Die Linke muß populärer werden

Schluß mit den politischen Ritualen! Frankreich diskutiert über ein Essay zur Ökonomie.

Abgesehen von den shareholder values wird in diesem Land über Ökonomie - die materielle Basis in letzter Instanz, wie es Engels formulierte - kaum debattiert. Das könnte jetzt anders werden. Dieser Tage kommt ein Buch in die Buchhandlungen, das in Frankreich bereits über 300 000 mal verkauft wurde: "Der Terror der Ökonomie" von Viviane Forrester. Anstatt die richtigen Fragen zu stellen, werden die alten sozialen und politischen Rituale gepflegt, moniert die Literatin und sagt uns eigentlich damit nichts Neues. Und doch ist gleichzeitig auch etwas Neues an ihrer Art der Auseinandersetzung mit dem täglichen Wahnsinn. Leider wird bisher - in der Bundesrepublik - nicht so sehr über den Inhalt des Buches geredet, sondern darüber, daß es eine Romanautorin gewagt hat, im ökonomischen zu wildern und dabei ein apokalyptisches Bild der Wirtschaft zeichnet. Ökonomen behaupten, Forresters irrationale Argumente taugten nicht für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Recht haben dagegen die Kritiker, die das Buch als "Pamphlet" bezeichnen. Allerdings tun sie das in denuziatorischer Absicht. "Terror der Ökonomie" ist im besten Wortsinn eine "Schmähschrift" - eben ein Pamphlet - gegen den Wirtschaftsliberalismus, wie ja der Kapitalismus neuerdings genannt wird. Das Besondere an Forrester ist, daß ihr aus linksbürgerlicher Sicht etwas gelungen ist, wovon linke Theoretiker - gleich welcher Couleur - nur träumen: Über das Buch wird nicht nur in inner circles debattiert; zu Tausenden kommen die Menschen zu den Lesungen und fangen an, sich mit ökonomischen Fragen auseinanderzusetzen. Die Neue Zürcher Zeitung merkt an, daß das Bemerkenswerte an Forresters "Strafrede gegen den Horror des ökonomischen Einheitsdenkens" sei, daß hier eine Intellektuelle den seit langem ersten Schritt getan hat, um das Feld einer "populären Gesellschaftskritik" für die Linke zurückzuerobern.

"Populäre Gesellschaftskritik?" Ja eben! Populär dem Volk etwas vermitteln, hat nichts mit (rechtem) Populismus zu tun. Genau das ist die Stärke ihres Buchs: Es geht vordergründig nicht um eine scharfzüngige shareholder-value-Analyse oder einen visionären Gesellschaftsentwurf - es geht um das Öffentlichmachen der täglichen Sauereien. Der Joumalist Martin Kempe schreibt im Nachwort zu Jeremy Rifkins "Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft", entweder nimmt die Politik den Zerfall der bestehenden Arbeitsgesellschaft mit den "Strukturen der Wohlstandsverteilung und sozialen Sicherung" hin, oder ein neues "Wohlstands- und Sozialmodell" wird entwickelt, in dem aber die klassische Form der Erwerbsarbeit ihren zentralen Platz verliert: "Seit Jahren weist André Gorz auf diese unausweichliche Alternative ohne nachhaltige Resonanz hin." Über die Wohlstandsverteilung ließe sich mit Kempe noch streiten, daß Gorz ohne Resonanz bleibt, liegt vielleicht an den angehängten 32 Seiten Fußnoten ... Forresters Buch dagegen ist "verdaulicher", und sie fragt eher vorsichtig, warum man nicht nach einem neuen Modus der Verteilung des Reichtums sucht: "Ein Modus, der nicht unbedingt auf Entlohnung für eine Arbeitsstelle basiert."

Bevor überhaupt an solche Zukunftsentwürfe zu denken ist, muß der Boden dafür bereitet werden. "Wohlstand für alle" funktioniert im Kapitalismus nicht - davon müßten zunächst die Gewerkschaftsführungen überzeugt werden, damit diese dann ihre Mitglieder überzeugen. Dann wäre da noch die mediale Verblödungsmaschinerie. Da sich's mit vernebeltem Hirn schlecht denken läßt, ohne die Menschen aber auch nichts zu bewegen ist, muß man sich etwas einfallen lassen, damit in dieser trägen Republik wieder nachgedacht wird. "Denken ist immer politisch", sagt Viviane Forrester in einem Interview mit der Frauenzeitschrift Brigitte; sie arbeite in einem Genre, das mit Denken zu tun hat: "Der beste Beweis, daß Kunst und Kultur politischen Charakter haben, ist doch der, daß jedes totalitäre Regime als erstes die Presse zensiert und die Kultur zu unterdrücken versucht." Als Beispiel führt sie dann an, daß in den drei südfranzösischen Städten, wo der Front National regiert, Subventionen für politische Vereine gestrichen, Theater attackiert und Bibliotheken gesäubert wurden. Indem sie die Wirtschaftspresse und Konzernbilanzen gegen den Strich gelesen hat, entlarvt sie zum einen die menschenverachtende Sprache und zeigt zum anderen, daß es hinter Bilanzen auch noch Menschen gibt, die um Kultur und Bildung beraubt werden.

Von dem eben verstorbenen Jürgen Kuczynski ist überliefert, daß er sich in einem Leitartikel für die Rote Fahne recht kompliziert und "rein rhetorisch" über die kapitalistische Krise ausgelassen hat. Mit der Bemerkung "zuviel zyklische Krise. Zuwenig zerbrochene Klosettdeckel", reichte Ernst Thälmann den Artikel an den Autor zurück. "Ich glaube, ich habe in meinen Schriften gezeigt, daß der Genosse Thälmann mich nicht umsonst gemahnt hat", schreibt Kuczynski in seinem "Fortgesetzten Dialog". Will sagen: Der Linken würde es nicht schaden, wenn sie die täglichen Sorgen der Menschen im Blick hätte! So wie damals der Kampf der Betriebsobleute für ordentliche Klodeckel von den Arbeitern geschätzt war, so müssen sich heute Betriebsräte kümmern, damit ergonomische Mindestanforderungen an Bildschirmarbeitsplätze eingehalten werden. Dabei geht es auch um ein Stück Menschenwürde: Bei der Arbeit nicht krank zu werden!

Anders ausgedrückt: Die Linke hierzulande ist zu sehr selbstverliebt und bleibt gerne in der Analyse stecken, als daß sie ein Gespür für dafür hat, was die Menschen bewegt. Revolutionsromantiker werden jetzt sagen, Klassenkampf sei angesagt; nicht am System rummoddeln, das System stürzen. Gut so, fangen wir an - nur: Gebückt kämpft sich's schlecht. Viviane Forrester sagt, ihr gehe es in ihrem Buch auch darum, den Menschen ein Stück Selbstvertrauen zurückzugeben: "Selbstvertrauen ist die Voraussetzung für Widerstand, doch Widerstand muß jeder selbst leisten, ich höre von immer mehr Leuten, die in den Widerstand gehen."