Don Quichottes Abenteuer in SoHo

Ein Zuchtmeister in Frauenkleidern setzte eine der wichtigsten Kunstrichtungen in Szene. Maciunas-Fluxus-Reminiszenzen

Er war ein stilles Kind, weinte nicht (behauptete seine Mutter Leokadija), setzte eine der wichtigsten Kunstrichtungen in Szene, und noch als er im Sterben lag, keine 47 Jahre alt, war er umgeben von emsigen Freundinnen und Verehrern, die seine berühmten Schachteln zusammenstellten.

Ich kenne wenige Künstlerbiographien, die mich so gerührt haben wie "Mr. Fluxus. Ein Gemeinschaftsporträt von George Maciunas 1931-1978" von Emmett Williams und Ann No'l.

Das Buch ist eine Abfolge kurzer Statements, Briefe und Tagebuchexzerpte der wichtigsten Weggefährten des genialen Litauers: Nam June Paik, Dick Higgins, Jonas Mekas, George Brecht, Tomas Schmit, Ben Patterson, Alison Knowles, Billie Hutching, René Block u.a., darunter erstaunlich viele Japanerinnen (Mieko Shomi, Yasunao Tone, Yoko Ono).

Es erinnert zugleich an eine der schlimmsten Fehlentwicklungen der Kunst in den letzten 35 Jahren.

Während es Maciunas darum ging, die Kunst von den entwürdigenden Kinkerlitzchen und debilen Attitüden, die ihr der Kunstmarkt aufzwingt, zu reinigen, sie radikal vom Markt, auch vom Markt der Eitelkeiten, zu trennen, und die Künstler wieder mit sinnvollen Tätigkeiten zu beschäftigen, erleben wir heute die Apotheose eines als Kunst oder Antikunst deklarierten Schwachsinns.

Der Vater Maciunas war Architekt und Ingenieur, die Mutter Tänzerin. 1944 floh die Familie vor den Russen nach Deutschland, 1948 wanderte man aus in die USA, lebte auf Long Island. Yurgis (George) studierte von 1949 bis 1960 allerlei Fächer, die etwas mit Grafik, Design, Musik, Architektur, Kunstgeschichte zu tun haben und gründete 1961 mit Almus Salcius (auch er treuer Litauer) die AG Gallery an der Madison Avenue.

Da er kein Geld besaß, renovierte er die Räume selbst, schlug den Putz von den Wänden, arbeitete ohne Schutzmaske, holte sich einen entsetzlichen Husten, der sich in chronisches Asthma verwandelte. Fortan konnte er nicht mehr ohne Kortison auskommen.

Maciunas war der leibhaftige Pechvogel, das ewige Scheitern Teil seiner Größe, die Bescheidenheit seine Stärke, der Mißerfolg sein Erfolg. Diverse Krankheiten, die ihn schon als Kleinkind plagten, seine großen und kleinen Katastrophen, seine Pleiten und irrwitzigen Geschäfte verschönern seine Biographie wie die Stolperstellen einer großen Komödie.

Eine Zeitlang ernährte er sich und seine zahlreichen Freunde mit den Mustern europäischer Gourmet-Konserven, die er in die USA verkaufen wollte. Natürlich scheiterte das Geschäft. Gerne kaufte er auch riesige Mengen Konservendosen, die im Supermarkt verramscht wurden, weil sich die Etiketten gelöst hatten, so daß man nicht wußte, was sich in den Dosen befand.

Erhellend das Foto des Fluxladens. "Wenn die Türklingeln gepreßt, gedrückt oder anderweitig manipuliert wurden, gaben sie Klänge, Wasser, Musik oder andere Überraschungen von sich" (Dick Higgins). Leider hatte der Laden in der Canal Street in den acht Monaten seines Bestehens nicht einen Kunden.

Maciunas' Marotten waren köstlich und tiefsinnig zugleich. Seine Abneigung gegen Tabakrauch (das Asthma!) war so groß, daß auf seiner Farm in Massachusetts auch im Freien nicht geraucht werden durfte. Auf der Toilette hing ein Schild, das den Raucher vor versteckten Benzinkanistern warnte.

Er war auch Meister im Sparen von Strom und Wasser und Erfinder skurriler Ordnungen. Die mit unzähligen Werkzeugen und Utensilien übersäte Wand seines Büros hätte spätestens bei der 1972er documenta gezeigt werden müssen, gleich neben Claes Oldenburgs Mäuse-Museum.

Theorie wird man nicht viel finden in diesem Buch, und auch das macht es angenehm zu lesen, in einer Zeit, die jede Locke auf einer Künstlerglatze mit einem Wust unbegreiflicher Sätze bedenkt. Fluxus ent- und bestand - auch hierin revolutionär - ohne Theorem und Gerede.

Wenn Maciunas ein Konzert plante, sagte er etwa: "Jemand könnte eine Handvoll Nägel mitbringen. Ich denke, ich werde heute abend die Klaviertasten festnageln."

Und das tat er dann auch. Im schwarzen Anzug, mit eiserner Miene. Das Ganze hieß "Zimmermanns-Stück". Überhaupt ist der große Ernst auffallend, mit dem Fluxus auftrat.

Die sechs Akteure, die Maciunas "In memoriam to Adriano Olivetti" an der New Yorker Fluxhall aufführen, tragen Bowlerhüte, die sie ständig auf- und absetzen (man kann auch Regenschirme nehmen!), und die fünf Herren, die 1962 in Wiesbaden "Eine kleine Nachtmusik" zelebrieren, tragen zum Werkzeug (Bügelsäge, Hammer, Stemmeisen) Anzug und Krawatte und sind ruhig und mit Würde bei der Arbeit. Richtige Kunst-Handwerker.

Ohne Theorie und Vorsatz schaffte es Maciunas, alltägliche Verrichtungen in die ernste Schönheit von Kunst zu verwandeln. Das schloß bedrohliche Situationen nicht aus. Seine Vorschläge für die Propaganda-Arbeit (Verkehr behindern, Tunnel und Briefkästen verstopfen, Museen, Theater und Galerien lahmlegen) hatten auch terroristische Züge.

Der Plan führte fast zur Spaltung der Gruppe und blieb unausgeführt (bis auf den Streik gegen ein Konzert mit Musik des entsetzlichen Karl-Heinz Stockhausen). Dafür wurde Maciunas selbst Opfer eines Überfalls.

Als in den siebziger Jahren das Fluxhouse Cooperative Building Project in Downtown New York leerstehende Fabrik-Etagen aufkaufte, um Künstler-Lofts zu schaffen, schickte die Immobilien-Mafia ihm die korrupte Stadtverwaltung auf den Hals.

Der Rechtsstreit eskalierte zu einer Art Krieg. Maciunas rüstete seine Wohnung zu einer Festung hoch, setzte die Feuerleiter unter Strom, installierte scharfe Klingen an der Außentür und legte bizarre Fluchtwege an, mit einer Kammer, in der es Perücken und Kostüme zum Verkleiden gab.

Sein Plan war, unerkannt die Treppe herabzukommen und die Vollzugsbeamten zu fragen, ob sie jemanden suchten. Seine Freunde im Ausland bat er, Postkarten an den New Yorker Staatsanwalt zu schicken, um den Eindruck zu erwecken, er befinde sich auf einer Weltreise.

Die Beschreibungen dieser Episode gehören zu den Höhepunkten des Buches. Sie zeigten den sozial-politischen Ansatz seiner vielfältigen Aktivitäten, denn die Fluxkoop machte Schule und führte zu ähnlichen Gründungen in SoHo und anderen Teilen von New York. Andere verdienten sogar Geld damit, während Maciunas abermals drauflegte bzw. fast draufging.

Die Mafia schickte ihm zwei Killer auf den Hals. Er beschreibt den Überfall, als wäre er eine Art Fluxus-Event gewesen. Die Fotos danach zeigen ihn erst auf der Intensivstation, irgendwie heiter, später mit einem schwarzen Brillenglas vor dem ausgeschlagenen Auge.

Der Begriff "Fluxus" wurde, wie es scheint, in den Morgenstunden des 9. Oktober 1960 in der Almus Gallery Long Island als Name für ein Magazin gefunden, in dem u.a. ein Artikel über "Litauens Position in der Welt" von Salcius und einer über sowjetische Musik von Maciunas erscheinen sollten. Statt dessen gründete man die AG Gallery, in der es chaotisch zuging.

Einmal, berichtete der Filmemacher Jonas Mekas, sagte ein Maler zwei Tage vor der Vernissage ab. So machte Maciunas, unterstützt von Mekas, sich selbst an die Arbeit und "in etwa fünfzehn Minuten hatte er einige zwanzig Leinwände 'bemalt'" (Mekas). Die so geschaffenen Farbtropfenbilder sind heute, da jeder Flux-Schnips el einem Museum ruht, begehrte Objekte. Maciunas hat zu Lebzeiten auch davon keine Einkünfte gehabt.

Von Anfang an war unklar, was Fluxus überhaupt war. Auffällig sind die Nähe zum Marxismus, die Sympathien für das Sowjetsystem unter Einschluß des Trotzkismus (den Henry Flint vertrat) und der interdisziplinäre Charakter der Bewegung. Maciunas versuchte z.B. Chruschtschow zu überzeugen, daß man in der Sowjetunion die falsche Kunst fördere; an sich sei Fluxus dem entwickelten Sozialismus angemessen.

Häufig erscheint Fluxus als Musikrichtung, und es gab ja auch Musiker in der Gruppe. Das große Ereignis in Wiesbaden 1962 nannte sich "Fluxus Internationale Festspiele Neuester Musik". Das Festum Fluxorum in Paris im gleichen Jahr trug den Untertitel "Poésie, musique et antimusique événèmentielle et concrète". Die Ankündigung für Düsseldorf 1963 versprach "Musik und Antimusik. Das instrumentale Theater".

Andererseits war der Gebrauch von Musikinstrumenten oft recht unkonventionell. Viele Fluxus-Stücke erfordern keine herkömmlichen Instrumente; eventuell produzierte Töne waren ohnehin nur ein Teil der Aufführungen. Nam June Paik z.B. spielte Klavier bei René Block im Souterrain mit heruntergelassener Hose, ein rohes Hähnchen zwischen den Zähnen, mit dem er die Tasten bearbeitete.

Charlotte Moorman, die eine hervorragende Cellistin war, hatte das Instrument in einer gefüllten Plastikwanne stehen und trug als Robe nur eine Klarsichtfolie. Ich kauerte hinter ihr auf Knien und Ellenbogen und diente als Hocker.

Sie ritt auch auf mir, als sie ebenso unbekleidet am Brandenburger Tor spielte, während Paik seinen Musik-Roboter dirigierte. Auch von Joseph Beuys gibt es geniale Fluxus-Stücke. Bei Block in Westberlin gab er den "Gesang des Hasen". Beuys lag stundenlang am Boden in eine Filzdecke gehüllt. Die Hasen wurden später in der WG über dem schwulen Kleist-Casino, wo Block, H.C. Artmann, Sauerbier und andere Artisten wohnten, geschmort und verzehrt.

Das war etwa 1965, aber am typischsten aus dieser Reihe war vielleicht "This Way Brown", ebenfalls von Block veranstaltet. Wir warteten in der Galerie, während Robert Brown durch Berlin irrte. Keiner wußte, wo er war und was er dort machte. Der Galerist Block, der sein Geld als Postfacharbeiter verdiente, bewegte die zierlichen Füße in winzigen Tanzschritten und schaute verlegen zu Boden.

Viele Fluxus-Notationen sind Anweisungen für derlei szenische Aktionen. Die Stücke ähneln Sketchen, unterscheiden sich jedoch durch ihre subversive Komik. Sie ähneln auch Happenings, sind jedoch nicht so trivial und im Ablauf nicht so zufällig und ins Belieben der szenischen Akteure gestellt. Man braucht freilich einen geübten Blick, um das Tun der Künstler nicht für Nonsens zu halten.

Das Musikalische war jedoch nur ein Aspekt der Bewegung. Ihre Intentionen galten für andere Disziplinen ebenso, wurden dort jedoch unterschiedlich bewertet. Die Musikkritiker und die Literaturszene hatten fast nur Spott übrig. Die bildenden Künstler und Theaterleute erwiesen sich dagegen als die üblichen Trittbrettfahrer und Plagiatoren. Joseph Beuys in Ehren, aber seine Arbeit ist ohne die Vorarbeit von Maciunas und seiner Leute nicht denkbar.

Auch der Ansatz, Künstler davon abzuhalten, sich als Pausenclowns für reiche Sammler und Kunstbetriebsnudeln mißbrauchen zu lassen, gehört hierher. Bei Maciunas spielte das Sammeln von Steinen und anderen, wertmäßig unbedeutenden, jedoch schönen kleinen Gegenständen, die seine Fluxus-Boxen füllten, eine wichtige Rolle.

Er war andererseits auch am stärksten politisch geprägt. Sein Regierungsstil war durchaus diktatorisch, seine Wutanfälle waren gefürchtet, seine Bannflüche jedoch nicht von Dauer und seine Travestien herrlich. Als Frau sah er so gut aus wie als pedantischer Zuchtmeister. Am besten jedoch stand ihm der päpstliche Ornat.

Im Prinzip ließ sich, wenn man den richtigen Geschmack hatte (also Maciunas war), alles dem Alltag dienende, in Fluxus verwandeln. Es gab Fluxus-Essen, sogar eine Fluxus-Messe in einer Kirche, bei der harntreibende Flüssigkeiten verabreicht wurden, so daß auch eine Ästhetisierung der Körperausscheidungen stattfand, was jedoch nur der Irritation diente: "Die Fluxus-Ziele sind sozial, nicht ästhetisch." (Maciunas)

Sehr wichtig war absolute Originalität, was im Einwand gegen Wolf Vostell, der an einigen frühen Events teilnahm, zum Ausdruck kam. Maciunas: "Dieser Vostell ist ein Schwindler. Alles, was er sieht und wovon er denkt, es wäre 'die Sache', macht er einige Monate später."

Nach der Pleite der AG Gallery, wo auch Literatur, Musik und Filme gezeigt wurden (John Cage, Yoko Ono, Walter de Maria u.a.), flüchtete Maciunas mit seiner Mutter nach Westdeutschland, wo er als Designer bei der Army tätig war, bis diese ihn wegen seiner Asthma-Anfälle entließ.

Maciunas lebte im Taunus, Emmett Williams in Darmstadt, und von hier aus wurde eine Serie Events veranstaltet, wie die Konzerte in Wiesbaden, Kopenhagen, Paris, Düsseldorf, Amsterdam, Den Haag, Nizza und Wuppertal, wo das Manifest "Neo-Dada in Music, Theatre, Poetry, Art" publiziert wurde. Organisatoren vor Ort waren die jeweiligen Residenten, so Tomas Schmit, Addi Koepcke, Ben Vautier, Daniel Spoerri u.a. Das Kapitel über die Mißgeschicke während der Tourneereisen sollte man nicht überschlagen.

Dank der Veranstaltungen in den Jahren 1962/63 erschien Fluxus anfangs als eine europäische Bewegung, auch hiesigen Traditionen verpflichtet (vor allem Dada), obwohl Maciunas meinte, Fluxus tendiere zum Anti-Europäismus: "Europa als das Gebiet, das die Ideen des Kunstprofessionalismus, der l'art-pour-l'art-Ideologie, der Selbstverwirklichung des Künstler-Ego durch die Kunst hervorgebracht hat."

Er hatte auch hierin recht: Fluxus war deshalb so erfolgreich, weil es sich in die Vorurteile der Moderne einfügen und durch Glattschleifen auch glänzend verwerten ließ, während Maciunas in den Events und Objekten nur ein Mittel der Propaganda sah, um auf die Notwendigkeit der Abschaffung von Kunst und Künstler aktiv hinzuweisen.

Fluxus war für ihn Übergangsphase mit notwendiger Tendenz zur Selbstabschaffung. So gesehen scheiterte er mit Fluxus am höchsten. Im Kampf zweier Linien, dessen Antagonisten Andy Warhol und George Maciunas waren, siegte Warhol, den Maciunas verachtete. Fluxus aber wurde zum Verstärker der heute herrschenden Entropie der künstlerischen Mittel und Methoden. Ein übles Mißverständnis.

Mit der Rückkehr nach New York Ende 1963 geht Fluxus nicht nur in seine instutionelle Phase über, es gibt auch eine Reihe quasi hypertropher Projekte, die zum Glück nicht ausgeführt wurden, wie der Versuch einer Weltumrundung mit einer Caravan-Flotte, ein Spektakel in, zwischen und auf den Türmen von San Gimigniano und der Kauf einer karibischen Insel zwecks Gründung einer Fluxus-Kolonie.

Die karibische Episode, wie die Entdecker (neben Maciunas Milan Knizak, Yoshi Wada, Igor Demian und Robert de Niro) auf dem wilden, unbewohnbaren Eiland durch giftige Pflanzen erblindeten und eine Wochen lang hilflos, ohne Wasser festsaßen, gehört ins Kapitel Maciunas und seine Katastrophen, wie der ewige Konflikt zwischen Leokadija und ihrem Sohn, der noch nach seinem Tod zu mütterlichen Gefühlsausbrüchen führte.

Leokadija war es auch, die am tiefsten erschüttert war, als er, der ein so sensibler Mensch war, in Wiesbaden das Klavier zerlegte, und zwei Monate vor seinem Tod heiratete: eine Frau, die ihn überhaupt nicht kannte, wie die Mutter meinte.

Das große Finale: 1975 erfolgte der Überfall. 1976 zog er auf die Farm und wurde erstmalig geehrt (in New York und Westberlin: Bau des Flux-Labyrinths in der Akademie der Künste). 1977 bekam er zum ersten Mal Geld für seine künstlerische Arbeit (7 500 Dollar, die er in die Farm steckte).

1978 bekannte er sich erstmalig und öffentlich zu seinem Fundus an Frauenkleidern, erkrankte an Bauchspeichel- und Leberkrebs, ehelichte die Lyrikerin Billie Hutching, starb in Boston und wurde in Queens bestattet.

Fluxusfuneral in New York. In Düsseldorf gedachten Paik und Beuys des Meisters.

Emmett Williams und Ann No'l (Hg.): Mr. Fluxus. Ein Gemeinschaftsporträt
von George Maciunas 1931-1978. Harlekin Verlag, Wiesbaden 1996, 373 S., DM 68. Gehört in jede gute Bibliothek! (poc)