Endspielsommer in Salzburg

Peter Sellars verdirbt Ligeti, Peter Stein verklärt Wozzeck und Claudio Abbado sticht ins Herz. Eindrücke von den 77. Festspielen.

Soviel Weltuntergänge hat es auf den Bühnen der Mozartstadt noch nicht gegeben. Die 77. Salzburger Festspiele standen im Zeichen der Apokalypse, obwohl es die Kritiker meist gut mit den über zweihundert Veranstaltungen meinten. Die Show vom Verderben bannte ein Publikum, das sich keine Sorgen zu machen braucht. Debussys "Pelléas et Mélisande", von Robert Wilson als düstere Schattenparabel interpretiert, war für den vornehmen Genießer des Fin de siècle gedacht.

Der Regisseur Peter Sellars, der berühmt wurde, weil er den "Don Giovanni" und andere Stücke vom Wolferl auf den Bühnen in New York, Paris und Wien massakrierte, präsentierte im Großen Festspielhaus das derbe Fiasko: György Ligetis "Le Grand Macabre". Ligeti hatte eigens für die Festspiele sein Werk, das 1978 an der königlichen Oper in Stockholm uraufgeführt wurde, noch einmal gründlich überarbeitet, aus einer Anti-Oper ein ordentliches Singspiel gebastelt. Die dominanten Sprechabschnitte wurden durch Gesangspartien ersetzt, das drastische Libretto entschärft und die holprige Instrumentierung verfeinert. Da Ligetis Partituren nur Tonhöhen und rhythmische Konstellationen angeben und da seine Plattenfirma zu seinem 75. Geburtstag eine große Ligeti-Edition veröffentlicht, soll die Salzburger "Macabre"-Inszenierung nun die ultimative Aufnahme abgeben. Esa-Pekka Salonen dirigierte das Londoner Philharmonia Orchestra mit gewohnter Präzision, und so hätten alle Beteiligten halbwegs zufrieden sein können, wenn auf der Bühne nicht Ungeheures geschehen wäre.

Ligeti hatte ein komödiantisches Schauerstück vorgelegt: Während der besoffene Piet vom Faß den Beischlaf von Amanda und Amando - die in der ersten Fassung noch Clitoria und Spermando hießen - beglotzt, tritt Todespatron Nekrotzar auf und verkündet das Ende des von Fürst Go-Go regierten Breughel-Landes und den Untergang der ganzen Welt. Nekrotzar macht jedoch den Fehler, kurz vor der bösen Tat sich ebenfalls zu betrinken, und so geht nicht die Erde dem Ende entgegen, sondern Nekrotzar selbst verabschiedet sich in die ewigen Jagdgründe. Im Schlußchor die Moral der wüsten Groteske: "Fürchtet den Tod nicht, gute Leut' / Irgendwann kommt er, doch nicht heut'! / Und wenn er kommt, dann ist's soweit Ö / Lebt wohl so lang in Heiterkeit."

Bei Sellars ist nichts mehr lustig. Abgebrochene Atomreaktoren stehen auf den Brettern, bierernst schreiten die Hauptfiguren durch ein Ödland; das Hupen und Klingeln aus dem Orchestergraben vermag Sellars' Betonköpfe nicht zu erheitern. Aus Ironie wird Ideologie, die Trompeten des Jüngsten Gerichts ertönen, alles wird zerstört, im vierten Akt plant die neue Generation eine weitere Zerstörung des Planeten. Sellars als Spielverderber: Auch Nekrotzar darf nicht sterben. Daß die Ökobewegung in Salzburg ihren ersten Auftritt hat, verspricht schon das Programmheft, in dem nicht nur das Bild einer "Müllhalde in England" oder das Foto einer "Wasserverschmutzung in Cleveland", sondern auch Gregory Fullers Text über den Niedergang der Natur abgedruckt ist.

Die Zuschauer indes interessieren sich weniger für die aufdringliche Eschatologie als vielmehr für den kurzen Auftritt der nackten Venus. Die Gigantomanie des Bühnenbildners Georges Tsypin, der ein riesiges Todespferd mit Saurierschädel aufs Podium ziehen läßt, verwandelt das platte Konzept des Regisseurs vollends in ein affirmatives Science-Fiction-Schauspiel. Weil bei diesem "Macabre" nichts zusammenpaßte, hat sich Ligeti bei Sellars beschwert. Jürgen Kesting vom DeutschlandRadio sah als einziger einen Skandal in dem Streit, das Salzburger Intrigantenstadl kam also nicht in Schwung. Auf den Bühnen wurde der Zerfall zelebriert, über das Finale der Festspiele wollte dieses Jahr selbst der Wiener Konsequenznörgler Marcel Prawny nicht orakeln.

Gérard Mortier hatte vor sieben Jahren, als er die Leitung der Festspiele übernahm, die mißverständliche Erklärung abgegeben, über Salzburg schwebe ein "Todesengel", und heute weiß man, wie er dies gemeint hat. Der Beelzebub will den Kunstbetrieb nicht beenden, ihn vielmehr durch das permanente Endspiel künstlich am Leben halten. So weiß Mortier mittlerweile, daß die Häme der Wiener Presse zum Geschäft gehört, daß das Salzburger System ohne die Angriffe der senilen Schreiber an Glanz verliert. Selbst den obszönen Handel mit Mozartkugeln, -uhren, -schirmen, -jacken, -brillen, und -büsten beanstandet Mortier nicht mehr. Er hat eben auch nur einen Job zu erfüllen, er ist verständlicherweise froh darüber, daß die Zuschauerzahlen weiterhin steigen. In Salzburg ist von der Wirtschaftsflaute nichts zu merken. Der Dank ist dem Manager gewiß: "Geeister Nougatspitz Gérard Mortier auf weißem Pfirsichbett" nannte ein Salzburger Sternekoch die Nachspeise seines Festspielmenues. Soweit hat es selbst Karajan nicht gebracht.

Wie integrierend die Kulturindustrie wirkt, kann am "Zeitfluss"-Festival beobachtet werden, das als Gegenveranstaltung zum Reigen in der Hofstallgasse gegründet wurde. 1993 behandelte das Alternativprogramm der Salzburger Festspiele noch die "Ästhetik des Widerstandes", zwei Jahre später bot man "Gesänge von der Notwendigkeit des Überlebens" an, "Zeitfluss 97" trägt als letzter Teil der Trilogie den Titel "Endspiel ...". Hinter das Geheimnis der drei Punkte steigt, wer die "Echoes from the Moon" von Pauline Oliveros über sich ergehen läßt. Von Salzburg aus werden Akkordeon-Klänge ins All geschossen, eine Parabolantenne soll die zur Erde "zurückgespiegelten Anteile des ursprünglichen Signals" empfangen: "Die vom Mond zurückkehrenden Klänge werdem am Klangturm so wiedergegeben, daß sie vom Himmel zu fallen scheinen." Kitsch ist das Sahnehäubchen des Salzburger "Zeitfluss"-Programms. John Cages Beschwörung der Stille und Laurie Andersons digitaler Geigenabend "The Speed of Darkness" sind dagegen noch verhältnismäßig harmlos. Hier wird die Prätention immerhin nicht durch die Deklamation von intergalaktischem Sinn gesteigert.

Heinz und David Bennent als Hamm und Cov in Becketts "Endspiel" retten die "Zeitfluss"-Veranstaltung, deren Zeit nun endlich abgelaufen ist. Die Normalität des Grauens in dem kargen Wortgefecht der sinnlos Wartenden beinhaltet bis heute mehr Wahrheit als die gewollte Technikavantgarde mit ihrem Effektebrimborium.

Ein Endspiel der anderen Art feierte Peter Stein der nach fünfjähriger Schaffens- und Leidenszeit die Festspiele vorerst verläßt. Stein inszenierte Alban Bergs Oper "Wozzeck". Das Drama vom "guten Menschen", der den Soldatenlohn bei der Mutter seines unehelichen Kindes abgibt, der, obwohl geduldig im Ertragen, die Angebetete umbringt, weil er ihre Affäre mit dem Tambourmajor nicht verkraftet, wird im schlechten Sinne des Wortes entdramatisiert. Steins Bühne ist wie üblich karg. Es soll bloß nichts überinterpretiert werden, und so versteht man nichts. Weil der soziale Konflikt zwischen Marie und Wozzeck in der Figuren-Konstruktion nicht vorkommt, wirkt die Katastrophe völlig unplausibel, Wozzecks Mord kann nur als angenehmes Happening konsumiert werden. Der regressiven Verklärung durch Peter Stein steht Claudio Abbados Dirigat gegenüber. Die Wiener werden vom Chef der Berliner Philharmoniker durch das expressionistische Klanggeflecht geführt; Abbado sticht den Zuhörern mit Alban Bergs Musik ins Herz. Dieser "Wozzeck" wird als konzertante Aufführung in Erinnerung bleiben.

Ein Stein kommt selten allein. Die zweite Abschiedsvorstellung ist "Libussa". Für den scheidenden Schauspieldirektor ist Franz Grillparzers Geschichte von der Stadtgründung Prags ein "prall-lebendiges Stück Theater", was vor allem daran liegen soll, daß Libussa in der "frühen ökologischen Rede" (Stein) vor den Schäden der Naturbeherrschung warnt: "Durch unbekannte Meere wirst du schiffen, / ausbeuten, was die Welt an Nutzen trägt, / Und allverschlingend sein - vom All verschlungen." Auf der zwanzig Kilometer von Salzburg entfernten Perner-Insel in Hallein setzt Stein das fort, was er in den Jahren zuvor schon mit seinen Arbeiten über Shakespeare in der Felsenreitschule gezeigt hat. Die Angst vorm Umweltdesaster bringt den Theatermann nicht in Wallung. Im Steinschen Schauspiel waltet generell die Starre. Das gesprochene Wort soll, so Stein, die Menschen verzaubern, wogegen nichts zu sagen wäre, wenn seine eigenen Sätze nicht so biblisch-belanglos daherkämen: "Die Worte sind unser Brot. Die Sprache ist unser Leben, mit der Sprache werden wir Menschen." Sam Mendes vom Royal National Theatre of Great Britain, der Salzburg einen "Othello" schenkt, ist ebenfalls ein Wortfetischist. Mit dem Unterschied, daß Shakespeares Englisch die modische Haltung rechtfertigt.

Im Mozarteum überzeugt ebenfalls die Musik. Der britische Cellist Steven Isserlis mag zwar aus Gründen der Reklame behaupten, er stamme von Karl Marx ab, der von ihm ausgearbeitete Mendelssohn-Zyklus versöhnt allemal, weil das Vorurteil vom Versöhnlichen der Musik Mendelssohns demontiert wird. Zum Abschluß der Reihe wird das Streichquartett in f-Moll gespielt. Grandios das Zusammenspiel der unterschiedlichen Nachwuchsstars: Joshua Bell treibt voran, Tabea Zimmermann beruhigt, Pamela Frank spinnt die Fäden und Steven Isserlis kümmert sich um den geschlossenen Ausdruck des traurig-zornigen Stücks. Vom Mozarteum geht der Weg über den Makartsteg in die Salzburger Altstadt zurück. Gegen die Felswand des Mönchsbergs sind Lichtskulpturen von leblos aussehenden Menschenkörpern gestrahlt. Marie-Jo Lafontaines und Jörg Immendorffs martialische Monumentalinstallationen registriert man mit Schaudern; manch Endspielkunst im ausgehenden Jahrtausend hat Arnold Fancks Nazi-Naturfilm "Berg des Schicksals" zur Maßgabe erkoren.