T-Time-Tour

Günstige Hebelverhältnisse machten Jan Ullrich bei der 14. Tour de France zum Sieger

Wahrscheinlich wird der Franzose Richard Virenque eine Art Jupp Zoetemelk: Seit Jahren als exzellenter Bergfahrer bei der Tour de France unterwegs, 1994 Fünfter des Gesamtklassements, im letzten Jahr Dritter, wird er die Rundfahrt wohl niemals gewinnen. Was die Sieger von gestern - Merckx, Hinault, Fignon - sagen, ist richtig: Jan Ullrich hat die Fähigkeit, eine kleine Radsport-Ära mit seinem Namen zu versehen. So wie der viermalige Sieger Jacques Anquetil Anfang der sechziger Jahre, Eddy Merckx, fünfmal Erster in den Siebzigern, oder Miguel Indurain, der zwischen 1991 und 1995 jeweils nach der letzten Etappe auf den Champs-Elysées das gelbe Trikot trug. Vielleicht aber hat Virenque, der Ullrich bei jeder sich bietenden Bergauf-Gelegenheit zu attackieren versuchte, aber auch jenes Glück, das dem damals kanpp vierzigjährigen Zoetemelk 1980 widerfuhr: Bernard Hinault, zuvor zweimal Tour-Sieger (und später noch dreimal), mußte wegen Kniebeschwerden aussteigen, und der Niederländer konnte im gelben Hemd nach Paris radeln.

Über Jan Ullrich, der ohnehin immer brav sagt, was alle erwarten, ist alles geschrieben, und zur Erklärung seiner Dominanz muß keineswegs - wie es der stern in seiner Titelgeschichte tut - ewig auf den Drill in den Kaderschulen des DDR-Sports hingewiesen werden. Ullrich hat immer fleißig trainiert und deshalb viel Kraft und einen Ruhepuls von 32, seine Körperanatomie weist günstige Hebelverhältnisse auf, er ist diszipliniert und willensstark: Eigenschaften, die ein Merckx oder Hinault auch besaßen, und die haben nie in Rostock oder Berlin trainiert.

Was anders ist als damals: Die Kooperation innerhalb der Mannschaften und damit ihre ausgewogene Besetzung wird immer bedeutsamer. Dem Belgier Walter Godefroot, einst selbst erfolgreicher Radprofi und vor Jahren angesichts seiner optimistischen Prophezeiungen noch belächelt, gelang es, den Sponsoren von der Deutschen Telekom alljährlich höhere Beträge abzuschwatzen, und so verfügt er heute mit den Kletterern Ullrich, Riis, Bölts, dem Sprinter Zabel sowie Heppner, Totschnig und Aldag, die immer mal wieder eine Lücke im Feld zufahren können, über eine Fahrer-Crew, die jede Rennsituation beherrschen kann. Auf den ersten Berg-Etappen waren es Totschnig und Bölts, die an der Spitze Tempo machten und damit Fluchtversuche verhinderten, Godefroot selbst war es, der Ullrich in den Pyrenäen den Auftrag bzw. die Erlaubnis gab, ohne die bis dahin geübte Rücksicht auf Teamkapitän Riis an die Spitze des Klassements zu fahren.

Ähnlich stark besetzt war lediglich die nach der spanischen Uhrenfabrik benannte und von ihr bezahlte Mannschaft Festina (Virenque, Dufaux). Das ebenfalls in Spanien beheimatete Team der Großbank Banesto, das mit Kapitän Indurain jahrelang die Tour beherrscht hatte, präsentierte sich heuer als Torso. Der als Mitfavorit gestartete Abraham Olano bekam Kollegen seiner Mannschaft nur zu Gesicht, wenn er einmal allzuweit zurückgefallen war.

Once, die Mannschaft der spanischen Blindenlotterie, mußte bald nach dem Tour-Start auf den verletzten Alex Zülle verzichten, während Once-Fahrer Laurent Jalabert, vor der Tour in der Weltrangliste führend, einmal mehr unter Beweis stellte, daß jemand, der bei Eintagesrennen gleich reihenweise gute Plazierungen erzielt, nicht unbedingt zum Sieg-Anwärter bei großen Rundfahrten zählt. Eine Sortierung übrigens, die auch umgekehrt gilt: wie seinerzeit Indurain, der die großen Frühjahrsklassiker - wenn er überhaupt teilnahm - als Trainingsfahrten nutzte, war auch Ullrichs Formkurve haargenau auf die Tour de France berechnet.