Leichen und Opfer, Antithesen zu Liebe und Gemeinschaft: Der Film »The Eyes of My Mother«

Der Schatten gibt Trost

Das Horrordrama »The Eyes of My Mother« erzählt von einer grauenhaften Familienaufstellung, der fehlgeleitete Liebe zugrunde liegt.

Das Spielfilmdebüt von Nicolas Pesce, »The Eyes of My Mother«, ähnelt in gewisser Weise einem Schaukasten voller Tierpräparate. Der stellt nicht das Lebende aus, sondern aufgespießte, plastinierte Ideen davon: erinnert, geordnet und konstruiert, dennoch in vielen Facetten wahrnehmbar. Gerade in Schmetterlingsschaukästen gibt es eine besondere, zeitlose Schönheit zu entdecken, angeordnet auf rotem Samt oder feinem Papier.
Auch »The Eyes of My Mother« bewegt sich geschickt in einem solchen inszenierten, frei komponierten Raum. Der Film erinnert daran, dass Schrecken sich am besten in der Isolation entfaltet, hier, ganz klassisch, in einem einsamen Haus. Dort wächst die kleine Francisca (Olivia Bond) auf, mit einer Mutter (Diana Agostini), die als ehemalige Chirurgin nichts lieber tut, als Augäpfel aus Kuhschädeln zu entfernen, und einem gleichgültigen Vater (Paul Nazak). Als eines Tages der Handlungsreisende Charlie (Will Brill) die Familie auf- und heimsucht, komplettiert sich die Versuchsanordnung: Charlie tötet die Mutter, der Vater und Francisca überwältigen Charlie und halten ihn im Schuppen gefangen, wo er als lebendes Objekt für Franciscas Lust am chirurgischen Verstümmeln herhalten muss. Es ist ihre Weise, sich anderen anzunähern, das Mädchen bezeichnet Charlie als ihren »einzigen Freund«. Jahre später wird die erwachsene Francisca (Kika Magalhães) diese Familienkonstellation wiederherzustellen versuchen, auf ihre ganz besondere Art und Weise; davon handelt der Hauptteil des Films.
 Verweise auf Genrefilme sind an der Tagesordnung: »The Eyes of My Mother« spielt in einem Haus auf dem Hügel, im Fernsehen läuft William Castles »House on Haunted Hill«. Regisseur Nicolas Pesce, der vorher Musikvideos gedreht hat, zitiert amerikanische Gothic-Filme der sechziger Jahre ebenso herbei wie »Psycho« oder »Night of the Hunter«. Und zweifellos: Was die Form angeht, hat Pesce kluge Entscheidungen getroffen, konsequenterweise ist der Film in Schwarzweiß. Eine gut ausgeleuchtete Nacht wird hier im Kamerablick zum sonderbaren Tag und umgekehrt. Und währenddessen verändert sich nichts im zentralen Innenraum des Films, dem »Haus«. Alles bleibt an seiner Stelle, wie festgeklebt oder eben aufgespießt, wie ausgestellt in einem Schaukasten. 
Der eigentliche Innenraum dieses Films ist aber vor allem die Psyche seiner Hauptfigur. Francisca ist aus der Zeit gefallen, aus einer ganzen Kultur, genau genommen sogar aus zwei Kulturen, denn sie ist portugiesischer Abstammung. Dieser Film, der sich beinahe nur um sie kümmert, spielt irgendwann und irgendwo, aber eben immer in ihrer Nähe. Nur wenn jemand auf einmal akzentfrei amerikanisches Englisch spricht, dann findet der hermetische Schauplatz des Films Verbindungen nach außen, zu einer Gegenwart, die gar nicht so weit entfernt ist.
Denn eigentlich geschehen die Absonderlichkeiten dieser Geschichte mitten in der Gesellschaft. Da werden Menschen über Jahre in Ketten gelegt und verändern sich zu Monstern. Dann ist es egal, ob jemand vorher eine aufrechte Bürgerin war oder ein völlig Wahnsinniger. Ohne Licht und Zuwendung, gezeichnet von unsauberen Kehlenschnitten, degenerieren sie alle und sind bald nur noch eine Erinnerung an lebende und denkende Wesen. »The Eyes of My Mother« ist ein Film, der aus Menschen Zerrbilder, Schatten, Fragmente macht; sie werden zum Objekt für die Protagonistin und zum Fixpunkt des irritierten Zuschauerblicks. Was hier an menschlichen Wesen körperlich durchgespielt wird, ist die eigentliche Quelle des Unbehagens, das dieser Film wachrufen kann: Unter ausreichender Gewaltausübung zergehen wir am Ende alle und verlieren unser Selbst.
Genau das geschieht hier. Über weite Strecken des Films sperrt Francisca Leute weg und behandelt sie ziemlich schlecht. Sie tut das aus einer Idee von Liebe heraus, das ist ihr Antrieb. Und in ihrem Bedürfnis nach Liebe bleibt sie immer menschlich, trotz all ihrer Gräueltaten. Sie ist der Gegenpol zum äußeren Zerfall ihrer Gefangenen: erst ein unscheinbares Kind und bald eine bildschöne Frau, hinter deren Augen aber etwas Krankes lauert.
Die Kapitel der Geschichte heißen »Mutter«, »Vater« und »Familie«. Zu sehen gibt es aber vor allem Leichen und Opfer, Antithesen zu Liebe und Gemeinschaft. Für Francisca verschwimmen die Begriffe über die Jahre, werden gleich gültig. Wie verhält sich Sklavenhaltung zu Ideen von Gemeinschaft? Oder schon ganz zu Beginn: Wie verhält es sich mit der Liebe einer Tochter zu einer Mutter, wenn diese Liebe auch die Anleitung zur Folter beinhaltet? Ist Folter dann gleich Liebe? Franciscas Mutter war Augenchirurgin, wie übrigens auch die Mutter des Regisseurs.

Die Kapitel der Geschichte heißen »Mutter«, »Vater« und »Familie«. Zu sehen gibt es aber vor allem Leichen und Opfer, Antithesen zu Liebe und Gemeinschaft.

Das Spiel mit der Gleichgültigkeit geht visuell immer weiter: Immer wieder blickt die Kamera aus dem Himmel herab auf das Geschehen. Dieser Blick scheint den Boden nie zu erreichen. Manchmal kommt der distanzierte Blick auch aus Autos. Durch deren Frontscheiben wie auch durch die Fensterscheiben von Franciscas zeitlosem Horrorhaus werden Blicke geworfen, die keine Verbindungen eingehen, sondern die Welt und die Menschen aus der Distanz betrachten, als unerreichbar und kaum zugänglich. Statische Blicke, mal menschlich, mal objekthaft. In seiner Abstraktion, seinem Stilwillen, liegt die tiefe Gleichgültigkeit dieses Films und ebenso sein Reiz, seine Einladung, sein Angebot. Sollen sie doch verstümmelt werden, solange es gut ausschaut: Das hat etwas Zynisches.
»The Eyes of My Mother« offenbart aber glücklicherweise ein Gespür dafür, wo der gleichgültige Genuss aus der Außenperspektive endet, wann der Film nicht mehr Schaukasten bleiben kann, wann aus Horror Krieg wird. Dabei hilft, dass es in den sorgfältigen Anordnungen dieses Films nicht das Übernatürliche als Schutzraum für den Geist gibt, keine Zuflucht in der Floskel, kein »Es ist alles nur ein Traum«. Das Dunkle hilft sogar, weil es verhüllt, wie sehr diese Menschen durch Franciscas grobe Handgriffe verformt sind. Schatten ist hier nicht eine Quelle von Angst, sondern Trost für das Auge. Das Schlimmste geschieht bei Tageslicht, als sich Francisca einmal nach draußen in die Welt wagt und der schutzloseste Mensch zum Opfer ihrer Liebe wird. Es schließt sich daran ein Hassschrei an, der gut sichtbar ist, aber kaum hörbar. Der Film zeigt eine Szene aus Franciscas Kindheit: Im heimischen Fernseher läuft die Westernserie »Bonanza«, wo es gerade darum geht, einen aufzuhängen: »Man kann von hier aus nicht sehen, wie er gehängt wird. Man hört es nur. Es hört sich fast genauso schlimm an, wie es aussieht.«
Dieser Hass, ohne eine hörbare Form, ohne einen Begriff oder eine Auflösung, ist vielleicht das durchdringendste Gefühl dieser kleinen Geschichte der Apathie und fehlgeleiteten Liebe. Da ist der Blick auf einmal nicht mehr der Franciscas und auch nicht mehr der leere Blick in einen leblosen Schaukasten. Sondern ein Gesicht wird zum Spiegel eines lebendigen Gefühls, das sich gleichermaßen gegen die Strenge der Hauptfigur und diese sture filmische Konstruktion richtet. Da ist, einmal nur, nichts mehr gleichgültig, sondern alles eindeutig. Eindeutigkeit ist manchmal unerträglich.

The Eyes of My Mother (USA 2016, 77 Minuten). Regie: Nicolas Pesce. Darsteller: Kika Magalhães, Diana Agostini, Olivia Bond, Will Brill. Filmstart am 2. Februar.