Das neue Album von Raime

Zu viele Töne sollten vermieden werden

Das neue Album von Raime.

Es ist fraglich, ob es je in einem Stück von Raime eine Melodie gegeben hat; sollte dem aber so sein, war es ein seltener Moment. Das liegt nicht etwa daran, dass das Duo atonale Geräuschmusik machen würde, aber mit Tönen wird hier sehr sparsam umgegangen. Das hochgelobte Debüt­album »Quarter Turns over a Living Line« (2012) war eine Sammlung finsterer Klangflächen zwischen Horrorsoundtrack und eruntergebremsten Bassmusikstilen wie Jungle und Grime. Der Nachfolger »Tooth« ist dagegen etwas songorientierter, doch bleiben die Tonfolgen beinah bis aufs Letzte reduziert; skelettierte Muster aus zwei, maximal drei Tönen treiben die Songs voran.
Auch der Tonumfang vermeidet jede größere Bewegung: Besondere Wertschätzung genießt das Minimal-Intervall (zumindest für westlich-europäische Skalen) des Halbtonschritts, wie es auch Metal- und Hardcore-Gitarristinnen und -Gitarristen mit Vorliebe aufs Griffbrett schrubbeln. Ihre Affinität für diese Genres haben Joe Andrews und Tom Halstead im Seitenprojekt Moin zelebriert, dessen EP von 2013 mit reichlich verzerrtem Bass und E-Gitarre aufwartet. Dieser Sound hat auch das neue Raime-Album beeinflusst, auf dem die Songs durchweg von E-Gitarren-Patterns getragen werden. Von der berstenden Energie von Punk und Hardcore ist in der unterkühlten Präzision von »Tooth« allerdings nur eine Andeutung geblieben. Hier werden acht Übungen in Askese zelebriert, die sich jeden Ausbruch verbieten. Mit akribischer Genauigkeit und kristallklarem Sound exerzieren Raime das rhythmisch pointierte Zu­sammen­spiel von E-Gitarre und (Sub-)Bass mit dem expressiven Schlagzeug von Valentina Magaletti durch, garniert mit düsteren Synthesizerflächen.
Die Sprache der Kunstwerke heute sei abgebrochen, ihre Bedeutung gekappt, hat Theodor W. Adorno geschrieben. Gerade darin zeige sich aber der Stand der Realität, aus der sie stammen. Nur schwer lässt sich Musik vorstellen, die das wörtlicher nimmt, als es Raime auf »Tooth« vorführen. Das zeigt sich auch im Gebrauch von Samples. Bereits bei Moin hatten Halstead und Andrews Sprachsamples eingesetzt. Dort hört man Eugene Robinson, den Sänger der Noise­rocker Oxbow, brüllen: » He didn’t mean that way!« Auf der Spoken-Word-Compilation, von der das Sample stammt, kann man hören, dass der Text lautet: »Christ said ›suffer the children‹, but he didn’t mean that way!« Solche bedeutungsschwangeren Samples sind auf »Tooth« nicht zu ver­nehmen. Stattdessen ist die menschliche Stimme, wie im Track »Stammer« (nomen est omen) zu einem abgehackten Bellen reduziert, das keine Bedeutung mehr transportiert – außer eben das unheimliche Abgehacktsein selbst. Bei einigen Samples lässt sich schlicht nicht mehr erkennen, ob sie Stimme oder Geräuch sind.
Der unvermeidliche Effekt der bedingungslosen Askese auf »Tooth« ist, dass die Songs ihre Höre­rinnen und Hörer mitunter etwas unbefriedigt zurücklassen mögen. Bei einigen Stücken kann die reduzierte Dramaturgie die Spannung über die gesamte Länge aufrechthalten; andere bleiben zu sehr Andeutung und Vorspiel, so dass man sich wünscht, es käme endlich einmal die Explosion oder die Auflösung, auf die alles hinzudeuten scheint. Aber das Vermeiden solcher Konventionen und des allzu Erwartbaren ist natürlich genau das, worum es bei diesem Album geht. »Tooth« kling etwas nach Übergang; es wird interessant, wohin sich der Sound von Raime weiterent­wickelt – hoffentlich dauert es nicht wieder vier Jahre bis zum nächsten Album.
Raime: Tooth (Blackest Ever Black/Cargo Records)