Max Raphael war der Begründer der empirischen Kunstwissenschaft

Bildhafte Notwendigkeit

Die große wissenschaftliche Karriere blieb ihm verwehrt. Vor 70 Jahren starb der marxistische Kunsttheoretiker Max Raphael, der als Begründer der empirischen Kunstwissenschaft gilt.

Die Kunst Vincent van Goghs hielt er für »arm«, die Picassos für inkon­sequent. Seitenweise ließ er sich aus über Fläche und Raum bei den alten Meistern Leonardo da Vinci und Jacopo Tintoretto, bis ins kleinste ­Detail beschrieb er den Faltenwurf auf El Grecos berühmtem Porträt des Großinquisitors Kardinal Fernando Niño de Guevara. Max Raphael sei der »vielleicht größte Kunstphilosoph des 20. Jahrhundert«, schrieb das Times Literary Supplement 1952 in seinem Nachruf auf den Be­gründer der »empirischen Kunstwissenschaft«.

Raphael war besessen von genauen Bildbeschreibungen. Mit metaphysischen Spekulationen über Form, Inhalt und Wahrheitsgehalt von Kunstwerken gab er sich nicht ab. Durch exakte Beobachtung wollte er zum Kern der Sache vordringen. Dabei leitete ihn die Überzeugung, dass Kunst mehr kann als abbilden und soziale Wirklichkeit widerspiegeln. Damit setzte er sich auch von der seinerzeit dominanten Doktrin marxistischer Ästhetik ab, die aus dem sogenannten Widerspiegelungstheorem ableitete, was Kunst könne und solle.

In arbeitsteilig organisierten Gesellschaften fließen die Vorstellungen immer nur vermittelt in die Produkte und umgekehrt. Aus diesem Grund widmete sich Raphael den verschiedenen »Vermittlungs­gliedern« zwischen ökonomischen Bedingungen und schöpferischen Prozessen.

Demgegenüber etablierte er seine auf exakter Beobachtung beruhende »empirische Kunstwissenschaft«. Sie richtet sich gegen idealistische Vermutungen und materialistische Verengungen gleichermaßen. Das ­Empirische dieser Wissenschaft bezog sich einerseits auf das jeweilige Bild, seine Komposition und Ausführung selbst. Empirisch sollten andererseits aber auch der Schaffens- und Rezeptionsprozess in den Blick genommen werden. Es gibt also auch eine kunstsoziologische Dimension in den Schriften Raphaels, er berücksichtigt die gesellschaftlichen Bedingungen der Kunstproduktion und die unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Kunst. Es war ein Verdienst Raphaels, wie die Kunsthistorikerin Tanja Frank schreibt, die traditionelle Kunstwissenschaft »um den soziologischen Gesichtspunkt zu bereichern«.

Raphael, der 1889 in Schönlanke in der damaligen preußischen Provinz Posen geboren wurde, blieb trotz solcher Verdienste ein Außenseiter. Er hatte in Berlin bei dem Soziologen Georg Simmel und in Paris beim Philosophen Henri Bergson studiert. Der renommierte Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin lehnte seine Dissertation »Von Monet zu Picasso« mit der Begründung ab, das Thema sei zu zeitgenössisch. Eine Karriere an der Universität war ihm damit verwehrt.

Unter sehr viel bescheideneren Bedingungen als den universitären unterrichtete Raphael ab 1924 als ­Dozent für Kunstgeschichte und Philosophie an der Berliner Volkshochschule. Als sein Kurs über die wissenschaftlichen Grundlagen von Marx’ »Das Kapital« 1932 abgesetzt wurde, kündigte er und ging nach Paris, um seine Arbeit an einer empirischen Kunstwissenschaft fortzusetzen. 1933 erschien seine Studie »Proudhon Marx Picasso«, ein Jahr später folgte »Zur Erkenntnistheorie der konkreten Dialektik«. 1940 ­wurde Raphael als in Frankreich lebender »unerwünschter Ausländer« im Lager Gurs, 1941 in Les Milles interniert; im Sommer desselben Jahres konnte er in die USA emigrieren. Seiner Frau Emma gelang erst 1945 die Flucht aus Frankreich nach New York. Dort lebte das Paar bis zu ­Raphaels Tod unter prekären Verhältnissen.

Ende der achtziger Jahre gab der Suhrkamp-Verlag die von Emma ­Raphael zur Verfügung gestellten »Gesammelten Schriften« heraus. In der DDR erschienen seine Aufsätze in dem Band »Arbeiter, Kunst und Künstler« (1978). Heute ist der »In­genieur der Bildbeschreibung«, wie der Kunsthistoriker Bernd Growe ihn einmal nannte, nur noch wenigen bekannt. Das liegt nur zum Teil am technisch-trockenen Stil.

Raphael ging es immer darum, die sozialen Voraussetzungen sowohl der schöpferischen als auch der rezipierenden Tätigkeit zu analysieren. Er zielte darauf ab, wie es in »Wie will ein Kunstwerk gesehen sein?« (1930) heißt, »die Sprache der Formen, der Weltdarstellung, mit der Sprache der Weltanschauung« in ­Zusammenhang zu bringen. Es ist diese doppelte Frage, der sich jede materialistische Kunsttheorie stellen muss: welche Ideen sich in künstle­rischen Arbeiten manifestieren und wie die ins Werk gesetzten Ideen wieder zurückwirken auf ihren sozialen Kontext.

Raphael gab sich dabei nicht mit dem Diktum von Marx und Engels aus »Die deutsche Ideologie« zufrieden, derzufolge die herrschenden Ideen immer die Ideen der Herrschenden sind. Es sei doch etwas komplexer. In arbeitsteilig organisierten Gesellschaften fließen die Vorstellungen immer nur vermittelt in die Produkte und umgekehrt. Aus diesem Grund widmete sich Raphael den verschiedenen Vermittlungsgliedern zwischen ökonomischen ­Bedingungen und schöpferischen Prozessen.

All dies diente nicht bloß dem besseren Verständnis der Abläufe, also zur Verfeinerung der Wissenschaft. Worum es Raphael stattdessen ging, wird in einer Notiz in seinen »Lebenserinnerungen« deutlich. Dort schreibt er, dass er von seinen Schülerinnen und Schülern eine kontinuierliche »Selbsterziehung« verlange. Sie sollte darauf abzielen, aus den im Studium »gewonnenen Erkenntnissen die praktischen, sozial-politischen Folgerungen zu ziehen«. Auch seine Bemühungen, die Kunst besser zu verstehen, zielten auf Effekte jenseits der Kunst ab. Anders gesagt, sein »präzises Sehen«, wie Hans-Jürgen Heinrichs, der Mitherausgeber von Raphaels »Gesammelten Schriften«, die Bildbeschreibungen nannte, sollte das politische Potential der Kunst freisetzen. In jedem Kunstwerk sah Raphael Vorstellungen eingeschlossen, deren Freisetzung auch emanzipatorische Wirkung im Sozi­alen entfalten, zur »Gemeinschaftsformung« beitragen könnten.

Beim Publikum sollte ein »ästhetisches Gefühl« angesprochen oder ausgelöst werden, das Raphael als handlungsmotivierend ansah. Dass Kunst jedoch nicht auf alle gleichermaßen wirkt, beschäftigte Raphael schon früh. Der soziologische Aspekt seiner Kunsttheorie kommt etwa in der Frage »Wie soll sich der Arbeiter mit Kunst beschäftigen?« zum Ausdruck, die er zum Titel eines Aufsatzes machte.

Die ungleichen Geschlechterverhältnisse ignorierte er geflissentlich. Aber es sind nicht einmal diese Auslassungen und der zuweilen langatmige Schreibstil, die Raphaels Ansatz heute so sperrig erscheinen lassen. Es ist die Konzentration auf das einzelne Bild, die Bildzentriertheit selbst, die nur noch schwer auf die Gegenwartskunst mit ihren Per­formances, konzeptuellen Praktiken und multimedialen Projekten zu beziehen ist. Das ist vor allen dann ein Problem, wenn man wie Raphael davon ausgeht, dass es bestimmte Formsprachen gibt, die sich aus den jeweils herrschenden sozioökono­mischen Verhältnissen heraus aufdrängen. Er nennt sie »bildhafte Notwendigkeit«. Genau das war schließlich der Vorwurf gegen van Gogh, nur »höchste Suggestionskraft, nicht bildhafte Notwendigkeit« hervorgebracht zu haben.

Unter stärker werdenden Depressionen leidend und wissenschaftlich wie sozial isoliert, setzte Max Raphael seinem Leben am 14. Juli 1952 in New York ein Ende. Seine Frau Emma überlebte ihn um mehr als 30 Jahre. Ihr ist es letztlich zu verdanken, dass die Schriften dieses außergewöhnlichen Kunsttheoretikers bis heute auf ihre Aktualität hin geprüft werden können.