geboren, man sollte immer gucken, was hinter solchem Verhalten steckt.
Wie geht es jetzt für Sie weiter?
Im Moment verdiene ich mein Geld mit Jobs als Model. Aber ich möchte an meinem Traum festhalten und selbst Mode entwerfen. Irgendwann möchte ich meine eigene Kollektion machen.