Ein Besuch im Kifferparadies des Iran

Den Aufstand in der Opiumpfeife rauchen

Das Dorf Ghalat gilt als das Kifferparadies im Iran. Die vermeintliche Toleranz des Regimes kommt nicht nur Cannabiskonsumenten, sondern auch Opiumsüchtigen im Land zugute. Doch für das Verhalten der iranischen Behörden gibt es triftige politische Gründe.

Die Fahrt dauert etwa eine Stunde. Von Shiraz aus geht es in nordöstliche Richtung, bis man an den Fuß eines felsigen Sandsteingebirges gelangt. Dann führt die steile Straße zu einem kleinen Ort, hinter dem sich mächtige Felsgipfel in den Himmel recken. Die uralten Gemäuer in dem Dorf sind aus hellem Stein und über die Jahre zu Ruinen verfallen. Plastikflaschen, einzelne Schuhe und anderer Müll liegen zwischen den Überresten antiker per­sischer Baukunst. Die typisch orientalischen Torbögen sind häufig das Einzige, was von den Gebäuden noch übrig ist. Es wirkt, als hätten die Bewohner ihr Dorf irgendwann einfach verlassen.
In den gespenstisch stillen Gassen laufen Gruppen junger Iraner umher. In ihren engen Jeans und neonfarbenen Turnschuhen sowie dem obligatorischen Smartphone in Griffweite unterscheiden sie sich nicht von westeuropäischen Großstädtern. Den Hijab haben die Frauen weit hinten auf dem Kopf platziert. So wahren sie den Schein, die religiösen Gesetze einzuhalten, zeigen aber doch ihr Haar. Sie alle sind zu Besuch hier. Die ursprünglichen Dorfbewohner, so ist zu erfahren, wohnen nicht mehr hier, sondern sind in ­einen Ort etwas weiter unten im Tal gezogen, den man von der Anhöhe hier oben sehen kann. Zwischen den Ruinen des alten Dorfs haben sie hippe Cafés für die Besucher aus der Stadt hergerichtet. So prägen Szenetreffs, Verfall und Müll gleichermaßen das Bild des skurrilen Orts.
Ghalat ist im ganzen Iran berühmt. Mancher fährt über 1 000 Kilometer, um das Dorf zu besuchen. Denn hier gibt es angeblich das beste Marihuana des Landes. Ghalat existiert wegen der Droge und der Touristen, die zu ihr strömen. Das Geschehen im Dorf ist eigentlich illegal, aber Ghalat ist eine geduldete Insel in einem Staat, der vor allem seiner weiblichen Bevölkerung das Lachen, Singen und Tanzen in der Öffentlichkeit verbietet – vom Erwerb von Cannabis ganz zu schweigen.
Auch Hadi Hedayati will Gras kaufen. Der 31jährige Bauingenieur hat sich selbständig gemacht und ist mit seinem Büro ziemlich erfolgreich. Er verschwindet in einem der verfallenen Häuser. Nachdem er wieder herausgekommen ist, läuft er zielstrebig eine Gasse hoch, die aus dem Dorf hinaus in den angrenzenden Wald führt. »Fast alle Leute hier bauen Marihuana an. Im ganzen Land findet man kein besseres«, sagt er. Weit über die Grenzen der Provinz Fars hinaus hat sich das inzwischen herumgesprochen. Hadi dreht sich einen Joint aus dem puren Marihuana. »Wenn ich Tabak dazu mische, kann ich den Rauch nicht so lange in der Lunge halten und die Wirkung ist geringer.« Langsam inhaliert er, hält inne und atmet wieder aus. Er blickt in den Wald. Der Wind streicht leise durch die Äste der Granatapfelbäume.
Bis zu 60 Stockschläge könnte es setzen, würde in diesem Moment die Religionspolizei Ershad auftauchen. Nicht wegen des Marihuana, sondern weil unverheirateten Männern und Frauen der Kontakt zum anderen Geschlecht verboten ist. Die Islamische Republik Iran kennt keine Freundschaften zwischen Männern und Frauen. Jeder privat Kontakt außerhalb des familiären Bereichs könnte nach Ansicht des Regimes zu sexuellen Handlungen führen und ist deshalb verboten.
Doch Ghalat ist ein rechtsfreier Raum. Immer noch stoned bahnt sich Hadi den Weg aus dem Wald heraus zurück in das Dorf. Seine Augen wandern suchend zwischen den alten Gebäuden hin und her, bis er an einer unscheinbaren Holztür klopft, die wie alle anderen hier aussieht. Diesen Ort findet nur, wer weiß, wonach er sucht. Ein schmächtiger Mann um die 40 mit Schnäuzer und wachen, dunklen Augen lässt Hadi herein. In dem kühlen Innenhof riecht es muffig. Über eine alte Steintreppe gelangt man in ein großes Kellergewölbe. Perserteppiche liegen auf dem Boden, man nimmt auf großen, orientalisch verzierten Sitzkissen Platz und der Mann serviert schwarzen Tee.
Vier junge Iraner, zwei Männer und zwei Frauen, betreten den Raum. Ihr permanentes Kichern verrät, dass es auch sie nicht zufällig nach Ghalat verschlagen hat. Einer der beiden jungen Frauen ist es offensichtlich gleichgültig, dass ihr Kopftuch nur noch auf ihren Schultern liegt. Sie beginnt leise zu singen. Der iranische Staat duldet keinerlei Zurschaustellung weiblicher Reize in der Öffentlichkeit. Dazu zählt neben ausgelassenem Lachen, Tanzen und Fahrradfahren auch weiblicher Gesang – dafür drohen Strafen wie Stockschläge. Die junge Frau hört auf zu singen, als der Wirt den Raum betritt, doch der hat ihre Stimme schon vernommen und rezitiert ein Gedicht des vorislamischen, persischen Herrschers Kyros des Großen, den viele Iraner verehren. Berühmt geworden ist der sechste König der Achämeniden-Dynastie vor 2 500 Jahren für seine Toleranz gegenüber den verschiedenen Religionen im Persischen Reich. In den von ihm eroberten Gebieten stellte er es den Bewohnern frei, weiterhin ihre Religion zu praktizieren. Aristoteles bezeichnete ihn als Wohltäter, der den Menschen Freiheit brachte. »Freiheit für alle Religionen, Freiheit von jeglichem Zwang«, übersetzt Hadi die Worte des inbrünstig und mit lauter Stimme vortragenden Gastwirts. Seine Worte wirken wie eine Erlaubnis für die junge Frau. Angestachelt von der Darbietung singt sie alte persische Lieder. Ihr Freund setzt sich dicht neben sie, seine Hand berührt ihren Hintern. Es ist eine Szene, die es in diesem Land eigentlich nicht geben darf.
Dabei ist es unwahrscheinlich, dass das Geschehen in Ghalat dem Regime verborgen geblieben ist. Der Ort ist mehr als ein Rückzugsraum für Drogenhandel und -konsum, er ist ein Zugeständnis. In den achtziger und neunziger Jahren wachte die Religionspolizei an fast jeder Straßenecke darüber, ob sich Frauen an die Kleiderordnung hielten. Autos wurden regelmäßig nach illegalem Alkohol durchsucht. Es gab Peitschenhiebe zur Strafe und Abschreckung. Selbst vor zwei Jahren zeigten Frauen in Großstädten wie Isfahan noch wenig Haar unter dem Kopftuch. Mittlerweile tragen viele es dort nur noch auf dem äußersten Hinterkopf. Händchenhaltende Paare schlendern durch die Straßen, von denen lange nicht alle verheiratet sind. Schwule stellen ihre Homosexualität teils offen zu Schau – in der Hoffnung, dass sie dafür zu Peitschenhieben verurteilt werden und ihnen in westlichen Ländern der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Doch die Religionspolizei lässt sie gewähren. Nicht, dass die Gesetze humaner geworden wären. Das Regime kann so repressiv agieren wie eh und je, die Möglichkeiten dazu sind genauso groß wie in der Anfangszeit der Republik. So ließ es im Jahr 2015 insgesamt 977 Menschen hinrichten. Doch die Überwachung ist zurzeit laxer und manche Strafen werden seltener ausgeführt. In Ghalat glaubt man sich vor der Verfolgung durch die Religionspolizei sicher. »Wenn ich mit meinen Freunden in Ghalat bin, haben wir die gleichen Freiheiten wie in Europa«, sagt Hadi.
Vielleicht weiß die Polizei aber auch, dass nicht Marihuana, sondern Opium das größte Problem im Iran ist. 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung sind nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung von der Droge abhängig, die aus dem Saft unreifer Mohnsamen gewonnen wird. In iranischen Großstädten sieht man in auf­fallender Häufigkeit mit Opium zugedröhnte, meist junge Männer, die tagsüber apathisch vor kleinen Geschäften herumhängen, so zum Beispiel im armenischen Viertel in Isfahan. In dem von Christen dominierten Stadtteil ist die Polizei zurückhaltender als im Rest der Stadt. Die Männer sehen aus wie aus dem Berliner Berghain gefallene Hipster, allerdings gibt es keine Großraumdiskos im Iran. Ihr Rausch ist kein sporadisches Wochenenderlebnis, sie arbeiten auch nicht in irgendeinem Startup, sondern sind häufig arbeitslos, obwohl viele einen Hochschulabschluss haben. Sie grinsen und dämmern in einer Welt dahin, die das Opium in ihrem Kopf schafft. Sie in diesem Zustand anzusprechen, ist zwecklos.
Das Opium kommt über die fast 2 000 Kilometer lange Grenze zu Afghanistan, dem größten Opiumhersteller der Welt. Den Kampf gegen den Drogenhandel lässt sich die iranische Regierung jährlich eine Milliarde Dollar kosten. Über 3 700 Polizisten sind in den vergangenen 30 Jahren an der Grenze zu Afghanistan im Kampf gegen den Opiumschmuggel ums Leben gekommen. 60 Prozent der Gefängnisstrafen im Iran und 80 Prozent der Todesstrafen werden wegen Drogendelikten verhängt.
Trotzdem duldet der Staat den öffentlichen Drogenrausch Opiumabhängiger ebenso wie das Kifferdorf Ghalat. »Es ist eine Strategie, um Regimekritiker auszuschalten«, sagt Mona Amini, die sich häufig in den schicken Cafés des armenischen Viertels in Isfahan aufhält und das Treiben beobachtet. »Süchtige Menschen gefährden das System nicht, weil sie keinen Widerstand leisten können«, ist ihre nüchterne Erklärung. Zwar habe das Regime nicht wenige Unterstützer. »Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung steht auch heute noch hinter dem Regime«, ist die junge Frau überzeugt. Den Großteil der Anhänger finde man aber nicht in den Straßen der Metropolen, sondern auf dem Land. Der Staatsfeind lebt also in der Stadt.
»Es ist wie überall auf der Welt. Auf dem Land ist die Bevölkerung tendenziell weniger gebildet, ärmer, konservativer und religiöser«, sagt Hadi, der Bauingenieur. »In den Städten gibt es mehr Zugang zu Informationen aus dem Ausland, es gibt Internet. Dinge, die der Propaganda etwas entgegensetzen.« Hadi, der die traditionelle Rollenverteilung von Mann und Frau ablehnt und überzeugter Atheist ist, dürfte das Feindbild der Ayatollahs ziemlich genau verkörpern. Doch während der erfolgreiche Bauunternehmer mit dem Faible für einen gelegentlichen Joint für sich einen Weg gefunden hat, in diesem System zu leben, liegen andere mit Opium zugedröhnt in den Straßen Isfahans.
»Diejenigen, die ich kenne, haben alle eine Universität besucht. Danach haben sie keinen Job gefunden oder zumindest keinen, in dem sie arbeiten wollten. Ihre Eltern füttern sie durch oder sie halten sich irgendwie über Wasser«, sagt Mona. Es ist im Iran keine Seltenheit, dass promovierte Akademiker einen Kiosk betreiben. Das Studium ist ein Prestigevorhaben, das viele abschließen, um dann in einem ganz anderen ­Bereich arbeiten zu müssen.
Frustrierte Hochschulabgänger sind eine tickende Zeitbombe für den autoritären Staat. Im Iran gab es in den vergangenen 100 Jahren mindestens drei geglückte oder gescheiterte Revolutionen. Das Regime weiß, wie schnell die Stimmung kippen kann. Zuletzt löste der Verdacht des Wahl­betrugs bei den Präsidentschaftswahlen 2009, die Mahmoud Ahmadinedjad zur Wiederwahl verhalfen, Massenproteste im ganzen Land aus. Als der Gegenkandidat Ahmadinedjads, Mir Hussein Mousavi, wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl zu Demonstrationen aufgerufen hatte, gingen über mehrere Wochen Millionen Iraner auf die Straßen. Es waren die größten Proteste seit der Revolution im Jahr 1979, die damals zur Gründung der Islamischen Republik Iran geführt hatte. Schnell ging es nicht mehr nur um einen potentiellen Wahlbetrug. Die Demonstranten forderten mehr Freiheiten und demokratische Rechte ein. Das Regime schlug die Proteste brutal nieder, Tausende wurden verhaftet, Hunderte getötet. Die Unregelmäßigkeiten bei der Wahl bezeichnete der Wächterrat später als nicht nachzuweisen.
Nur ein Jahr später verabschiedete das Parlament unter Ahmadinejad ein Gesetz, demzufolge nicht mehr die Konsumenten, sondern nur noch die Drogendealer strafrechtlich verfolgt werden sollten. Das wäre selbst in manchem liberalen westlichen Staat eine progressive Drogenpolitik. Doch selbstverständlich war Ahmadinejad kein ­liberaler Präsident. Und Drogen sind in einem Gottesstaat wie dem Iran grundsätzlich Teufelszeug. So wie Mona Amini und Hadi Hedayati glauben deshalb die wenigsten, dass das Gesetz der Versuch einer konsumentenfreundlichen Drogenpolitik war. Die vermeintliche Toleranz sei ein gezieltes Mittel, um potentielle Aufrührer unschädlich zu machen, ist die allgemeine Meinung. Denn apathische Drogenabhängige beginnen keine Revolution.