Der lange Atem Erbakans

Der türkische Islamistenchef bereitet sich mal wieder auf ein Verbot seiner vor

Necmettin Erbakan ist ein Politveteran. Als solcher hat der 71jährige türkische Islamistenchef und Ex-Ministerpräsident bereits Erfahrung darin, sich auf das Verbot seiner Partei vorzubereiten. Seine Laufbahn als uneingeschränkter Lenker des parlamentarischen Islamismus in der Türkei begann quasi mit der Schließung seiner ersten Partei in den siebziger Jahren: Schon ein Jahr nach ihrer Gründung wurde die islamistische Milli Nizam Partisi (Partei der nationalen Ordnung) nach dem Militärputsch 1972 verboten. Erbakan und seine Anhänger gründeten damals geschwind die Milli Selamet Partisi, die jedoch nach dem Septemberputsch von 1980 das gleiche Schicksal wie ihre Vorgängerin ereilte. Erbakan, damals Vize-Ministerpräsident in der Regierung des heutigen Staatspräsidenten Süleyman Demirel, wurde gemeinsam mit allen amtierenden Parteivorsitzenden verhaftet und bis 1987 mit Politikverbot belegt. In jenem Jahr gründete er schließlich die Wohlfahrtspartei (Refah), der nunmehr nach rund zehn Jahren das gleiche Ende droht. Mittlerweile hat Erbakan angekündigt, im Herbst eine neue Partei aus der Taufe zu heben.

Die beiden ersten Parteischließungen folgten einem generellen Eingriff in die Institutionen der wackligen türkischen Demokratie, einem gewaltsamen Anhalten und Wiederingangsetzen des gesamten politischen Systems durch die türkischen Streitkräfte - den selbst verfassungsrechtlich verankerten Garanten des imaginären guten Staates, der in der Türkei auf wunderbare Weise nie mit dem politischen System identifiziert wird.

Dieses Mal hingegen richtet sich das Vorgehen der Militärs gezielt gegen eine einzelne Partei. Das vorschnelle Ende der konservativ-islamistischen Regierungskoalition der Parteien von Erbakan und Tansu Çiller - der "verdeckte Putsch" wird es auch genannt - wurde durch die anti-fundamentalistischen Direktiven des von den Generälen dominierten Nationalen Sicherheitsrates ausgelöst. Und es ist ein bislang auch in der Türkei einmaliger Streich, daß sich das Vorgehen gegen eine Regierungspartei richtet. Zum Volksfeind Nummer eins und subversiver gesellschaftlicher Kraft erklärt zu werden, ist - nach der Zerschlagung der türkischen Linken 1980ff. - nur der pro-kurdischen Bewegung widerfahren. Gegen deren vierte Partei läuft seit Monaten ein Verbotsverfahren, nachdem sie - durch ein sie benachteiligendes Wahlsystem - im Parlament schon nicht mehr vertreten ist und vier ihrer ehemaligen Abgeordneten seit drei Jahren im Gefängnis sitzen. Als "Staatsfaschismus" deklarierte Erbakan unlängst das Ausbooten seiner Partei; der Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten der DEP (Demokratie-Partei), die schließlich ihre Anklage vor dem Staatssicherheitsgericht ermöglichte, hatte seine Fraktion einst einstimmig zugestimmt.

Löst der Islamismus nun die Kurdenfrage ab? Die Antwort lautet entschieden: Nein. Zwar zitiert Erbakan in seinen Reden gern Margaret Thatcher, die irgendwann einmal kolportiert hat, der Islam habe den Kommunismus als Feindbild ersetzt. Allein, der parteilich organisierte Islamismus in der Türkei ist sehr viel systemintegrierter als das, was Thatcher unter Kommunismus versteht, und auch als die kurdische Bewegung. Und Necmettin Erbakan weiß aus seiner 28jährigen politischen Erfahrung, daß vor allem Pragmatismus das Rezept für dauerhaften politischen Erfolg und ein langes Leben ist.

Nationale Einheit und die säkulare Staatsform gelten als Grundpfeiler des türkischen Staates. Dementsprechend weiß die Wohlfahrtspartei mittlerweile dem ihrer islamistischen Ideologie zuwiderlaufenden Laizismus, der auf Staatsgründer Kemal Atatürk zurückgeht, zu huldigen. "Wäre Atatürk noch am Leben, dann wäre er bei der Wohlfahrtspartei", verkündete Erbakan während der Kommunalwahlen 1994, die den Islamisten die meisten Kommunen einbrachten, darunter auch die Oberstadtverwaltungen der Metropolen Istanbul und Ankara. Die Trennung von Staat und Religion funktionierten die Islamisten für ihre Wählerschichten in einen neuen Bedeutungszusammenhang um: wahre Religionsfreiheit innerhalb einer zivilen Verfassung. In ihrer Regierungszeit opferten sie den laizistischen Prinzipien sogar einige ihrer klassischen Protestthemen.

Zu diesen gehört an erster Stelle die Kopftuchfrage als allzeit abrufbares Instument der Propaganda. Nichts wirkt so sehr auf das islamistische Gemüt wie eine weinende verschleierte Frau, die wegen ihrer religiösen Überzeugung diskriminiert wird. Der islamistische Menschenrechtsverein Mazlum-Der (Verein für die Unterdrückten) erklärte das Jahr 1997 eigens zum "Jahr im Zeichen der Freiheit für das Kopftuch". Damit richtet er sich gegen das Verbot der Verschleierung für Frauen im öffentlichen Dienst, an nicht-religiösen Schulen und inzwischen nur noch wenigen Universitäten. Durch die Explosion der Zahl der Privatschulen, an der sich auch durch die jüngste Schulreform nichts ändern wird, besteht nun für religiöse Mädchen die Möglichkeit, eine Schule zu finden, die die Verschleierung akzeptiert. An den Universitäten haben die religiösen Studentinnen sich erfolgreich gegen das "Gebot, moderne Kleidung" zu tragen, zur Wehr gesetzt. Es bleibt das Verbot des Schleiers im öffentlichen Dienst. Da jedoch Berufstätigkeit für Frauen durchaus nicht zum zivilisatorischen Ideal der Islamisten gehört, bleibt die Frage, ob es sich hier nicht um simpelste Propaganda handelt.

Jedenfalls ist es der Wohlfahrtspartei bislang nie in den Sinn gekommen, eine der vielen engagierten Frauen von der Parteibasis in ein einflußreiches Amt zu heben. Die Frauen leisten in Frauenkomitees die "Grassroot-Arbeit", laufen vor den Wahlen von Tür zu Tür, um Wählerstimmen zu werben, versuchen, die Frauen zu mobilisieren, veranstalten islamistische Propagandaveranstaltungen auf häuslichen Frauentreffen etc. Erbakan nannte sie - auf das Fehlen von Parteifunktionärinnen angesprochen - einmal höchst liebevoll die "Vorhut in den Schützengräben". Obwohl einigen Frauen vor den vergangenen Parlamentswahlen eine Kandidatur versprochen worden war, vertrösteten die Wohlfahrtspartei-Funktionäre sie mit dem Argument, "das System sei noch nicht reif für verschleierte Parlamentarierinnen". Die islamistische Parteiideologie lebt von der Dehnbarkeit ihres Pragmatismus; warum also plötzlich diese Strenge?

Der Generalstab machte kürzlich die Recherche-Ergebnisse der "geheimen" Kommission mit dem sinnigen Namen "Arbeitsgruppe Westen" der türkischen laizistischen Presse zugänglich. Bereits Mitte Juni wurde verschiedenen Berufsgruppen und Journalisten ein militärisches Briefing zum Thema religiöser Fundamentalismus zuteil. Es wurde festgehalten, daß eine halbe Million Schüler zur Zeit an religiösen Schulen unterrichtet werden und eineinhalb Millionen Schüler Koranschulen (umstrittene Kurse, in denen die Kinder den ganzen Koran auf arabisch Ñ das sie nicht verstehen Ñ auswendig lernen) besuchen. Darüber hinaus engagierten sich Hunderttausende in religiösen Stiftungen. So werde eine Jugend herangezogen, die ein Potential gegen den laizistischen Staat darstelle.

Daneben beherrschen die Islamisten inzwischen mit 19 Tageszeitungen, 110 Zeitschriften, 51 Radiostationen und zwanzig Fernsehsendern einen Großteil des Mediensektors in der Türkei. Und mit Milliarden-Umsatz in ihren verschiedenen Firmen und Holdings stellen sie inzwischen eine enorme Wirtschaftsmacht in der Türkei dar. Vor allem letzteres müsse unterbunden werden, verkündete das Militär und rief zu einem allgemeinen Boykott islamistischer Firmen auf. Es kursierte sogar eine "schwarze Liste" mit Firmen, die zu boykottieren seien.

Allein, bei der drohenden islamistischen Gefahr handelt es sich um institutionelle Ausdifferenzierungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Tatsächlich ist zu sehen, daß die Islamisten in den vergangenen Jahren für viele ein Vakuum ausgefüllt haben, das der Staat nie zu füllen versucht war - insbesondere im Bereich der Ausbildung.

Betrachtet man etwa die Zahl der allein von legalen, durch das Ministerium für religiöse Angelegenheiten eingerichteten Korankurse, so läßt sich feststellen, daß diese parallel zum migrationsbedingten Bevölkerungszuwachs steigt. Bei den Predigerschulen, die auch auf die Universität vorbereiten, sieht es ähnlich aus. Diese Schulen sind billig, denn oftmals erhalten die Schüler ein Stipendium und werden von religiösen Vereinen und Stiftungen in ein soziales Netzwerk von Studentenwohnheimen, Lerngruppen, Sportangeboten etc. eingebunden. Alles Angebote, die das türkische Schulsystem nicht macht, welches von teuren Privatschulen unterlaufen wird, die die kostenlosen staatlichen Schulen unattraktiv werden lassen. Es ist inzwischen zur Regel geworden, daß sich türkische Schüler zwei Jahre in teuren, privat finanzierten Kursen auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereiten müssen.

Derzeit versucht der türkische Staat, der in der Vergangenheit weniger Geld für sein Ausbildungssystem ausgab als weit ärmere Länder wie beispielsweise Bangladesh, die Bürger zu Spenden zu animieren. Um die Schüler von den Koranschulen fernzuhalten beträgt die gesetzliche Schulzeit nunmehr acht Jahre. Auf die Türkei, die die jüngste Bevölkerung Europas hat, kommt damit ein enormer finanzieller Aufwand zu.

Nur fragt sich jeder, woher das Geld kommen soll. Geschätzte acht Milliarden Dollar jährlich frißt allein der Krieg gegen die kurdische PKK, und die Modernisierung der Waffensysteme für die Kriege der Zukunft sollen in den kommenden beiden Jahrzehnten mit 150 Milliarden Dollar zu Buche schlagen. Wenig Spielraum existiert somit für eine sogenannte modernisierende Sozialpolitik, sollte sie von den Eliten überhaupt ins Auge gefaßt werden.

Die islamistische parlamentarische Bewegung ist ein fest integrierter Teil des politischen Systems und hat sich in der Gesellschaft breitflächig institutionalisiert, ohne bislang "die Masse des Volkes" zu repräsentieren, wie sie es - der allgemeinen "Massenrhetorik" politischer Propaganda entsprechend - selbst behauptet.

Die islamistische Bewegung heute orientiert sich an einer glorifizierten Vergangenheit, ihr teilweise an Größenwahn erinnernder religiöser Nationalismus fällt bei den pauperisierten Massen auf fruchtbaren Boden, die moregn aber auch schon wieder Tansu Çiller wählen können. Die momentane Popularität der einstigen Erzfeindin der Islamisten, die als ebenfalls geschaßte Koalitionspartnerin Erbakans jetzt als Verbündete gilt, zeigt, wie weit es mit der Standfestigkeit der islamistischen Ideologie her ist.

Auch radikalisiert hat sie sich nicht. Schon während der Zeit der zweiten Regierung der "Nationalen Front", bestehend aus Süleyman Demirels konservativer Gerechtigkeitspartei (AP), der faschistischen Nationalistischen Volksfront und der islamischen Partei, forderte Erbakan 1977 auf einer internationalen islamischen Konferenz in Istanbul, daß alle muslimischen Länder das islamische Recht, die Scharia, als Gesetz akzeptieren und Arabisch zur Pflichtsprache machen sollten. Kurz vor dem Militärputsch 1980 forderte eine Menge von 20 000 Islamisten Erbakan während einer Großveranstaltung in der zentralanatolischen Islamisten-Hochburg Konya auf, einen islamischen Staat zu gründen.

Die Drohung des Militärs, den Versuch zu unternehmen, die Infrastruktur der Islamisten mit Gewalt und Verboten zu eliminieren, steht im Raum. Das käme tatsächlich einer Kurdisierung des Islamismus gleich.