Architektur und das »Rosenhaus« von Adalbert Stifter

Die Datsche, die man nur in Filzpantoffeln betreten durfte

Adalbert Stifter beschreibt in seinem Roman »Der Nachsommer« einen Ort der Harmonie und Bildung: das sogenannte Rosenhaus. Der idyllische Schauplatz seiner berühmten Großerzählung inspirierte zahlreiche Architekten und Schriftsteller.

Adalbert Stifters rund 1 000 Seiten umfassende Romanerzählung »Der Nachsommer« gilt als eines der langweiligsten Bücher deutscher Sprache. Es mangelt dem Roman an Handlung, es gibt keine Konflikte und nur äußerst unergiebige Charaktere, die schon mal über 150 Seiten diskutieren, ob ein Gewitter naht oder nicht. Als das Buch 1857 veröffentlicht wurde, war es Stifters Zeitgenosse Friedrich Hebbel, der vermeinte, kein Risiko damit einzugehen, demjenigen die Krone von Polen zu versprechen, der es geschafft habe, die drei Bände des »Nachsommers« vollständig zu lesen, ohne dazu von Berufs wegen gezwungen zu sein. Das Publikum war ebenso wie Hebbel wenig angetan, »Der Nachsommer« verkaufte sich zum Leidwesen von Stifters Verleger außerordentlich schlecht. Der Roman, in dem der junge Heinrich Drendorf dem Freiherrn von Risach auf dessen Landgut begegnet und man sich streng ritualisiert von Mahlzeit zu Mahlzeit bewegt, konnte zur Zeit Stifters kaum Wirkung entfalten.
Um 1900 änderte sich die Wahrnehmung des Romans entscheidend. Das war vor allem der lobenden Erwähnung Friedrich Nietzsches zu verdanken, der meinte, es sei eines jener Bücher, die »es verdienten, wieder und wieder gelesen« zu werden. Die Lebensreformbewegung griff die Anregung auf. Ins Zentrum des Interesses geriet aber nicht etwa eine Figur des Romans, sondern der Schauplatz der trägen Handlung: das Rosenhaus. Der Erzähler Heinrich Drendorf schildert seinen ersten Eindruck des Gebäudes: Das Haus »war noch immer von der Sonne hell beschienen. Allein, da ich näher vor dasselbe trat, hatte ich einen bewunderungswürdigen Anblick. Das Haus war über und über mit Rosen bedeckt.«
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich daraus eine literarische Mode. In den sogenannten Rosenhaus-Büchern wurde die vermeintlich vormoderne Einfachheit des häuslichen Lebens verklärt, was durch die letzten Worte von Stifters Roman – »Einfachheit, Halt und Bedeutung« – wenn schon nicht intendiert, so doch befördert wurde.
Der Architekturhistoriker Uwe Bresan zeigt in seinem kürzlich erschienenen Buch »Stifters Rosenhaus. Eine literarische Fiktion schreibt Architekturgeschichte«, wie die Beschreibung des Rosenhauses nicht nur eine literarische Mode hervorbrachte, sondern vor allem die Architektur des 20. Jahrhunderts prägte. Zahlreiche Architekten hatten gegenüber der industriellen Moderne eine skeptische Haltung eingenommen. Das Buch verfolgt diese Rezeption innerhalb der modernen Architekturgeschichte von ihren Anfängen im Umfeld der Wiener Secession über ihre Blütezeit in der Generation der Werkbund-Väter und im Milieu der Stuttgarter Schule bis zu ihrem Nachleben im deutschen Architekturdiskurs der Spätmoderne. Stifters Roman wird damit als eine der einflussreichsten Architekturerzählungen der Moderne wiederentdeckt.
Detailreich sind die einzelnen Wohnräume, ihre Gestaltung und ihr Interieur beschrieben. Stifters Rosenhaus ordnete jedem Raum einen Zweck zu, seien es naturwissenschaftliche Studien oder die Beschäftigung mit Gesteinssammlungen. Es gab eine Bibliothek und ein Lesezimmer, das Kleider-, das Schlaf- und das Bilderzimmer. Alles befindet sich in bester Ordnung. Tatsächlich ist das Rosenhaus erfüllt von der Utopie, dem Leben seiner Bewohner gerecht zu sein. Doch hat diese häusliche Utopie zur Folge, dass man die Zimmer ausschließlich mit Filzpantoffeln betreten kann. Es scheint fast, als würden die Dinge hier, zärtlich zwar und doch bestimmt, über die Menschen herrschen. Arno Schmidt hatte eben das an Stifter hervorgehoben und nannte ihn in seinem berühmten Rundfunkessay, einer Polemik voller Bewunderung, einen »sanften Unmenschen«. Ein weiterer begnadeter Polemiker nahm sich der Literatur Stifters ebenfalls an: Thomas Bernhard schrieb in »Alte Meister« über die Verkitschung der Literatur durch Stifter.
Das große Verdienst von Bresans Arbeit liegt vor allem in der Klärung der Frage, ob Stifter ein reales oder literarisches Vorbild für seine Beschreibung des Rosenhauses hatte. Die Forschung hatte in der böhmischen Heimat Stifters gesucht und wenig gefunden, aber beispielsweise auch Karl Friedrich Schinkels Humboldt-Schloss in Tegel als Vorbild in Betracht gezogen. Bresan beantwortet die Frage nach literarischen oder realen Vorbildern mit »sowohl als auch«.
Zitiert wird zudem die literarische Beschreibung eines anderen berühmten Gebäudes durch Johann Peter Eckermann: »Wir traten in die Nähe des Hauses (…), die weißabgetünchten Außenseiten sah ich ganz mit Rosenstöcken umgeben, die von Spalieren gehalten, sich bis zum Dach hinaufgerankt hatten.« Und: »Das Innere des Hauses machte auf mich einen sehr angenehmen Eindruck; ohne glänzend zu sein, war alles höchst edel und einfach.« Das schreibt Eckermann in den von Nietzsche im Zusammenhang mit »Der Nachsommer« erwähnten Gesprächen über die beiden Häuser, die Goethe in Weimar besaß: das Gartenhaus im Park an der Ilm und das Stadtpalais am Frauenplan.
Die vollendete bürgerliche Utopie des Hauses bei Stifter bezieht sich auf das Ideal eines bürgerlichen Lebens, wie es Goethe repräsentierte. Stifters Rosenhaus hat ebenso wie Goethes Gartenhaus zwei Stockwerke, die Fassade ist weißgetüncht, die Rosenspaliere reichen bis knapp unter die Fenster der ersten Etage, im Inneren gibt es einen mit Statuen ausgeschmückten Aufgang, die Zimmer sind in Reihe mit Türen verbunden, so dass man durch die Räume schreiten kann. Die Gesteinssammlung verweist auf Goethes geologische Forschungen.
1925 hatte Hugo von Hofmannsthal in einem Nachwort zum »Nachsommer« dem Werk eine langanhaltende Wirkung vorhergesagt. Bresan zeigt Verbindungen bis zum heutigen Neobiedermeier und zur sogenannten analogen Architektur von Hans Kollhoff auf. Stifter beschreibt eine Idylle, ein »Vollglück in der Beschränkung« (Jean Paul).
In »Der Nachsommer« treffen sich der große Entwurf des Klassizismus und die Häuslichkeit des Biedermeier – der Nachsommer ist die Zeit der Nachklassik. Stifter hat für das bürgerliche Zeitalter die vollkommenste Architekturutopie beschrieben. Am Ausgang der Epoche steht Franz Kafkas »Der Bau«. Statt Idylle findet sich aber nur noch die blanke Paranoia, die frei flutende Angst der sich in ihren Höhlen verkriechenden Kleinbürger. Unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse hat sich die Utopie verflüchtigt. Doch es bleibt noch eine Beschreibung davon.
Uwe Bresan: Stifters Rosenhaus. Eine literarische Fiktion schreibt Architekturgeschichte. Verlagsanstalt Alexander Koch, Leinfelden-Echterdingen 2016, 248 Seiten, 16,50 Euro