Bewaffnete Gruppen und das Agrobusiness bedrohen afrkolumbianische ­Gemeinden

Kein Frieden am Pazifik

In der Pazifikregion Kolumbiens erkämpften sich afrokolumbianische Gemeinden kollektive Landrechte, unter anderem um an ökonomischen Möglichkeiten zu gewinnen. Doch viele Dörfer leiden weiterhin unter dem Druck des Agrobusiness und bewaffneter Gruppen.
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Am 26. September 2016 unterzeichnete die kolumbianische Regierung nach über 50 Jahren Bürgerkrieg ein Friedensabkommen mit der Guerilla Farc. Doch insbesondere in der fruchtbaren Pazifik­region des Landes, einer der abgelegensten Regionen des Kontinents, in der 90 Prozent der Einwohner Nachfahren afrikanischer Sklaven sind, kann von Frieden eigentlich nicht die Rede sein. Von Januar 2018 bis Juli 2019 führten die Aktivitäten von Farc-Dissidenten, Mitgliedern der Guerilla ELN, paramilitärischen Verbänden und 17 neuen illegalen Gruppen zur Vertreibung von mehr als 21 600 Menschen.

Yurumangui gehört zu den wenigen Gemeinden in der kolumbianischen Pazifikregion, denen es gelungen ist, ihr Land vor Palmölmonokulturen, industriellem Goldabbau und Drogenkartellen zu bewahren.

Mit der Covid-19-Pandemie hat sich die Situation verschlechtert. Bewaffnete Gruppen setzen Quarantänemaßnahmen mit Gewalt durch, sie zwangsrekrutieren wieder mehr Minderjährige, und für Menschenrechtsorganisationen ist es umso schwieriger, die lokale Bevölkerung zu schützen. Für Ariel Palacios, einen jungen Vertreter des Afrokolumbianischen Friedensrats (Conpa), sind die Vertreibungen nicht so sehr das Ergebnis einzelner Gewaltakte, sondern eher Begleiterscheinungen des rohstofforientierten Wirtschaftsmodells Kolumbiens. Da das Friedensabkommen dieses nicht in Frage stellt und das Drogengeschäft für die herrschenden Kreise des Landes weiterhin höchst lukrativ ist, sei die Situation in der Region inzwischen schlechter als noch vor 30 Jahren. Dabei sollte mit der neuen Verfassung des Landes von 1991 alles besser werden. Sie hatte den afrokolumbianischen Gemeinden der Pazifikregion, die schätzungsweise zwischen einem Sechstel und einem Viertel der kolumbianischen Gesamtbevölkerung repräsentieren, kollektive Landrechte zugesprochen.

Die Region erstreckt sich entlang des pazifischen Ozeans von der Grenze zum nördlichen Nachbarland Panama bis nach Nordecuador und umfasst vier departamentos: Chocó, Valle del Cauca, Cauca und Nariño. Sie verfügt über ein einzigartiges Ökosystem mit einer Vielzahl an Pflanzen- und Tierarten, die nur dort vorkommen. In der Vergangenheit bewohnten verschiedene indigene Stämme die Region. Als die Spanier im 16. Jahrhundert Kolumbien eroberten, schleppten sie Epidemien ein, die die indigene Bevölkerung dezimierten. Die Spanier brachten auch Sklaven aus Afrika nach Kolumbien. Seit der Abschaffung der Sklaverei 1851 bewohnen größtenteils Nachfahren afrikanischer Sklaven die Flussläufe der Pazifikregion. Im Gegensatz zu den indigenen Gruppen, denen der Staat seit 1890 Reservate, sogenannte resguardos, zugesteht, verfügten die afrokolumbianischen Gemeinden lange über keine formellen Eigentumsrechte. Sie lebten von Subsistenzlandwirtschaft, Fischfang und den Ressourcen des ­Regenwaldes.

Mit der Unabhängigkeit Kolumbiens Anfang des 19. Jahrhunderts wurden viele Rohstoffe der Region, darunter Edelmetalle, der pflanzliche Elfenbeinersatz Tagua, Kautschuk und Holz, zu Schlüsselgütern der internationalen Industrie. 1959 erklärte die kolumbianische Regierung den Großteil der Region zum staatlichen Waldreservat und zur tierra baldía (leeres oder unbewohntes Land). Die Bewohner der ländlichen Gebiete wurden damit Siedler ohne Anspruch auf das Land. Die Regierung erteilte Abbaugenehmigungen an private Firmen und setzte den Schutzstatus des Gebiets als Waldreservat aus, wann immer sie es für nötig hielt.

Mit der wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes seit den achtziger Jahren vergab die Regierung vermehrt solche Konzessionen. Vor allem in Chocó, dem einzigen departamento der Region mit einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit, bedrohten die Konzessionen an Holz- und Bergbauunternehmen die Bauernschaft in ihrer wirtschaftlichen Existenz. Mit Unterstützung der katholischen Kirche begannen die Bauern sich Anfang der Achtziger zusammenzuschließen, um ihre Rechte einzufordern. Das inspirierte Studenten aus den urbanen Zentren der Region, die landesweite Organisation Schwarzer Gemeinden (OCN) zu gründen, die später in Prozess Schwarzer Gemeinden (PCN) umbenannt wurde. Die afrokolumbianischen Aktivisten wollten ihre Gemeinden vor dem zerstörerischen Handeln der großen Firmen schützen und ihre kulturelle Assimilation verhindern. Die indigenen Gruppen vor Augen, die eigene Reservate zugesprochen bekommen hatten, hoben sie ihre afrikanische Herkunft hervor. Sie wollten kulturelle Eigenheiten und eine besondere Verbindung zu dem von ihnen genutzten Land nachweisen, um ihren Anspruch auf Eigentumsrechte zu untermauern. Das Ergebnis war das Gesetz 70 von 1993, das auf Grundlage der Verfassung von 1991 per Dekret verabschiedet wurde. Es sichert schwarzen Gemeinden, die »in Übereinstimmung mit ihren traditionellen Produktionsweisen staatseigenes Land in den ländlichen Flusszonen des Pazifikbeckens besetzt haben«, kollektive Landrechte zu.

Passagiere in Buenaventura warten auf Fahrt nach Yurumangui

In der Hafenstadt Buenaventura warten Passagiere auf die Abfahrt nach Yurumangui

Bild:
Caroline Cornier

Diese Errungenschaften fielen in eine Zeit internationaler wirtschaftspolitischer Liberalisierung sowie eines weltweit wachsenden Umweltbewusstseins. Die Vergabe von Eigentumsrechten an afrokolumbianische Gemeinden wurde von internationalen Organisationen nun als effektives Mittel gesehen, um eine nachhaltigere Nutzung natürlicher Ressourcen zu befördern sowie Land- und Ressourcenkonflikte einzudämmen. Zudem schien sie ein kosteneffizientes Instrument, um einen schrittweisen Rückzug des Staats aus der Region und eine verstärkte Beteiligung der Bewohner, die nun als guardians of the forest (Hüter des Waldes) gesehen wurden, die in Einklang mit der Natur leben, zu gewährleisten. Von 1995 bis 2006 stellte die Weltbank vier Millionen US-Dollar für die Vergabe von Landtiteln im kolumbianischen Pazifikraum zur Verfügung. Mittlerweile wurden fast sechs Millionen Hektar an die afrokolumbianischen Gemeinden übertragen.

Silvio Garcés leitete diesen Prozess im besagten Zeitraum als Direktor der kolumbianischen Landagentur. Er erinnert sich: »Wir waren die Pioniere der kollektiven Landrechtvergabe in Kolumbien mit dem Gesetz 70. Teile unserer Gesetzgebung sind sogar in Uruguay, Panama, Bolivien und Mexiko verabschiedet worden. Das Gesetz 70 ist nach der Abschaffung der Sklaverei das wichtigste Gesetz für uns Afrokolumbianer gewesen.«

Die Landrechte boten den afrokolumbianischen Gemeinden zunächst aber wenig Schutz. Ein gutes Beispiel ist das Dorf Yurumangui. Es liegt drei Motorbootstunden von der Hafenstadt Buenaventura entfernt. Yurumangui wurden im Mai 2000 kollektive Landrechte über 54 000 Hektar übertragen. Im Juni 2000 teilte die Menschenrechtsorganisation CODHES mit, 37 Dörfer entlang der fünf Hauptflüsse der Region, darunter Yurumangui, seien direkt von bewaffneten Gewalttätern bedroht. Etwa 60 Prozent der regionalen Landbevölkerung, rund 20 000 Menschen, seien der Gefahr ausgesetzt, vertrieben zu werden.

Conti Congo* ist einer der politisch aktivsten Dorfältesten Yurumanguis. Er sagt: »Die kollektiven Landrechte weisen uns offiziell als Eigentümer unseres Territoriums aus, doch seitdem wenden die Agenten des nationalen und transnationalen Kapitals, die ihre Augen auf die Territorien des Pazifiks gerichtet haben, andere Strategien an.« Da die Unternehmen die afrokolumbianische Bevölkerung nicht mehr legal von ihrem Land verdrängen könnten, hätten viele sich mit Gruppen verbündet, die die Gemeinden terrorisierten, um diese um ihr Land zu bringen. Paramilitärische Trupps sorgten für Angst und Schrecken in der Region.

Kolumbianische und internationale Menschenrechtsorganisationen schätzen die Lage ähnlich ein, insbesondere in Hinblick auf die Palmölindustrie. In einem Bericht der NGO Human Rights Everywhere und der Diözese von Quibdó, der Hauptstadt des departamento Chocó, heißt es, die Vertreibung von Bauern oder ihre Integration in die Produktionsprozesse der Palmölindustrie werde auch als Strategie eingesetzt, um subversiven Gruppen ihre logistische und politische Unterstützung zu entziehen. »Im Falle der ethnischen Gemeinschaften, die sich der Wirtschaftspolitik der Regierung, dem Palmölanbau und den kapitalistischen Profitsystemen widersetzen, zielen diese Strategien darauf ab, die kulturellen Strukturen der Gemeinschaften zu zerstören und damit ihre Existenz zu gefährden, ohne hohe politische Kosten für die Regierung zu verursachen.«

Yurumangui

Gemeindeversammlung im afrokolumbianischen Dorf Yurumangui

Bild:
Caroline Cornier

Der Friedensprozess ändert wenig daran, denn das Interesse der kolumbianischen Regierung an Land und Ressourcen ist ungebrochen. Jacobo Grajales, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lille, argumentiert, die Regierung nutze den Frieden und den durch diesen vermeintlich erleichterten Zugang zu abgelegenen Regionen als ­zusätzliches Argument für verstärkten Rohstoffabbau. Sie stütze sich auf den liberalen Standpunkt, umfassende wirtschaftliche Entwicklung sei unerlässlich, um langfristig Frieden zu etablieren. Diese Ansicht steht im Gegensatz zu Positionen afrokolumbianischer Aktivisten, die den Friedensprozess als Anlass für eine tiefgreifende Reform des auf Agroindustrie und umfangreichem Rohstoffabbau ausgelegten Wirtschaftsmodells des Landes sehen. Ariel Palaci­os sagt: »Unsere Zukunftsvision folgt keinem neoliberalen Modell, denn die Akkumulation des Kapitals zerstört und nimmt alles, was existiert. Wir können also nicht selbst diese Logik annehmen, sondern müssen uns etwas anderes überlegen, das mit unserer Kultur und unserer Identität zusammengeht.«

Afrokolumbianische Gemeinden sehen sich mit dem Problem konfrontiert, dass der Staat, der ihre kollektiven Landrechte garantiert, andere wirtschaftspolitische Interessen verfolgt als sie. Lokale Führungspersonen kooperieren deshalb seit einigen Jahren in wachsendem Maß mit internationalen Organisationen. Diese bieten den Menschen vor Ort Schutz, indem sie Missstände öffentlich machen und so einen gewissen Druck auf die kolum­bianische Regierung ausüben. Yurumangui konnte sich dank seiner Nähe zum PCN international vernetzen. Mittlerweile gehört es zu den wenigen Gemeinden in der Region, denen es gelungen ist, ihr Land vor Palmölmonokulturen, industriellem Goldabbau und Drogenkartellen vorerst zu bewahren.

Die Gemeinden suchen nach langfristigen Projekten
Teilweise sind lokale Bestrebungen und die Prioritäten der internationalen Organisationen aber auch nicht miteinander vereinbar. Die Gemeinden suchen nach langfristigen Projekten. Die Entwicklungsorganisationen, die von den Prioritäten ihrer Geldgeber abhängig sind, verfolgen häufig kürzerfristige Ansätze, handeln unkoordiniert und folgen eher globalen Entwicklungsparadigmen als lokalen Präferenzen. Es wird auch immer deutlicher, dass die Vergabe von Landrechten in der Region kaum mit Überlegungen zu konkreten wirtschaftlichen Projekten verbunden war. In gewisser Weise ging man einfach davon aus, dass sich, sobald das Gebiet von externen Entwicklungsinterventionen abgeschirmt wäre, gleichsam natürlich wirtschaftliche Alternativen ergeben würden. Juan Popó*, ein PCN-Aktivist, sagt: »Vielleicht scheint es heute widersprüchlich, aber wir glaubten, dass uns Zugang zu unserem Land und die Erhaltung unserer traditionellen Produktionsmethoden auch eine eigene Entwicklung und Ernährungssicherheit innerhalb des Territoriums ermöglichen würden.«

Es bleibt jedoch unklar, was mit »eigener Entwicklung« und »traditionellen Produktionsmethoden« gemeint ist, zumal viele Gemeinden bereits seit den sechziger Jahren in starker Abhängigkeit von großen Rohstofffirmen stehen. Tatsächlich fühlen sich viele schwarze Gemeinden angesichts fehlender alternativer Einkunftsmöglichkeiten von der Regierung hintergangen. Ein grundlegendes Problem ist zum Beispiel, dass das kollektive Land nicht als Bürgschaft genutzt werden kann, was private Investitionen rar werden lässt. Felipe Guazá*, ein PCN-Aktivist aus Bogotá, sagt: »Der Staat überließ uns zwar unser Land, aber es wurden nicht mal die Mindestbedingungen geschaffen, damit wir dieses Land nutzen können.« Inzwischen gebe es einige Leute, die sagten, man habe die Afrokolumbianer als guardians of the forest abgeschrieben. Die Regierung habe stark in agroindustrielle Projekte in anderen Teilen des Landes investiert, aber nichts in den alternativen Ansatz der kollek­tiven Landrechte. Die Geographinnen Penelope Anthias und Sarah A. Radcliffe forschen zu Landrechten für indigene Bevölkerungsgruppen in Bolivien. Sie weisen darauf hin, dass es eine starke Diskrepanz zwischen idealisierten alternativen Entwicklungsmodellen und komplexen, oft nicht idealen indigenen Lebensrealitäten gibt. Indigene Gruppen würden typischerweise als komplett isolierte und traditionell lebende ethnische Gruppen dargestellt, deren kollektive Landrechte sie vor zerstörerischer Akkulturation schützen. Kollektive Territorien würden zu vom Markt ausgenommenen Räumen erklärt, in denen die Bevölkerung ausschließlich von Subsistenzwirtschaft lebe. In Wirklichkeit seien diese Gruppen jedoch bereits seit längerem nicht mehr autark. Auch wenn sie über kollektive Landrechte verfügten, seien sie als landwirtschaftliche Produzenten, Rohstoffanbieter, Lohnarbeiter und Konsumenten in den Markt eingebunden und somit kapitalistischen Erwerbsbedingungen ausgesetzt.

Für afrokolumbianische Gemeinden ist der Kokaanbau drei- bis fünfmal rentabler als anderweitige landwirtschaftliche Tätigkeiten.

Unter diesen ökonomischen Umständen gewann der Drogenanbau an Relevanz. Kolumbien ist seit den neunziger Jahren der weltweit größte Lieferant von Kokain. In der Pazifikregion fiel der Beginn des Kokaanbaus mit der Ankunft illegaler bewaffneter Gruppen und der wirtschaftlichen Einwanderung von Mestizen-Bauern sowie Nachkommen von Afrokolumbianern aus anderen Regionen zusammen. In den meisten Fällen brachten die Migranten ihr Wissen über den Kokaanbau in die Gemeinden ein, und bewaffnete Gruppen förderten ihn. 2017 erreichte der landesweite Kokaanbau mit einer Fläche von 171 495 Hektar einen beispiellosen Höhepunkt. 39,5 Prozent der Kokafelder befanden sich in der Pazifikregion, die Hälfte davon auf kollektivem Land afrokolumbianischer Gemeinden. Für sie ist der Kokaanbau drei- bis fünfmal rentabler als anderweitige landwirtschaftliche Tätigkeiten.

Der Drogenanbau hat die Gemeinden stark verändert. Isabela Mezí*, eine erfahrene Aktivistin aus Yurumangui, sagt: »Leider hat das Geld aus dem Drogenhandel dazu geführt, dass die Menschen ihre Ge­wohnheiten verloren haben und ihre Ansprüche gestiegen sind.« Viele junge Menschen betrachteten die Landwirtschaft heute nicht mehr als eine Option für sich. Dolores Golú*, eine ehemalige PCN-Aktivistin, die inzwischen im Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte in Bogotá arbeitet, sagt, das Problem sei, dass niemand in kollektive Landprojekte investiere. Solche Projekte seien aber wichtig für die Befriedung der Region. »Wir müssen nach einem wettbewerbsfähigen Projekt suchen, das natürlich niemals mit dem Drogenbusiness mithalten kann, das den Menschen aber ein nachhaltiges Leben in Würde sichert und es ihnen so ermöglicht, sich aus den Fängen der Gewalt zu befreien.«

* Name von der Redaktion geändert.