Tuvia Tenenbom im Großbritannien vor dem EU-Austritt

Allein gegen alle

Der israelisch-amerikanische Schriftsteller Tuvia Tenenbom bereiste über mehrere Monate das Vereinigte Königreich. Sein daraus entstandenes Buch »Allein unter Briten« ist pro­vokant und das Gegenteil einer Wohlfühlreportage.

Wie kaum ein anderes Thema beschäftigte der »Brexit« die europäische und insbesondere die deutsche Öffentlichkeit seit dem 2016 erfolgten Referendum für den Austritt aus der EU. Mal zaghafte, öfter aber wesentlich deutlichere Beurteilungen, wahlweise gepaart mit Häme oder Verwunderung, gehörten zur Berichterstattung. Nach fast vier Jahren kam der langwierige Prozess des Austritts am 31. Januar dieses Jahres zu seinem Ende, ohne dass der Großteil der medialen Begutachtung des Phänomens »Brexit« über Floskeln und Gemeinplätze hinausgekommen wäre.

»Allein unter Briten« von Tuvia Tenenbom versucht, hier konkret zu werden. Ein halbes Jahr bereiste der Autor Großbritannien, sprach auf seiner Reise durch Millionenstädte und verwaiste Landstriche mit Politikern, Lords und Baroninnen, Studenten sowie zufällig gewählten Leuten auf der Straße, in Taxis oder in Pubs. Er verfährt nach dem gleichen Rezept, das ihn bisher stets auf die Bestseller­listen brachte.

Den lockeren Schreibstil und die unerschrockene, teils demonstrativ naive Herangehensweise übte er bereits in den Vorgängerbüchern ein, in denen er unter Deutschen, Juden, Amerikanern und Flüchtlingen unterwegs war. Die Reiseberichte waren aus verschiedenen Gründen umstritten: Nicht nur sprach Tenenbom mit ausnahmslos jedem, der mit ihm zu reden bereit war, sondern suchte auch gezielt die Konfrontation mit moralisch aufgeblasenen Deutschen, selbsthassenden Juden, antisemitischen Linken, rassistischen Liberalen und engstirnigen Rechten. Er schreckte nie davor zurück, Gesprächspartner und später Leser vor den Kopf zu stoßen. Gefälligkeit ist glücklicherweise keine Stärke Tenenboms.

Daraus macht er in »Allein unter Briten« ebenfalls keinen Hehl, wenn er quer durch Irland, Schottland, England und Wales reist, um – wie er selbst sagt – die britische Kultur zu verstehen. »Allein unter Briten« ist kein monothematisches Buch. Der »Brexit« dominiert zwar über weite Strecken, doch Tenenbom gibt bereits in der Vorbemerkung zu, dass dieser entgegen seinen Erwartungen nicht immerzu dominierendes Gesprächsthema war. Überhaupt sei er vor allem mit dem Ziel nach Großbritannien gefahren, möglichst viel ins Theater zu gehen. Jene mal aufgrund von politisch überkorrekter Umgestaltung enttäuschenden, mal begeisternden Besuche beschreibt Tenenbom ebenso, wie er auch das Ausbleiben von Interviewpartnern, das Warten auf Ereignisse oder das herumlavierende Gestotter von sich ertappt fühlenden Schönrednern wiedergibt. Ihm geht es nicht darum, seinen Reisebericht an holprigen Stellen auszuschmücken, um Leser bei Laune zu halten. Sowohl einen Millionär als auch einen Gangster lässt er einmal jeweils ihre komplette Lebensgeschichte über mehrere ­Seiten erzählen. Tenenbom weiß, dass Weitschweifigkeit nicht Langeweile bedeuten muss. Nicht selten lässt er zudem seinem absurd-ironischen Humor freien Lauf, was in so manchem Moment irritiert, meist aber nur einen erheiternden Weg darstellt, mit den bizarren Erfahrungen umzugehen, die er auf seiner Reise macht.

Wenn Tenenbom bei einer Gruppe mit Palästina solidarischer Studenten anfängt, über Juden zu schimpfen, woraufhin die perplexen Israelkri­tiker stammelnd zustimmen, dann wird deutlich, wie gekonnt Tenenbom die Ressentiments seiner Gesprächspartner zu entlarven weiß. Erstaunlich viele der Menschen, die er interviewt, tun kund, wie sehr sie die ­Palästinenser unterstützen und bemitleiden, nur um nach einigen Nachfragen von der Verkommenheit geld­gieriger Juden zu schwafeln. ­Tenenbom scheut sich nicht, diesen mal latenten, mal exorbitant deutlich artikulierten Antisemitismus zu benennen, ohne sich in halbgaren Differenzierungen zu verlieren, welche letztlich nur der Kleinrednerei dienen würden. Schon in seinen früheren Büchern war Antisemitismus, besonders jener schlecht kaschierte, sich obsessiv auf Israel richtende ­Judenhass, der sich in allen Milieus immer wieder fand. Im Vereinigten Königreich ist das nicht anders, auch wenn Tenenbom schließlich zugeben muss, dass das Ausmaß an Antisemitismus selbst ihn überrumpelte. Dazu kommt, dass er nur wenige Juden findet, die bereit sind, offen da­rüber zu reden: »Am Anfang sagen sie, alles wäre rosig. Allmählich erfährt man, dass alles katastrophal ist.« Tenenbom macht die Erfahrung, dass gelogen wird, wenn er anfängt, die Leute, ob selbst jüdisch oder nicht, auf Antisemitismus anzusprechen. Mehrmals trifft er auf Menschen, die bereit sind, Aussagen von Jeremy Corbyn, dem Parteivorsitzenden der Labour-Partei, als zweifelsfrei antisemitisch zu klassifizieren. Sobald er ihnen jedoch die Frage stellt, ob Corbyn Antisemit ist, verweigern sie eine klare Antwort, wie beispielsweise der ehemalige Labour-Abgeordnete Ivan Lewis.

Wird dann doch einmal Tacheles geredet, ist das Ergebnis nicht weniger beunruhigend: Da wäre zum Beispiel der umgängliche Muezzin, der im Beisein Tenenboms Allah dankt, dass die Nachbarschaft frei von Juden ist, aber auch der Corbyn-­Vertraute Peter Willsman, der sich sicher ist, dass der Antisemitismus in der Labour-Partei zur Rufschädigung durch einen von der israelischen Botschaft eingeschleusten Agenten geschürt wurde, bis zu Lord Stone of Blackheath, selber Jude, der eine Zweitwohnung in Jerusalem unterhält, weil er befürchtet, eines Tages überstürzt aus Großbritannien fliehen zu müssen. Als Tenenbom in London eine Moschee besucht, bemerkt er lakonisch: »Es werden keine Sicherheitskontrollen durchgeführt, denn dies ist keine Synagoge, sondern eine Moschee.«

Letztendlich kommt er zu dem Schluss, dass der vieldiskutierte Antisemitismus in der Labour-Partei nur die Spitze des Eisbergs ist. Der Antisemitismus auf der Straße, bemerkbar durch alltägliche Beschimpfungen, Brandstiftungen und die Leugnung des Problems an sich, sei ein »Virus, der immun ist gegen alle bekannten Antibiotika«.

Ähnlich schonungslos fallen Tenenboms Beurteilungen über die Kluft zwischen Leave- und Remain-Wählern aus. Sowohl beim ständigen Aufschieben des EU-Austritts sowie den Bestrebungen, das Referendum zu widerrufen, und auch beim herablassenden Ton, mit dem »Brexit«-Befürworter als »bedauerliche Hohlköpfe, die einen Klaps auf den Hintern brauchen« bezeichnet werden, erkennt Tenenbom eine bloße »Demo­kratiefassade«.

Als der Autor Großbritannien nach über sechs Monaten wieder verließ, war der ursprünglich für Anfang 2019 geplante »Brexit« noch lange nicht vollzogen. Tenenbom bleibt es verwehrt, die Geschichte bis zum Ende zu erzählen, was gewissermaßen ein Sinnbild für seine gesamte Entdeckungsreise ist. Tenenbom ist trotz aller rücksichtslosen und bissigen Urteile nie darauf aus, dem Leser endgültige Antworten und abschließende Zustandsbeschreibungen auf Kosten der Realität zu präsentieren. Nicht das wohlige Gefühl der Gewissheit will »Allein unter Briten« vermitteln. Stattdessen gibt es einen detailreichen, oft ambivalenten Überblick: Tenenbom muss beispielsweise zugeben, wie sympathisch ihm ei­nige Interviewpartner sind, sogar wenn sie sich nach und nach als aufrichtige Judenfeinde zu erkennen geben. Das glatte, widerspruchslose Feindbild zu entwerfen, überlässt Tenenbom lieber all jenen, denen seine Polemiken gelten. Letztere dienen dabei des Öfteren als Beweis, wie nah Polemik und Treffsicherheit sich sein können, wenn Tenenbom beispielsweise schreibt: »Rassisten und die, die gegen die Menschenrechte verstoßen, sind genau in dem Teil der britischen Gesellschaft zu finden, der vorgibt, alle (natürlich mit Ausnahme der Juden) zu lieben und zu ehren.«

Tuvia Tenenbom: Allein unter Briten – Eine Entdeckungsreise. Suhrkamp, Berlin 2020, 502 Seiten, 16,95 Euro