Das andere Texas zwischen Bohrtürmen und Alamo-Nostalgie

Nostalgie unter Bohrtürmen

Der US-Bundesstaat Texas gilt als besonders konservativ und als Hochburg der Republikaner. Doch der demographische Wandel könnte das bald ändern.
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Auf einem großen Platz im texanischen San Antonio steht ein Soldatendenkmal aus weißem Stein. »Sie beschlossen, sich weder zu ergeben noch zurückzuziehen. Mit stolz wehender Fahne starben diese mutigen Herzen in den Flammen der Unsterblichkeit«, heißt es in der auf den Sockel gravierten Widmung. Dieses Denkmal ist nicht US-amerikanischen Kriegstoten gewidmet, sondern den Märtyrern ­eines Nationalstaats, den es längst nicht mehr gibt. Zwischen Bürogebäuden, Hotels und einem Parkplatz steht bis heute das »Alamo«, ein kleines spanisches Fort, das im Frühjahr 1836 während des Texanischen Unabhängigkeitskriegs von mexikanischen Truppen belagert wurde. Der Krieg markierte den Anfang der Republik Texas. US-amerikanische Siedler in Texas lehnten sich damals gegen die Herrschaft Mexikos auf, zu dem das Gebiet gehörte.

»Viele Leute glauben, Texas sei ein Staat der Republikaner, dabei ist es vor allem ein Staat, der nicht wählt.« Terry Bermea, Battleground Texas

Anfang 1846 war es mit dem eigenen Nationalstaat schon wieder vorbei, Texas wurde zum 28. Bundesstaat der USA. Doch der Geist der kurzlebigen Republik, die auch Teile der heutigen Bundesstaaten New Mexico, Oklahoma, Kansas, Colorado und Wyoming umfasste, schwebt bis heute über Texas. Der markante Umriss des Bundesstaats ziert nicht nur in San Antonio Wände, Tätowierungen und Tausende Produkte. Die Bundesstaatsfahne mit ihrem großen weißen Stern weht vor vielen Häusern neben der US-Flagge oder ­sogar allein.

Freiheitsliebend und unabhängig – auch innerhalb der USA präsentiert sich Texas gerne als Sonderfall, als noch amerikanischer als alle anderen. An einem sonnigen Herbstvormittag bildet sich eine lange Schlange vor dem Besuchereingang des Alamo, der Andrang ist groß. Bis heute lernt jedes Schulkind in Texas von der Schlacht und ihren freiheitsliebenden texanischen Helden, die damals allerdings verloren haben und alle getötet wurden. Die Schlacht von Alamo gehört zum Gründungsmythos eines Ortes, der sich selbst liebt.

Freiheitsliebend für die Sklaverei
Mit der tatsächlichen Geschichte hat dieser Mythos nur wenig gemeinsam. Der Aufstand in San Antonio richtete sich vor allem gegen die voranschreitende Illegalisierung der Sklaverei in Mexiko. »Die weißen Männer am Alamo haben dafür gekämpft, dunkelhäutige Menschen besitzen zu können«, schrieben die texanischen Autoren Bryan Burrough und Jason Stanford im Juni in einer Kolumne in der Washington Post. Zusammen mit Chris Tomlinson haben sie auch das im Juni erschienene Buch »Forget the Alamo: The Rise and Fall of an American Myth« geschrieben – der Titel spielt auf den Schlachtruf »Remember the Alamo« an –, in dem sie mit dem Alamo-Mythos aufräumen und das vor allem in Texas kontrovers diskutiert wurde.

Die unabhängige Republik sollte Burrough und Stanford zufolge »der militanteste Pro-Sklaverei-Staat in der Geschichte« werden. Nach der Annexion durch die USA gab Texas einen schmalen Landstrich im Norden ab, der heute zu Oklahoma gehört, um ein Gesetz zu umgehen, das die legale Sklaverei geographisch eingrenzte. Indigene wurden getötet und enteignet, um Platz für den neuen Staat zu schaffen. Das riesige Gebiet, das den heutigen Staat Texas ausmacht, ist seit mindestens 15 000 Jahren von Menschen besiedelt.

Der Texas-Mythos bedient vor allem in der politischen Rechten weiterhin das Bild des harten, weißen Mannes im Einzelkampf mit der schroffen Einöde. »Wir haben in dieser Legislaturperiode die Pflicht, Texas als Heimat der amerikanischen Freiheit zu verteidigen«, so Gouverneur Greg Abbott Anfang des Jahres in einer Rede an das texanische Abgeordnetenhaus. Welche Freiheit der Republikaner meinte, machte er in den darauffolgenden Monaten klar: Das von seiner Partei geführte texanische Repräsentantenhaus verabschiedete neue Gesetze, die maßgeblich die Wahlgesetzgebung und das Recht auf Abtreibung betreffen. So sieht die Wahlrechtsreform, die im Dezember in Kraft treten soll, unter anderem vor, die Möglichkeiten der Briefwahl zu beschränken und die Öffnungszeiten von Wahllokalen zu verkürzen. Im Mai dieses Jahres hatte Abbott das »Herzschlaggesetz« (Heartbeat Bill) unterzeichnet, das Schwangerschaftsabbrüche weitgehend kriminalisiert (Jungle World 41/2021). Gegen beide Vorhaben gibt es allerdings Widerstand, sie werden derzeit vor US-Gerichten verhandelt. Seit September ist auf Abbotts Bestreben in Texas zudem erlaubt, auch ohne Lizenz oder Eignungsprüfung eine versteckte Schusswaffe zu tragen.

Das andere Texas
Vor allem außerhalb der Ballungsräume finden sich in Texas viele, die Abbott zustimmen. »Fuck Biden« steht in säuberlichen Druckbuchstaben auf der Rückscheibe eines blauen Pickups in Goldthwaite. Die kleine Ortschaft liegt im fruchtbaren Herzen von Texas, es ist warm, hügelig und grün. Gesichtsmasken sind trotz Pandemie nirgends zu sehen. In Mills County, dem ländlichen Bezirk, zu dem Goldthwaite gehört, erhielt Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr 2 217 Stimmen, Joe Biden nur 71. Auf dem Rasen des örtlichen Gerichtshofs steht bis heute ein Denkmal für die Armee der rassistischen Südstaaten. Als sich im vergangenen Jahr das Gerücht verbreitete, dass eine Demonstration gegen die Statue geplant sei, versammelten sich Dutzende teils schwerbewaffnete Freiwillige, um sie zu beschützen.

Ein Blick auf eine Karte mit Wahlergebnissen zeigt, dass es in Texas viele Gegenden gibt, die ähnlich wählen wie Mills County. Von 254 counties (Landkreisen) gewannen die Demokraten bei der Präsidentschaftswahl 2020 gerade einmal 22. Seit dem 17. Januar 1995, als die Demokratin Ann Richards aus dem Amt schied, haben nur noch Republikaner das Gouverneursamt in Texas bekleidet – und trotzdem gilt der Staat als heimlicher Hoffnungsträger der ­Demokraten.

»Viele Leute glauben, Texas sei ein Staat der Republikaner, dabei ist es vor allem ein Staat, der nicht wählt«, sagt Terry Bermea. »Die Republikaner haben über die Jahre hart daran gearbeitet, die Macht der Bevölkerung hier zu schwächen.« Bermea ist die Leiterin von Battleground Texas, einer der Demokratischen Partei nahestehenden Organisation, die sich der Mobilisierung neuer Wählerinnen und Wähler widmet. Am Telefon beschreibt Bermea sich als Person aus einem Elternhaus, in dem nicht gewählt wurde. Ihre alleinerziehende Mutter musste mehrere Jobs und die Erziehung von zwei Kindern stemmen, für politisches Engagement sei da kein Raum gewesen. »Ihre Priorität war, für uns zu sorgen«, so Bermea.

Gruppen wie Battleground Texas setzen ihre Hoffnung vor allem auf die sich wandelnde Demographie des Bundesstaats. Sogenannte Non-Latino Whites bilden in Texas längst weniger als die Hälfte der über 29 Millionen Einwohner, Latinos werden bald die größte Bevölkerungsgruppe sein. Zudem konzentriert sich die Bevölkerung immer stärker in den städtischen Regionen, wo überwiegend die Demokraten gewählt werden. Auch wenn diese bei den Wahlen 2020 nur 13 der 36 texanischen Sitze im US-Repräsentantenhaus erobern konnten, lebt in den demokratisch dominierten Landkreisen ein immenser Anteil der Bevölkerung. Mills County hat knapp 5 000 Einwohner, die demokratische Hochburg Harris County hingegen 4,7 Millionen. Für die Demokratische Partei ist Texas deshalb ein »sleeping giant«, ein schlafender Riese. Bei der Präsidentschaftswahl gewinnt in Texas, wie auch in fast allen anderen Bundesstaaten, der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen sämtliche Wahlleute für das Electoral College, das dann den Präsidenten wählt. Sollten die Demokraten es schaffen, Texas bei den Präsidentschaftswahlen für sich zu gewinnen, würden die Republikaner es schwer haben, in absehbarer Zeit wieder ins Weiße Haus ­einzuziehen.

Hightech und fossile Oldies
Falls sich Gouverneur Abbott Sorgen machen sollte, den Staat an die Demokraten zu verlieren, lässt er sich wenig anmerken. Vielmehr nutzt er die üblichen konservativen Ressentiments, um sich politisch nach rechts abzusichern. Als der ehemalige Präsident Donald Trump im September von ihm verlangte, eine vollständige Überprüfung der texanischen Wahlergebnisse von 2020 zu veranlassen, kam Abbott dem prompt nach. Auf Kritik im Oktober, er tue zu wenig für die Grenzsicherung, reagierte er unter anderem damit, die Staatspolizei an die mexikanische Grenze zu beordern, um diese gegen »Drogenkartelle und Schleuser« zu sichern.

Neben ideologischem Futter für die Basis zeichnen sich die Republikaner vor allem durch ihre Nähe zu den Unternehmern aus. Derzeit ist Abbott besonders beglückt darüber, dass Tesla sein Hauptquartier aus Kalifornien nach Texas verlagern will und auch der Firmengründer Elon Musk in die texanische Hauptstadt Austin gezogen ist. »Elon Musk glaubt an Freiheit und eine kleine Regierung«, twitterte Abbott kürzlich.

Im Zentrum der Hauptstadt Austin konkurrieren bereits eine Reihe namhafter Technologieunternehmen um Büroflächen. In vielen Cafés und Restaurants sind »Black Lives Matter«-Schilder und Regenbogenfahnen zu sehen, die meisten Passanten tragen Masken. Die Stadt boomt, im vergangenen Jahr ist der Preis für ein Einfamilienhauses dort um 35 Prozent gestiegen. Für den Bau eines neuen Werks östlich der Stadt erwartet Tesla 65 Millionen US-Dollar an Steuervergünstigungen.

Einige hundert Kilometer nordwestlich von Austin erstreckt sich eine braune Landschaft auf beiden Seiten der schmalen Autobahn. Bis an den Horizont sind die insektenartigen Silhouetten von Ölbohrtürmen zu sehen, die mechanisch im Abendlicht auf und ab wippen. Zwischen den Türmen stehen immer wieder Tanks, die großen, bauchigen Tonnen ähneln. Kurz vor der Ortschaft Andrews, fast 600 Kilometer von Austin entfernt, zieht sich der State Highway 176 nach Eunice quer durch das Permbecken, einen prähistorischen Meeresgrund, der eines der größten Erdölvorkommen der Welt beherbergt. Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird in dieser Gegend Erdöl gefördert, sie spielt seitdem eine wichtige Rolle für die texanische Wirtschaft.

Die Fördergebiete kündigen sich bei einer Fahrt durch das Becken an, schon lange bevor der erste Bohrturm in Sichtweite ist: Im Auto macht sich ein durchdringender Gasgeruch breit. »Das Permbecken ist für fast die Hälf­te aller Methanemissionen verantwortlich, die durch Öl- und Gasförderung in den USA produziert werden«, schrieb ein internationales Forschungsteam Ende Juni in der Fachzeitschrift Science Advances. Verantwortlich für die hohen Emissionen in der Region ist nicht nur das unbeabsichtigte Entweichen von Gas bei Bohrungen. Da es oft nicht profitabel ist, minderwertiges Gas ab­zutransportieren, wird es einfach in die Atmosphäre abgelassen – in Texas vollkommen legal.

Schwer wie Öl
Am entgegengesetzten Ende von Texas liegt der Großraum Houston mit über sieben Millionen Einwohnern. Die Stadt am Golf von Mexiko ist als vielfältige Kulturmetropole bekannt. Zu großen Teilen auf Sumpflandschaft gebaut, gilt Houston aber auch als ökologische Katastrophe. Raffinerien, die Erdöl aus dem Permbecken und von anderswo verarbeiten, stehen hier mitunter mitten im Stadtgebiet. In mehreren von Schwarzen und Latinos geprägten Vierteln nahe des Hafens ist die Inzidenz von Leukämie unter Kindern höher als im Durchschnitt in den USA. Eine Studie der University of Texas School of Public Health von 2007 ging von einer um 56 Prozent höheren Rate aus.

Marco García lebt und studiert in Houston und engagiert sich unter anderem bei der klimapolitischen Bewegung Sunrise Movement. Von der Umweltpolitik in seiner Heimat ist er frustriert: »Die Stadt hat so viele verschiedene Probleme und die Pläne der Regierung sind entweder ungenügend oder zahnlos.«

Ein Leben ohne die Erdölindustrie scheint in Houston genauso wenig denkbar wie in den kleinen Ortschaften des Permbeckens. Die Energieunternehmen beschäftigen nicht nur Tausende von Menschen, sondern investieren auch in den Bildungssektor und sponsern etliche Museen und Stadien. Das Bruttoinlandsprodukt der Metropolregion Houston betrug 2019 über 500 Milliarden US-Dollar – fast so viel wie das Schwedens.

»Statt sich den echten Problemen zu widmen, beschäftigt sich die Regierung damit, Abtreibung zu illegalisieren und das Wählen zu erschweren.« Marco García, Sunrise Movement

Doch Houston liegt nur knapp über dem Meeresspiegel, viele Wohngegenden entstanden in Überschwemmungsgebieten. Während der Klimawandel den Meeresspiegel im Golf von Mexiko steigen lässt und immer stärkere Stürme über den Südosten der USA ziehen, hat das Wasser durch die Versiegelung des Bodens immer weniger Platz, um abzufließen. Als im Jahr 2017 der Hurrikan »Harvey« die Region verwüstete, wurde ein Drittel der Stadt überschwemmt. Marco García erwartet keine Lösungen von dem Bundesstaat: »Anstatt sich den echten Problemen zu widmen, beschäftigt sich die Regierung damit, Abtreibung zu illegalisieren und das Wählen zu erschweren.«

Wenn es um Texas geht, ist das politische Establishment in den USA momentan auf keinen Ort so fixiert wie auf das Rio Grande Valley.

Das Gebiet liegt im Dreieck zwischen Mexiko und dem Meer, in der südlichsten Spitze des Staates. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung dort bezeichnen sich als Latinos und die Gegend gilt als ein­zige ländliche Basis für die Demokratische Partei in Texas. Die dortigen Ergebnisse begünstigten Biden zwar, fielen aber deutlich schlechter aus als die seiner demokratischen Vorgänger. Seitdem spekulieren beide politischen Lager, ob das Valley womöglich ins Lager der Republikaner und Texas damit für die Demokraten außer Reichweite rutscht.

Bermea von Battleground Texas ist selbst eine Latina aus dem Rio Grande Valley und sieht dieses Szenario skeptisch: »Das Valley ist keine konservative Region«, sagt sie, »aber auch hier wird nicht gewählt.« Ein maßgeblicher Teil der Arbeit ihrer Organisation bestehe darin, Personen für die Wahl zu registrieren. Denn in den USA werden Wahlberechtigte nicht automatisch zur Wahl zugelassen, sie müssen sich eigens anmelden. In Georgia, einem der anderen großen Bundesstaaten im Süden, hat die großflächige Registrierung von schwarzen und anderen marginalisierten Wahlberechtigten bei der Wahl 2020 den Unterschied gemacht. Bermea erscheint der Vergleich jedoch unpassend, denn die Auflagen für Gruppen, die Wahlberechtigte registrieren, seien in Texas weit komplizierter als in Georgia. »Ich muss für jeden der 254 Distrikte in Texas eine eigene Schulung machen«, erzählt Bermea. »Sie machen es uns absichtlich schwer.«

Der Umweltschützer García ist mit Blick auf den Einfluss des progressiven Flügels in der Demokratischen Partei optimistisch. Das Sunrise Movement hat vor ein paar Tagen seine Unterstützung für die Kongresskandidatin Jessica Cisneros ausgesprochen, eine Latina aus dem Rio Grande Valley.

Nur ein paar Dutzend Kilometer vor der Küste Houstons liegt ein riesiges Gebiet, das die Regierung Biden für neue Erdölförderkonzessionen versteigern will, wie sie am 17. November, nur einige Tage nach dem Ende der Klimakonferenz COP26, angekündigt hat. Es geht um mehr als 300 000 Quadratkilometer – das bislang größte Fördergebiet für Erdöl und Erdgas im Golf von Mexiko. Die Regierung war per Gerichtsentscheid dazu gezwungen worden. Republikanisch regierte Bundesstaaten unter der Führung Louisianas hatten erfolgreich gegen die Aussetzung der Konzessionsverkäufe geklagt, die Biden bei seinem Amtsantritt entschieden hatte.