Dominik Graf hat Erich ­Kästners Roman »Fabian« verfilmt

Pathetische Moralität

Dominik Graf hat Erich Kästners Roman »Fabian« verfilmt, den Stoff dafür aber so stark verändert, dass aus der Satire ein Generationenporträt geworden ist.

Jakob Fabian ist ein Werbetexter mit Gewissen, der lieber nichts zu ­Fressen hätte, als von seinen moralischen Idealen abzulassen. In Erich Kästners 1931 erschienenen Roman »Fabian. Die Geschichte eines Moralisten« stolpert er unbeteiligt durch eine Sittenkarikatur des kleinbürgerlichen Berlins der Weimarer Republik und urteilt im Stillen, ob die Leute das »Talent zur Anständigkeit« haben.

Da wäre das Ehepaar Moll, das ihn vertraglich zum Libidozähmer der Frau machen will. Dann gibt es die Zeitungsredaktion, die Unruhen in Kalkutta erfindet und Reden des Reichskanzlers manipuliert. Mal schaut er einem Kabarett verrückter Dilettanten zu, dann wieder einer Schießerei zwischen einem Kommunisten und einem Nazi. Hier entpuppt sich ein Atelier als Stundenhotel von Gelegenheitslesben, die Männer ausnehmen. Dort ist ein Obdachloser eigentlich Erfinder, dessen Maschinen Tausende Arbeiter ablösten und der deshalb aus Amt und Würden floh.

Jakob Fabian hilft, wenn er Zeuge einer Ungerechtigkeit wird. Zwanghaft mutet seine Moralität an, was ihn zur komischen Figur macht. Er sei »Melancholiker« und »passiv«, sagt er. Irene Moll (im Film eindrucksvoll von Meret Becker gespielt) attestiert ihm »falschen Stolz«. Mit Berufung auf Anstand und Moral wehrt er sich gegen den Vorwurf, er handle nicht. Mit Humor hält er die Welt auf Abstand. Politisch ist er ein Mann der Mitte. Bezeichnend sein Beruf: Propagandisten müssen opportunistisch sein – und schlagfertig.

Als Vertreter der Neuen Sachlichkeit fing sich Kästner von Walter Benjamin Kritik ein. Der monierte 1931 in einer Rezension von Gedichten Kästners, dass »diese Strömung auf die Spuren einstiger Geistes­güter sich so viel zugute tut wie der Bürger auf die seiner materiellen. Nie hat man in einer ungemütlichen Situation sich’s gemütlicher eingerichtet.« Über die »linksradikale Intelligenz«, der er unter anderem Kästner und die Neue Sachlichkeit zurechnet, schreibt er: »Ihre politische Bedeutung aber erschöpfte sich mit der Umsetzung revolutionärer Reflexe, soweit sie am Bürgertum auftraten, in Gegenstände der Zerstreuung, des Amüsements, die sich dem Konsum zuführen ließen.«

Der Figur Fabian ist eine zeitlose, weil der Anstand und die Moral, die er verkörpert, beliebig mit Bedeutung aufladbar sind und man sie der vorherrschenden Ideologie einer Gesellschaft immer wieder anpassen kann. Doch »Fabian« ist erkennbar ein Buch, in dem Kästner selbst den Moralismus persiflierte.

Unter dem Titel »Fabian. Der Gang vor die Hunde« bringt Dominik Graf nun die zweite Verfilmung des Romans ins Kino (nach Wolfgang Gremms »Fabian« von 1980). Aus einer relativ heterogen angelegten Gesellschaftssatire des großstädtischen Kleinbürgertums macht Graf eine Art Generationenporträt. Als Vorlage dient »Der Gang vor die Hunde«, eine von Sven Hanuschek herausgegebene Neuauflage des Romans, die Kästners Urfassung zu rekonstruieren versucht. Alle Streichungen der Erstveröffentlichung – die Kästner auf Bitten seines Verlegers vorgenommen hatte – hat Hanuschek rückgängig gemacht, und aus dem Redaktionskapitel wurde wieder das berühmte Blinddarmkapitel.

Was Kästner als Gleiten durch unterschiedliche Szenerien und Milieus schon filmisch anlegte, verkürzt Graf auf dessen Kern. Die Verfilmung konzentriert sich vor allem auf die Szenen aus dem Buch, in denen Fabian und die ihm nächsten Figuren vorkommen, sein bester Freund Stephan Labude und seine Liebschaft Cornelia Battenberg. Da die drei in der Vorlage aber nicht zusammenkommen, erfindet Graf ganze Akte hinzu, was zu beachtlichen inhaltlichen Verschiebungen führt.

Graf möchte mit Jakob Fabian (Tom Schilling), Labude (Albrecht Schuch) und Battenberg (Saskia Rosendahl) so etwas wie das Schicksal der Generation erzählen, die zwischen zwei Kriegen aufwächst, und lässt sich zur Verwendung zweier stereotyper Erzählmuster deutscher Historienfilme hinreißen. Dem ersten dient, wie vor allem bei Fernsehproduktionen üblich, Historie bloß als Hintergrund, vor dem sich eine Liebesgeschichte abspielt. Das zweite ist typisch für die Darstellung der Weimarer Republik: Das aktweise sich häufende Auftauchen völkischer und nationalsozia­listischer Andeutungen, Symbole und Aussagen im Wechselspiel mit Beischlaf und burlesken Frivolitäten.

Zu Letzterem muss allmählich die Frage erlaubt sein, ob die Faszina­tion des heutigen Publikums für die immergleiche Kombination aus Weimarer Rumluderei und Unheilschwangerschaft einer sadistischen Lust folgt, die darauf wartet, dass die Hedonisten ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Graf spekulierte darauf, als er vor einem Jahr im ­Interview mit Frederik Jäger meinte, »die zwanziger Jahre feiern grad wieder frohe Urstände«, auf dem Markt herrsche also Nachfrage, wie der Erfolg der Serie »Babylon Berlin« zeige.

Graf gelingt es aber doch, solcherlei platte Schematisierung aufzubrechen, und zwar durch die Ästhetik. Die relativ konforme Erzählung von der guten Jugend mit den Nazis im Rücken macht Graf mit stilistischen Mitteln wieder wett: Der Film ist im 4:3-Format gedreht und nimmt Anleihen bei Filmen der Neuen Sachlichkeit. Die Badeszene lässt Robert Siodmaks »Menschen am Sonntag« auf­leben. Viele Szenen sind theaterhaft gehalten. Dem literarischen Verismus der Neuen Sachlichkeit wird Graf gerecht.

Kameramann Hanno Lentz folgt mit dokumentarischer Handka­mera dem Geschehen und verleiht dem voyeuristischen Blick Fabians mit einem Hauch Direct Cinema ­Leben. Grafs Montage ist temporeich und wunderbar unstet. Ab und zu baut er auf Verfremdungseffekte: Altes dokumentarisches Material funktioniert als Zwischenbild oder Szeneneinleitung, eine Prügelszene läuft in Zeitraffer, Begegnungen werden als Stummfilm gezeigt. Ohne Zweifel hat Dominik Graf die Atmosphäre des Romans virtuos ins Bild gesetzt.

Doch was für die ästhetische Ebene ganz selbstverständlich gilt, fordert der Film ungelenk auch auf inhaltlicher Ebene ein: Sein Sujet soll man ernst nehmen. Wohl auch, weil die Autoren eine Menge Stoff hinzugeschrieben haben. Kästners Komödie kommt im Film wegen der Reduktion auf Freundschaft und Liebe das ­Karikative abhanden, und mit den Ergänzungen hält das Drama Einzug. Kästner’sche Überzeichnung wird zu Graf’scher Überhöhung der Haupthandelnden und der in den Vordergrund geschriebenen Beziehung.

Am ehesten hat bei Kästner die Figur des Stephan Labude eine überzeugende Persönlichkeit und taugt als Rohmaterial für ein Filmscript mit dramatischem Impetus. Der Promovend kämpft für etwas und zieht Konsequenzen, wenn auch die falschen. Dem Kästner-Biographen Stefan Hanuschek zufolge ist sich die Fachwelt einig, dass kein anderer als Walter Benjamin ihm Pate stand.

Grafs Labude dagegen ist ein tontaubenschießender Bohemien, der zur Arbeiterklasse eine paternalistische und distanzierte Liebe pflegt. Seine SPD-nahe Forderung »radikaler Bürgerlichkeit« muss auf Linke jetzt noch ironischer wirken, als sie unfreiwillig in der gealterten Originalversion ohnehin schon erscheint. Graf hebt den Agenten der philanthropischen Großbürgerlichkeit in den Stand eines Widerstandskämpfers und politisch Verfolgten.

Die dreitägige Beziehung zwischen Battenberg und Fabian ist bei Kästner zufällig und aus der Not geboren, ihre Liebe wirkt verzweifelt, manisch und einstudiert. Ihre lustige Freizügigkeit ist bei Kästner Symptom von Eskapismus, bei Graf aber Zeichen für Wahrhaftigkeit. Graf macht die lose Liebelei zwischen den beiden zu schicksalhafter Liebe (die Erzählstimme im Hintergrund zählt die Minuten zum Kennenlernen rückwärts).

Weil Graf, laut Interview, versucht, den Schriftsteller Kästner an die Figur Fabians abzubilden, wird dessen einst autistisch anmutende Moralität pathetisch. Graf pathologisiert Fabians Defätismus, indem er ihm ein Kriegstrauma andichtet und ihn dazu verurteilt, sich immer die ­Ohren zuzuhalten, wenn es irgendwo rumst. Bei Kästner ist Fabian handlungsunfähig, weil er an seiner eingebildeten Integrität festhält. Grafs Fabian scheint bloß nicht zu wissen, was er werden will, wenn er groß ist.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde (D 2021). Buch: Dominik Graf, Constantin Lieb. Regie: Dominik Graf. Darsteller: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch