Unter Männern

Zur Ausstellung "Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung" in Berlin.

Ein Rückblick auf 100 Jahre Schwulenbewegung, wie ihn die Ausstellung "Goodbye to Berlin?" präsentiert, das ist ein Rückblick auf 100 Jahre Ringen um schwule Identität, um das politische Subjekt "Schwuler" und für gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Das Instrument zur Unterdrückung männlicher (später auch weiblicher) Homosexualität war der Paragraph 175, der sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen PartnerInnen entweder ganz oder (später) unter/mit Minderjährigen verbot. Die Ausgrenzung und Verfolgung einer bestimmten Sexualität zog die politische, ökonomische und juristische Ausgrenzung nach sich. Aus dieser Zwangssituation heraus wurden ganz spezielle Berufsbereiche in Kunst und Kultur im Kampf um gesellschaftliche Nischen und ökonomische Ressourcen erobert. Diese prägen einerseits das stereotype Bild des Schwulen, andererseits zieht die Bewegung aus diesem Kampf ihren Stolz .

Die Marktwirtschaft hat inzwischen die Kaufkraft des mittelständischen Schwulen entdeckt. Schwule Manager schließen sich im "Völklinger Kreis" zusammen, der Schwulenverband Deutschland (SVD) läßt sich vom Tabakkonzern Reemtsma sponsern, und in jeder Talkshow sitzen quotenmäßig mindestens zwei Homosexuelle. So gering scheint die Diskriminierung geworden zu sein, daß der schwule stern-Autor Werner Hinzpeter in seinem Buch "Schöne schwule Welt" Deutschland bereits zum Schwulenparadies erklärt.

Mit vielen Beispielen, die Hinzpeter anführt, hat er durchaus recht. Nach jahrhundertelanger Unterdrückung und Verfolgung aber haben Schwule allen Grund, mißtrauisch zu sein und Zeichen von Diskriminierung nicht als harmlose Zwischenfälle durchgehen zu lassen. Es ist noch nicht einmal zehn Jahre her, da hat eine keineswegs unbedeutende Zahl der Bevölkerung befürwortet, Zwangstests durchzuführen, HIV-Positive (und das waren nun mal überwiegend Schwule) in Lager zu internieren oder mit Tätowierungen zu kennzeichnen. Die Bedeutung von Hinzpeters Buch liegt denn auch vor allem darin, daß es einen Wandel im schwulen Selbstverständnis markiert. Die Zeichen stehen auf Integration - nur: in was für eine Gesellschaft integrieren sich die Schwulen eigentlich?

Anlaß der Ausstellung des Schwulen Museums Berlin und der Akademie der Künste - unter der Gesamtleitung von Andreas Sternweiler und Hans Gerhard Hannesen - war der hundertste Jahrestag der Gründung des "Wissenschaftlich-humanitären Komitees" (WhK) durch Magnus Hirschfeld im Mai 1897 in Berlin. Das WhK war die weltweit erste homosexuelle Selbstorganisation. Das Schwule Museum - weltweit das erste und einzige seiner Art - hat eine überbordende Sammlung von über 1 400 Exponaten zusammengetragen, die als Resultat jahrelanger akribischer und pfleglicher Forschung beeindruckt. Das alles kommt sehr ordentlich und bieder daher, und man weiß nicht so genau, ob hier, mit Blick auf ein heterosexuelles Publikum, dem Stereotyp der schrillen Fummeltrine entgegengearbeitet wurde, oder ob sich eine Bewegung als gesellschaftsfähig anbietet, und deshalb keine Experimente in Sachen Ausstellungsarchitektur wagte. Der fehlende Mut zur provokativen Inszenierung ist eine der großen Schwächen der Ausstellung, die zu sehr auf die Beredsamkeit von historischen Dokumenten vertraut.

Die Ausstellung sagt zu wenig darüber, wie Schwule an der Geschichte teilhatten: etwa, wenn der ermordete homosexuelle SA-Führer Ernst Röhm eher als Opfer der Nazis gezeigt wird denn als Teilhaber des Regimes. Röhm ist allerdings nur ein Beispiel für ein generelles Problem einer Bewegung, die ihr Selbstbewußtsein daraus zieht, unterdrückt worden zu sein. Eine Identität, die auf einem Mangel gründet, wird brüchig, wenn der Mangel gar nicht mehr so offensichtlich ist. Auch die Frauenbewegung hat sich schwer damit getan, die Erfolge, die sie selbst erzielt hat, zu akzeptieren und von ihren Opfermythen Abschied zu nehmen. Politisch gesehen besteht für das Subjekt "Schwuler" eine ebensolche Definitionsnot wie für das Subjekt "Frau": Je stärker die Ausdifferenzierung der Opfergemeinschaft in eine "community" der Opfer, Täter, Mitläufer, der Angepaßten, desto schwerer fällt die Behauptung einer einheitlichen Bewegung.

Tatsächlich verdeckte die Aids-Krise, daß die Schwulenbewegung schon Ende der siebziger Jahre an einem Endpunkt angelangt war. Fast verschämt findet sich ein Hinweis darauf, daß die heute als selbstverständlich empfundene Professionalisierung und Institutionalisierung der Schwulenbewegung beinahe ausschließlich über die Aids-Bewegung erfolgte.

"100 Jahre Schwulenbewegung" befindet sich in einem historischen Double-bind. Sie zeigt die Ambivalenz, die ausgehalten werden muß: einerseits eine zunehmende Integration und Anpassung derer, die sich trotz ihrer Homosexualität ökonomische und politische Ressourcen gesichert haben (und die Machtpositionen auch nutzen und ausnutzen) und andererseits eine Bewahrung eigenständiger subkultureller Identität derer, die gerade wegen ihrer Homosexualität Positionen an der Peripherie behaupten wollen.

Was Ausstellung, Rahmenprogramm und auch die aktuelle Literatur von Hinzpeter oder auch Elmar Kraushaar zeigen, sind (mehr oder weniger scharfe) Analysen des Gegebenen. Es fehlt eine politisch-gesellschaftlicher Theorie, die eine Kritik der Schwulenbewegung mit einer Gesellschaftskritik verbinden könnte. Die Forderung von Lesben und Schwulen nach einem Bleiberecht für ausländische PartnerInnen z. B. ist richtig. Die Durchsetzung wird aber ein Teilerfolg bleiben, solange das Asylrecht der Bundesrepublik nicht grundlegend geändert wird und das Bleiberecht durch einen Ehevertrag erkauft werden muß.

Dort, wo Ansätze zu einer kritischen Theorie geboten werden, werden sie nicht ausgespielt. Michel Foucault erscheint zwar in Bild und Text, seine Gedanken zu den Diskursen der Liebe als Diskurse der Macht werden jedoch nicht produktiv genutzt. Sonst hätte deutlich gemacht werden können, daß alle Diskurse, eben auch der über Homosexualität und Schwulenbewegung, nur zu führen sind, indem andere Diskurse ausgeschlossen und unterdrückt werden. Konkret heißt dies: der Diskurs über männliche Homosexualität schließt derzeit den über Frauen, über Lesben, über das Patriarchat, über das Geld, den Kapitalismus und auch den über Pädophilie aus.

Der sexuelle Reiz adoleszenter Jugendlicher wird genüßlich in zahlreichen Bildern zur Schau gestellt - zu Wort kommen dürfen Pädophile aber nicht. Es gibt keinen Hinweisdarauf, daß die politische und gesellschaftliche Toleranz mit dem Ausschluß der Pädophilen aus den Schwulenverbänden einhergeht. Der Pädophile steht für den häßlichen Teil der schwulen Welt. Während die schwulen Buchläden immer noch Umsatz mit Knaben-Magazinen machen, neigt der öffentlich-rechtliche schwule Mann dazu, Pädophile "natürlich" zu kriminalisieren.

Das größte Manko ist jedoch die Ignoranz, mit der Lesben und Frauen in der Ausstellung begegnet wird. Möglicherweise liegt der Grund dafür, daß "100 Jahre Schwulenbewegung" beinahe ausschließlich HIStory, Schwule-Männer-Geschichte zeigt, an den (historisch leicht verschobenen) Parallelen zwischen der Schwulen- und der Lesben/Frauenbewegung. Dort, wo sie die Konflikte teilen, sind sie sich untrennbar nah, eine eigene schwule Geschichte kaum mehr schreibbar. Um sie dennoch zu schreiben, müssen die Parallelen geleugnet oder ignoriert werden. Und sie werden von einer Mehrheit der Schwulen ignoriert. Und sofern es um Männer- versus Frauengeschichte geht, sind die Bewegungen weiterhin unüberbrückbar getrennt.

Zwar mit Bezug auf die männerbündlerische "Gemeinschaft der Eigenen" von Adolf Brand, aber mit einem kritischen Blick auf gegenwärtige und zukünftige Politiken, fragt Sabine Hark in dem zusammen mit Stefan Etgeton herausgegebenen Buch "Freundschaft unter Vorbehalt - Chancen und Grenzen lesbisch-schwuler Bündnisse" (ab September im Querverlag) zu Recht: "Wieso war die Kultivierung einer geschlechterseparierten, anti-feministischen Kultur für diese Männer wichtiger als der Aufbau einer reformierten, geschlechterdemokratischen sexuellen Emanzipationsbewegung? Und nicht zuletzt: Was sagt uns eine Geschichtsschreibung, die diese Konflikte ausblendet, über unser heutiges Selbstverständnis als Schwule und Lesben?"

100 Jahre Schwulenbewegung heißt auch 100 Jahre Bildproduktionen, die entweder direkt aus ihr entstanden sind oder sich dieser zuordnen lassen können. Das heißt auch 100 Jahre männliche Pin-ups und 100 Jahre, mehr oder weniger chiffriert, Homosexualität als Thema in der jeweils zeitgenössischen Kunst. Die Ausstellung unterscheidet da nicht zwischen "Gebrauchs"kunst und hoher Kunst, weshalb Fotografien von nackten Jünglingen und Männern, Freundschaftsbildnisse und sexuelle Szenarien sowie Kunstmarktkunst unhierarchisch als Zeitzeugnisse gezeigt werden. Die Gleichung, (nackter) Mann = Homosexualität in der Kunst, scheint dennoch oft zu einfach und kontraproduktiv. Die rabiate deutsch-nationale und rassische Motivation Adolf Brands bei der Erstellung einer Serie von fotografierten männlichen Akten unter dem Titel "Deutsche Rasse" (um 1920), wird mit der flapsigen Geste abgetan, all sein Gerede über die angeblich wissenschaftlichen und rassehygienischen Zwecke seinen nur Verbrämungen der eigentlichen Absicht, nämlich Pornos für schwule Männer herzustellen.

Auch allerlei Mythen von Autorenschaft und Männlichkeit bleiben undiskutiert, etwa da, wo Kunsthistoriker Spiegelverhältnisse mit Künstlern eingehen, wie im Falle des Bildhauers Aristide Maillol. In die Kunstgeschichte mit seinen massigen weiblichen Skulpturen eingegangen, ließ er sich von seinem schwulen Mäzen Harry Graf Kessler um 1908 überreden, einen schmächtigen Jüngling zu skulptieren, und zwar als Kesslers (nicht Maillols!) "stolze Antwort eines kultivierten Schöngeistes auf die Schmutzkampagne (des Kaiserreichs), die sich gleichzeitig gegen alle Homosexuellen richtete". Die Skulptur trägt - ganz en passant - den Titel "Radfahrer". Hier spiegeln sich die Ausstellungsmacher im Mäzen im Künstler!

Verwunderlich, vielleicht aber auch nicht ohne distanzierte Selbstironie, ist die Feststellung, sofern man den Begriff "schwule Kunst" überhaupt verwenden könne, träfe er auf Elisar von Kupffers "Schleiertanz" (1918) zu. "Die kitschige Schönheit der androgyn jugendliche(n) Gestaltung der Selbstbildnisse ist Ausdruck seiner Sehnsucht nach einer heilen Welt, einem schwulen Paradies." Feministische kunsthistorische Forschung scheint an den Ausstellungsmachern vorüber gegangen zu sein. Schon 1971 hatte Linda Nochlin in ihrem Artikel "Why Have There Been No Great Women Artists?" gegen befindlichkeitsästhetische Tendenzen in der feministischen Kunstgeschichte festgestellt, daß "Kunst" gerade nicht "der direkte persönliche Ausdruck individueller emotionaler Erfahrungen, eine Umsetzung persönlicher Lebenserfahrung in Bildern" sei. "Die Sprache der Kunst ist weder Rührstück noch intimes Geständnis". Mit Nochlin gesprochen gäbe es, wenn von Kupffer Beispiel sein soll, keine schwule Kunst, allenfalls gemalte oder fotografiert oder skulptierte schwule Bekenntnisse.

Die Arbeiten von George Quaintance oder Tom of Finland wären so gesehen nichts anderes als die Zurschaustellung von Hypermaskulinität. Beide arbeiteten in den fünfziger Jahren in der populären Pin-up-Ästhetik. Doch während der heterosexuelle Markt überschwemmt wurde von - für damalige Verhältnisse - leichtbekleideten, vollbusigen Frauendarstellungen, ist in den Arbeiten von Quaintance und Tom of Finland schwuler Sex das ausschließliche Thema. Der Blick raus aus der schwulen Subkultur hätte die Subversion dieser Arbeiten deutlich gemacht. Während die weiblichen Pin-ups ungehindert ihren Weg in Arbeiter- und Soldatenspinde gefunden haben, konnten diese Bilder nur im Verborgenen oder in Szenezeitschriften ihre Wirkung entfalten. Beide Maler waren also nicht nur trendy in ihrer Ästhetik und trugen zum Selbstbild und Selbstverständnis der Schwulen bei. In einem weiter gedachten Kontext betreffen diese Bilder auch den unzensierten heterosexuellen Voyeurismus - und zugleich entlarven sie ihn auch.

Über Schwule und Kunst in der Ausstellung zu schreiben bedeutet auch, die Zusatzinszenierung "Positionen schwuler Kunst" zu berücksichtigen - auch wenn dies ein ärgerlicher Appendix zur Gesamtschau ist. Ärgerlich ist die dreiste Eitelkeit der Kuratoren Martin von Ostrowski und Rinaldo (Hopf), die - so der Katalogtext - das "spezifisch schwule Element" im "Interesse am Sexualobjekt Mann" sowie am "Einfühlungsvermögen in weibliche Geschlechterrollen" entdeckt haben. Eitel ist, daß hier in Sachen Geschlechterrollen mit etwas kokettiert wird, was andernorts heftig bekämpft wird - nämlich von der feministischen Wissenschaft. Im Hinblick auf diese Diskussion kann man es nur als Böswilligkeit werten - oder als Ignoranz - wenn von Ostrowski über sein Selbstbildnis als "Königin Luise" von einer "prachtvollen Nachahmung weiblicher Ästhetik" schreibt.

"Schwule und Kunst" setzte die problematische Seite der schwulen Leistungsschau fort. Einerseits öffnet dieses Thema die Augen dafür, was in der tradierten Kunstgeschichte bis heute unterdrückt und verschwiegen wird, nämlich Homosexualität und homosexuelles Begehren im formalen kunsthistorischen Schreiben und ihre Maskierung im Konzept reinen ästhetischen Genusses. Andererseits aber wird "schwul" zum Zwecke eines Meisterdiskurses essentialisiert, Selbstbewußtsein und Anmaßung reichen sich die Hände - über den Abgrund des Ausgegrenzten.

"Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung." Bis 17. August 1997, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Berlin, täglich außer Montag 12-20 Uhr. Ausstellungkatalog: Verlag rosa Winkel, in der Ausstellung 48 Mark, gebundene Ausgabe im Buchhandel 68 Mark