Im Labyrinth der Städte
1913 erschien Franz Hessels Romandebüt »Der Kramladen des Glücks«, ein episodischer Entwicklungsroman, der seinen Protagonisten Gustav Behrendt von der Kindheit in Stettin über die Gymnasialzeit in Berlin bis zur Studienzeit in München begleitet. Mal zieht es ihn zur Schwabinger Boheme, mal zum Zionistenkongress in Basel, immer geht es um den Versuch Gustavs – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne –, Obdach zu finden.
Franz Hessel, der als jüdischer Schriftsteller im nationalsozialistischen Deutschland Publikationsverbot erhielt und vertrieben wurde, ist hierzulande lange Zeit vergessen gewesen. In den vergangenen Jahren sind seine beiden Romane »Heimliches Berlin« und »Spazieren in Berlin« neu aufgelegt worden, und so ist es erfreulich, dass der Suhrkamp-Verlag nun auch das Romandebüt des Autors wiederveröffentlicht.
Der 1880 eine Stettiner Bankiersfamilie geborene Hessel wuchs in Berlin auf und studierte in München, wo er mit der »Skandalgräfin« Fanny Gräfin zu Reventlow in einer Wohngemeinschaft lebte. Zwischen 1906 und 1914 lebte er in Paris, danach wieder in München. In den zwanziger Jahren arbeitete er als Lektor und Übersetzer in Berlin, wo er mit Walter Benjamin Freundschaft schloss. Gemeinsam mit Benjamin übertrug Hessel zwei Bände von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ins Deutsche. Dass der Schmiede-Verlag sich für Hessel als Übersetzer entschied, lag vermutlich auch an der literarischen Verwandtschaft zwischen Hessel und Proust.
Mit der Modejournalistin Helen Grund, seiner späteren Ehefrau, und dem Schriftsteller Henri-Pierre Roché lebte er dann in einer turbulenten Dreiecksbeziehung in wechselnden Konstellationen. Die Beziehung der drei war die Vorlage für den von Francois Truffaut verfilmten Roman »Jules et Jim« von Henri-Pierre Roché.
1938 floh Hessel aus Deutschland und wurde 1940 in Frankreich interniert. Nach einem im Lager erlittenen Schlaganfall starb er 1941 in Sanary-sur-Mer.
Gustav, der Protagonist in Franz Hessels Romandebüt, sagt von sich, dass er keine Freude am eigenen Leben habe, sondern nur an Dingen, die ihn nichts angehen.
»Der Kramladen des Glücks« ist ein autobiographisch grundierter Roman: Der Protagonist Gustav wächst in bürgerlichen Verhältnissen als Sohn eines jüdischen Kaufmanns mit seinem Bruder Rudolf, seiner Mutter und der Haushälterin Hanne auf. Sein Vater erzieht ihn nach dem frühen Tod der Mutter gemeinsam mit Hanne liberal und wünscht ihm bloß, dass Gustav es besser haben möge als er selbst, der sich seine gesellschaftliche Position erst hart erarbeiten musste. Wie dies geschehen soll, ist dem Vater einerlei und so fragt er den jugendlichen Gustav liebevoll: »Was interessiert dich eigentlich? Was liebst du? Was willst du einmal werden?« Im Gegensatz zu seinem Bruder Rudolf, der früh weiß, dass er Musiker werden möchte, findet Gustav keine Beschäftigung oder Leidenschaft, die er sich zu eigen machen könnte. Ihn reizt das Unnütze und das Spielerische. Er hört lieber seinen Freunden zu, wenn diese sich über theologische und naturwissenschaftliche Themen streiten, empfindet gar Freude, die Diskussionen anzufachen, um den Widerworten und -sprüchen bei ihrer Entfaltung zu lauschen.
Gustav, der von sich sagt, dass er keine Freude am eigenen Leben habe, sondern nur an Dingen, die ihn nichts angehen, entscheidet sich für ein Studium der Jurisprudenz. Es verschlägt ihn nach München, wo bereits sein Bruder lebt. Er sucht die Kreise seines Bruders auf, ohne jemals wirklich irgendwo dazuzugehören. Für die Künstler ist er zu uninteressant, für die Sozialisten zu unpolitisch und für die Nationalen nicht deutsch genug. Allen ist er zu kindlich, er ist ein Außenseiter, ohne dass er gleich als Paria gilt. Er ist eben immer dabei, obwohl sich sein Verhalten meist darauf beschränkt, »bald stumm zuzuhören, bald jugendliche Paradoxen loszulassen«, oder sich verschämt zu Füßen des Diwans zu legen, auf dem sich meist ein Mädchen oder eine Frau bettet, von der er mit Sicherheit verschmäht werden wird.
Verträumt wandelt er durch Berlin und München, ganz melancholischer Typus, der an sich selbst und seiner fehlenden Konformität leidet. Seine Melancholie ist lakonisch erzählt – was durch die parataktische Satzstruktur unterstrichen wird –, manchmal schlägt diese aber in Passagen voller Verzweiflung um. Der Riss läuft durch Gustav hindurch, so dass die Darstellung des eigenen Suizidversuchs zwischen kindlicher Unbefangenheit und Gleichmut gegenüber dem eigenen Leben erzählt wird.
Die Erzählerinstanz bildet die Erfahrungen Gustavs nach, passiert die Stationen seiner Biographie und es wirkt, als solle kein Ereignis verpasst werden, als flaniere die Erzählung durch die Handlung, immer etwas abseits der Figuren und Geschehnisse, um bloß unerkannt zu bleiben. Das flanierende Erzählen ist Hessel in seinem Werk »Flanieren in Berlin« selbst zum literarischen Gegenstand und zur Technik geworden.
Umso schwerer wiegt es, als Gustav sich im Tiergarten verläuft, da die vertrauten Wege aus der Kindheit einer neuen Ordnung gewichen sind. Die Beziehung von Tiergarten und Leben ist wichtig für das Verständnis der Figur Gustavs. Mit dem Auszug aus dem Elternhaus zieht er nicht ins Leben hinein, sondern fällt aus diesem heraus.
Hessels Romandebüt hat Schwächen. Man merkt ihm an, dass es ein Erstlingswerk ist. So manches Bild ist schief und die Montagetechnik ist gröber als in den späteren Werken, aber einen Satz, den Walter Benjamin in der Kritik zum Roman »Heimliches Berlin« über Hessels Sprache schreibt, trifft genauso auf »Der Kramladen des Glücks« zu: »In seinem Munde werden die Worte Magneten, die andere Worte unwiderstehlich anziehen.« Die Uhrkette eines Spitzbartträgers ist »berlockenschwer«, »kornblond« sind die Haare der Gänseliesel und der christliche Freund heißt »Wohlgemuth«. Das schönste Kompositum ist jedoch die »Parzenmusik«, die beim Schnappen von Scherenklingen in einer hohlen Hand entsteht.
Franz Hessel: Der Kramladen des Glücks. Suhrkamp, Berlin 2018, 254 Seiten, 14 Euro