Kolumbianische Kleinbauern machen Druck auf die Regierung

Granaten gegen Blockaden

Am jüngsten Agrarstreik in Kolumbien beteiligten sich bis zu 120 000 Men­schen. Anhaltende Straßenblockaden zwangen die Regierung schließlich zu Zugeständnissen. Doch der Preis für die Streikenden war hoch.

Am Tag darauf sprach Albeiro Camayo schon nicht mehr darüber. Die Schüsse, die Todesangst, der zerfetzte Rucksack – all das erwähnte er nicht mehr. Er klang gefasst und klar. Doch manchmal konnte man das Wissen, dem Tod nur durch Glück entkommen zu sein, und die Panik der vorangegangenen Nacht spüren. Denn sein Blick wollte nicht wirklich zu seinen Worten passen.
Seine persönliche Geschichte ist eine von vielen. Das Attentat auf ihn war nur eines von vielen. Und so sprach er anstatt von sich lieber von der Notwendigkeit, sich zu verteidigen, von Widerstand, von einem wahren Frieden und einem guten Leben.
Albeiro Camayo ist einer der Anführer des indigenen Stammes der Nasa im Süden Kolumbiens. Als Koordinator der Guardia Indígena in der Provinz Cauca, der Schutztruppe der Indigenen, soll Camayo die territoriale Kontrolle und die Sicherheit der Zivilisten gewährleisten. Alles ohne Waffen – nach Ansicht der Indigenen führt Gewalt nur zu mehr Gewalt.
Die Region Cauca ist seit Jahrzehnten von Guerillas, Paramilitärs und Regierungstruppen umkämpft, die Indigenen befinden sich im Kreuzfeuer. Erst am 10. Juni hat Kolumbiens oberstes Verfassungsgericht die Regierung aufgefordert, Maßnahmen zum Schutz der Nasa zu ergreifen. Nach Ansicht der Richter sind die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte des Stammes erheblich eingeschränkt. Die Indigenen sind gravierenden Fällen von Staatsrepression ausgesetzt, Guerillas und paramilitärische Gruppen bedrohen und ermorden gezielt die Anführer.
Einem solchen Attentat entging Camayo Ende Mai nur knapp. Auf dem Nachhauseweg von einem Stammesritual verfolgten ihn mehrere Männer auf zwei Motorrädern. Nach wenigen Kilometern eröffneten sie das Feuer, trafen seinen Rucksack und sein Motorrad. Nur mit viel Glück entkam er unversehrt. Einige Tage zuvor war sein Name auf einer Todesliste der paramilitärischen Gruppe Águilas Negras aufgetaucht. Alle aufgeführten Personen sollten »wie Ratten getötet werden«, auf jeden Einzelnen wurde ein Kopfgeld von 20 Millionen Pesos ausgesetzt, was etwa 60 00 Euro entspricht. Eine Vielzahl solcher Pamphlete kursiert in Kolumbien, offiziellen Zahlen des kolumbianischen Zentrums für Konfliktanalyse Cerac zufolge gab es alleine 2015 110 gezielte Ermordungen von politischen Funktionären.
Seit 2012 führt die Regierung Friedensverhandlungen mit Kolumbiens größter Guerillagruppe, den Farc, und mit jedem Monat nimmt die paramilitärische Gewalt in den einschlägigen Regionen wieder zu. »Es geht um die territoriale Kontrolle im Rahmen des Drogenhandels«, sagt Camayo, »und da wir als indigene Autorität selbst Kontrolle ausüben und keine bewaffneten Gruppen in unseren Territorien dulden, geraten wir ins Kreuzfeuer.« In den vergangenen Monaten seien neue Gruppen in das Territorium gekommen. »Alle versuchen, die Produktion und den Verkauf der Drogen hier zu kontrollieren und ein mögliches Machtvakuum auszufüllen«, sagt er. Wie kompliziert der Konflikt nach einem Friedensschluss werden könnte, deutet sich bereits an.
Am 22. Juni vereinbarten die Verhandlungspartner der Farc und der Regierung einen endgültigen Waffenstillstand und Vorgehensweisen zur Demobilisierung der Kämpfer. Das ist ein Meilenstein. In den kommenden Monaten soll die Entwaffnung beginnen. Soziale Bewegungen könnten dabei eine große Hilfe sein. Doch anstatt den Dialog mit ihnen zu suchen, setzte der Staat jahrzehntelang auf Repression. Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, einer umweltfreundlichen Politik und Landumverteilung standen der neoliberalen Agenda der Regierungspolitik im Weg. Die Renditen aus großen Bergbau- und Agrarprojekten wurden stärker gewichtet als die Verfassungsrechte marginalisierter Bevölkerungsgruppen.
2013 schlossen sich Kleinbauern, Indigene und Afrokolumbianer zu einem landesweiten Agrarstreik zusammen, um ihren Forderungen nach Reformen Nachdruck zu verleihen. Erst nach 21 Tagen, zwölf Toten und 485 Verletzten setzte sich die Regierung mit den Wortführern an den Verhandlungstisch. Ein Abkommen mit ersten Minimalkonditionen wurde verabschiedet. Zu den grundlegenden Themen wie Landkonzentration, Bergbau und territori­ale Souveränität sollten weitere Vereinbarungen folgen. Doch in den zwei Jahren danach wurde keine einzige unterzeichnet. Selbst von den Minimalkonditionen erfüllte Präsident Juan Manuel Santos dem Analysten Víctor de Currea Lugo, Professor an der Universidad Nacionál, zufolge nur einen kleinen Teil.
»Die Regierung ist keiner der Abmachungen der vergangenen Jahrzehnte mit den indigenen Gemeinden wirklich nachgekommen. Deshalb fordern wir unsere rechtmäßigen Ansprüche ein. In den nächsten Tagen werden wir uns landesweit mit Bauernverbänden, Afrokolumbianern und anderen sozialen Organisationen zusammenschließen, die sich im gleichen Prozess befinden«, sagte Camayo kurz vor dem Streik. Im Norden Caucas soll der Schwerpunkt des Protests liegen. 10 000 Indigene aus allen Teilen der Region kommen am Rande der größten Verbindungsstraße der Region, der Panamericana, zusammen, um den Agrarstreik von 2013 wieder aufzunehmen. In mehreren Camps werden Zelte und riesige Kochstellen aufgestellt. Man richtet sich darauf ein zu bleiben. Alte, Kinder, Männer und Frauen nehmen an Diskussionen teil und sind in verschiedene logistische Arbeiten eingebunden.
Die Forderung nach Landverteilung, sozialer Gerechtigkeit und einem bes­seren Leben der Landbevölkerung eint Demonstranten im ganzen Land. Kolumbien gehört zu den zehn Ländern der Welt, in denen die größte soziale Ungleichheit herrscht. Die Armut konzentriert sich vor allem in der Peripherie: 44,7 Prozent der ländlichen Bevölkerung leben nach Angaben des nationalen Statistikamts Dane unterhalb der Armutsgrenze. Nach der derzeit verwendeten Berechnungsmethode gilt ein Bauer schon dann nicht mehr als arm, wenn er täglich 1,30 Euro verdient. Der größte indigene Stamm Kolumbiens leidet unter extremer Nahrungsmittelknappheit, zwischen 2008 und 2013 starben nach offiziellen Angaben 4 151 Kinder dieses Stamms. Die Ursache der Misere und damit der Bürgerkriege ist eine extreme Landkonzentration. Der bewaffnete Konflikt und umfassende Vertreibungen verstärkten die Konzentration in den vergangenen Jahrzehnten. Einer Studie des Geographischen Instituts Agustín Codazzi zufolge besitzen derzeit 0,4 Prozent der Bevölkerung 61 Prozent der Grundstücksfläche.
Noch vor dem Morgengrauen standen die angereisten Indigenen am 31. Mai auf, postierten sich an mehreren strategischen Punkten und berei­teten sich darauf vor, die größte Straße der Region zu sperren. Im ganzen Land begannen an dem Tag ähnliche Proteste. Die staatliche Beobachtungsstelle Defensoría del Pueblo zählte am 2. Juni 31 000 Demonstranten an über 75 Orten, nach Angaben der Organisatoren und kolumbianischer Medien waren es an den folgenden Tagen 70 000 bis 120 000. Die Straßenblockaden waren das einzige politische Druckmittel, das den Organisatoren des Agrarstreiks blieb, um die Regierung zur Einhaltung der Abmachungen zu bewegen. In den ersten Tagen waren zeitweise bis zu 25 wichtige Verbindungsstraßen blockiert.
Die einzige permanent gesperrte große Straße blieb die Panamericana im Norden Caucas. Die Folgen waren schnell zu spüren: Ganze Teile der Region blieben von der Versorgung abgeschnitten, erste Güter wurden knapp und in den großen Städten des Landes stiegen die Lebensmittelpreise. Präsident Santos betonte, er dulde die Proteste, jedoch keine Straßenblockaden. »Die Regierung hat die Aufgabe, die Rechte aller Bürger zu respektieren, und wir werden nicht zögern, diese Rechte zu gewährleisten«, so Santos.
In den Morgenstunden des dritten Demonstrationstags begannen Polizei und Armee, die indigenen Demons­tranten heftig zu attackieren, um die Sperren an der Panamericana aufzubrechen. Sie rückten mit Tränengas, Wasserwerfern, Schlagstöcken, Schusswaffen und Granaten an. Aus kurzer Distanz schossen Soldaten und Polizisten auf die Demonstranten. Diese setzten sich mit Steinschleudern und Stöcken zur Wehr, hielten LKW an und nutzten die Waren, um die Straße zu blockieren. Es war ein blutiger Tag. Am Abend wurde die Straße noch immer blockiert, doch der Preis war hoch. Die Sanitäter mussten etliche schwerverletzte Demonstranten versorgen, sechs davon mit Schusswunden. Für zwei Demonstranten kam jede Hilfe zu spät. Marco Aurelio verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus. Den 30jährigen Bauern Gersaín Cerón traf eine Gra­nate direkt an der Brust, blutüberströmt erlag er noch am Ort des Geschehens seinen Verletzungen.
An der Beisetzung nahmen alle Gemeindemitglieder teil, alle wissen, dass der Widerstand tödlich sein kann. Die Farben des Stammes sind rot und grün: Blut und Erde. Mitglieder der Guardia Indígena trugen die Särge der Toten und sangen mit der ganzen Gemeinde ihre Hymne: »Viele Genossen sind gestorben, aber sie werden uns niemals besiegen. Für jeden toten Indigenen werden 1 000 neue geboren.« Die beiden Söhne von Gersaín Cerón, einer acht Jahre alt, der andere zehn, waren auch bei der Zeremonie. Während die anderen sangen, schauten sie in den offenen Sarg auf ihren toten Vater. Er trug ein Tuch der Guardia In­dígena um den Kopf gebunden, in den Farben rot und grün.
»Die Menschen müssen die Wahrheit erfahren. Was wir verlangen, ist gerecht. Wir sind keine Terroristen. Es ist wichtig, dass der Staat seine Schuld anerkennt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden«, verlangte Seferino, der Onkel von Gersaín Cerón. Doch offizielle Stellen leugnen einen Zusammenhang zwischen den Attacken der Soldaten und Polizisten und den Todesfällen. Polizeidirektor Jorge Nieto gab an, die Polizei verwende keine Schusswaffen.
Jede Nacht trafen sich die Streikenden in den Camps zu Debatten. Camayo saß eines Abends etwas abseits und telefonierte mit seiner Frau und seinen Kindern. Seit dem Attentat und den Todesfällen riefen sie noch häufiger an. »Wir befinden uns zurzeit in maximaler Alarmbereitschaft und natürlich ist die Bedrohung auf einer persönlichen Ebene schwierig, natürlich ist es schwierig für die Familie«, sagte er nachdenklich. »Aber niemand ist in diesem Prozess alleine. Es ist ein Prozess der ganzen Gemeinschaft und alle helfen uns. Das gibt jedem Einzelnen sehr viel Kraft«, so Camayo.
Nach neun Tagen permanenter Auseinandersetzungen richteten die Wortführer des Agrarstreiks einen interna­tionalen Hilferuf an Menschenrechtsorganisationen. Sie wiesen auf die drei toten Demonstranten, 203 Verletzten und 104 unrechtmäßigen Verhaftungen hin. Dennoch wurde der Dialog mit der Regierung fortgeführt. Nach 15 Tagen ließ sich der Präsident zu ersten Zusagen bewegen und die Organi­satoren beendeten den Streik vorübergehend. Die Demonstranten hoben die Blockade der Panamericana auf und kehrten in ihre Territorien zurück.
In den kommenden Monaten sollen in Verhandlungen klare Absprachen getroffen und Kontrollmechanismen eingerichtet werden. Die Regierung machte den sozialen Organisationen Zugeständnisse, was das Recht auf friedlichen Protest, die wirkliche Bekämpfung paramilitärischer Gruppen, eine bessere Kontrolle bei der Vergabe von Bergbaulizenzen und die Anerkennung kollektiver Landtitel angeht. Der Streik ist nicht beendet, die Beteiligten befinden sich weiterhin in ständiger Vollversammlung. »Wir haben der Regierung eine sehr klare Botschaft überbracht. Sie selbst bestimmt die Stunde null eines erneuten Protestes wegen der Nichteinhaltung der Abkommen«, ließ das Bündnis Cumbre Agraria, Campesina, Etnica y Popular verlauten verlauten.
Die Ursache des seit über 50 Jahren andauernden Bürgerkriegs liegt in den Problemen, die auch die demonstrierende Landbevölkerung in ihrem Protest anspricht. Eine Agrarreform ist ein zentraler Bestandteil der bereits veröffentlichten Teilabkommen, die in den Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Farc verabschiedet wurden. Die Landkonzentration soll verringert und allen ein Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur ermöglicht werden. Die Gelegenheit für die Regierung, durch Abkommen mit den sozialen Organisationen auch eine breite Vertrauensbasis für einen längerfristigen Wandel im Land zu schaffen, ist groß. Denn nur wenn eine große Mehrheit der Bevölkerung den Wandel selbst antreibt, besteht eine realistische Chance auf ein Ende der Gewalt. Camayo hat eine klare Meinung: »Wir vom Stamm Nasa haben den Friedensprozess immer unterstützt und durch unsere unbewaffnete territoriale Kontrolle den Frieden vorgelebt. Doch wahren Frieden gibt es nicht nur. weil zwei bewaffnete Akteure die Waffen niederlegen. Wir müssen die strukturellen Probleme angehen, Landkonzentration und Armut bekämpfen. Die Würde des Menschen muss über dem Wirtschaftsmodell stehen.«