Mexico revisited

Paco Ignacio Taibo II heftet sich an die Fersen des spanischen Anarchisten und Automechanikers Sebastián San Vicente
Man kennt das vorläufige Ende der Geschichte: Die Partei der institutionalisierten Revolution - was Partei der institutionalisierten Revolution - was
für sich genommen ja schon mal ziemlicher Unsinn ist - usurpiert seit inzwischen knapp siebzig Jahren die Macht in Mexiko und verteidigt ein kryptofeudales System wechselseitiger Begünstigung und Bestechung gegen jegliche Demokratisierungsversuche.

Die Revolutionsführer von einst, Pancho Villa und Emilio Zapata, sind im öffentlichen Bewußtsein längst ihres sozialrevolutionären Impetus entkleidet und der völkisch-nationalen Ikonographie eingespeist. Erst den Zapatisten- und Campesino-Aufständen der letzten Jahre ist es gelungen, diese reichlich fadenscheinige Inszenierung zu unterlaufen. Der folkloristische Rückgriff auf die Mexikanische Revolution von offizieller Seite hat im wesentlichen den einen Zweck, glauben zu machen, daß die Entwicklung aus den Neuanfängen bis heute einer immanenten Logik und Zwangsläufigkeit gehorche, die zu jedem Zeitpunkt alternativlos war.

Daß es auch hätte anders kommen können, mit diesem Gedanken spielt der Roman "Auf Durchreise" von Paco Ignacio Taibo II. Darin wird in 55 fragmentarischen Kapiteln der Weg des spanischen Anarchisten, Gewerkschafters, Seemanns und Mechanikers San Vicente durch die Wirren des nachrevolutionären Mexikos der zwanziger Jahre nachvollzogen, nur anhand der Spuren, die er hinterlassen hat: Polizeiakten, Tageszeitungsnotizen, Augenzeugenberichte etc. Nach und nach entsteht so das Bild eines Gesetzlosen, der, wenn auch sonst nur das nötigste, so immerhin die Revolution im Handgepäck mit sich zu führen scheint. Wo er hinkommt, vermerken die zuständigen Stellen spontane Umtriebe und organisierte Manifestationen allgemeiner Unzufriedenheit. Indem Taibo II. in grober Montagetechnik seine Figur mit Textmaterial umstellt, gewinnt das Bild an Kontur und die Stationen des mit Unterbrechungen dreijährigen Aufenthalts in Mexiko erscheinen greifbar nah. Obwohl mehrmals des Landes verwiesen, kehrt Vicente immer wieder zurück - weil er Grenzen nicht akzeptiert, weil er sich "aus Heimweh eine Suppe kocht" und weil einer, der beim Verhör als Religion "Anarchist" angibt, nicht einfach zusehen will, wie ein Land ruiniert wird.

Solange geht das, bis die Obrigkeit ihn ein für allemal satt hat und ihn nach Europa verschifft. Damit wird auch das bislang so klare Bild des Mannes unschärfer, der "zu Rauch wird in dieser Sache, die wir aus schlechter Gewohnheit Geschichte nennen und damit dazu verurteilen, zur Vergangenheit zu gehören".

Wo die Hauptfigur verschwindet, erfahren wir etwas über den Autor und sein Motiv: die Geschichte nochmal von vorn aufrollen, diesmal von "links", um Anknüpfungspunkte für die Gegenwart zu finden. In fünf oder sechs kurzen Kapiteln spricht Taibo II, der spätestens seit der Mitwirkung an dem vielbeachteten Band über Ché Guevaras Engagement im Afrikanischen Guerillakrieg ("Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren") auch hierzulande kein Unbekannter mehr sein dürfte, über sich und die Genese des Buches: Probleme bei der Recherche, ein Gespräch mit dem Verleger, warum gerade dieses Buch, warum gerade jetzt etc. Zur Klärung letzter Fragen zitiert der Autor sich selbst aus einem Zeitungsartikel: "Der Verfasser dieser Zeilen gesteht, daß eine seiner letzten fixen Ideen sich um die nochmalige Überprüfung und Erweiterung der Legendensammlung der Linken dreht. Er erinnert sich an die Schwierigkeiten der Generation von 1968, sich Gesichter und Namen zu eigen zu machen, auf die sie sich berufen konnte, um den dünnen Faden der Kontinuität zu spinnen, die Suche nach den roten Großväterchen, an die wir uns halten können."

Beinahe selbstironisch nimmt Taibo einen der Hauptkritikpunkte an seinem Buch vorweg, was löblich ist. Dennoch ist die Frage damit nicht erledigt, die lauten muß: Braucht die Linke tatsächlich Ikonen? Oder besser: Wem ist damit gedient, wenn die reale - und real mit Sicherheit interessantere - Figur des Sébastian San Vicente, von der man zuvor noch gar nichts wußte, nun mit literarischer Hilfe auf den linken Olymp gehievt wird neben Ché & Co? Würde man San Vicente nicht eher gerecht, wenn man einfach nur seine Geschichte erzählt? Literarisch jedenfalls macht es die größte Schwachstelle des Buches aus, daß San Vicente stets als über jede Kritik erhabene Lichtgestalt erscheint.

Ohne von linkem Kitsch reden zu wollen - davor schützt den Autor ein intelligenter Humor - bleibt die Psychologie seiner Figur merkwürdig unscharf. Darin sind ihnen die Helden in den Erzählungen B. Travens überlegen: Warum sie zumindest eine Spur marxistisch-materialistischen Denkens in den Alltag bringen wollen, versteht der Leser bei Travens Figuren - keineswegs nur aus Fanatismus oder Selbstlosigkeit. Ansonsten aber trägt der Vergleich mit Traven sicherlich weiter als jener, der im Klappentext angestrengt wird: "Das Mexiko Emilio Zapatas und Pancho Villas gewinnt in diesem Roman die Konturen eines Kontinents, wie er als Vision in den Bildern eines Diego Rivera, einer Frida Kahlo aufscheinen." Von solchen Visionen ist das Buch glücklicherweise so weit entfernt wie es nur eben geht.

Paco Ignacio Taibo II: Auf Durchreise. Edition Nautilus. 138 S., DM 24