Volkssturm in Plettenberg

Gemeinsam machen in der sauerländischen Kleinstadt Stadtrat und Bürger, Presse, Polizei und Neonazis Stimmung gegen Flüchtlinge

Rund 30 000 Einwohner zählt das idyllisch gelegene Städtchen Plettenberg. Sauber und weiß strahlen die Fassaden. Eine schnuckelige Fußgängerzone lädt zum Einkaufsbummel. Restaurants und Kneipen bieten sauerländische Spezialitäten in dörflicher Gemütlichkeit. Es paßt in die urdeutsche Atmosphäre des Ortes, wenn Einheimische auf dem Rathausplatz singen "Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus". Zumal der Liedtext nicht Feriengästen oder Ausflüglern aus dem Ruhrgebiet gilt, sondern den rund 400 Flüchtlingen, die in Plettenberg leben.

Zu ihnen gehört die fünfköpfige kurdische Familie Kharaman. Seit drei Jahren schon lebt sie in einer der beiden Plettenberger Asylunterkünfte. Für das 23 Quadratmeter große Zimmer zieht ihnen die Stadt 700 Mark Miete von der Sozialhilfe ab. Der Rest wird - abgesehen von 80 Mark "Taschengeld" im Monat - in Gutscheinen ausgegeben. Eine Arbeitserlaubnis erhält Herr Kharaman nicht. Statt dessen ist er gezwungen, für zwei Mark die Stunde "gemeinnützige Arbeit" zu erledigen. Sechs Monate lang säuberte er Friedhofsanlagen, weitere zwei Jahre täglich acht Stunden die Klassenräume und die Turnhalle einer Schule. Bis zum April dieses Jahres, als der Mann den Schrubber fallen ließ und eine besser bezahlte Tätigkeit verlangte. Mit dem Ergebnis, daß fortan seine schwangere Frau putzen mußte. Denn anderenfalls, so drohte das Plettenberger Sozialamt, werde der Familie sämtliche Hilfe zum Lebensunterhalt gestrichen.

Den anderen Flüchtlingen in Plettenberg erging es kaum anders als der Familie Kharaman. Wer nicht für einen Hungerlohn, ohne Anspruch auf Urlaub oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, in öffentlichen Einrichtungen arbeitet, im Straßenbau malocht oder den Abfall aus den Grünanlagen sammelt, der wird ausgehungert. "Bei uns haben fast alle Arbeit, die arbeitsfähig sind", resümiert Sozialamtsleiter Udo Chmill sein Werk und gibt unumwunden zu, mit welchen Mitteln dabei vorgegangen wird. Etwa im Fall eines jungen Kurden, dem für drei Monate die Leistungen ganz gesperrt wurden und seit nunmehr anderthalb Jahren zu 25 Prozent gestrichen bleiben, weil er ein Sprachstudium an der Bochumer Universität betreibt.

Bis zu vier Jahre lang hielten die in Plettenberg gelandeten Asylsuchenden die Verhältnisse in der Gemeinde aus. Im Juli dieses Jahres protestierten sie erstmals gemeinsam und verfaßten eine Eingabe, in der darum gebeten wurde, Bargeld statt der Gutscheine auszugeben, die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse zu verbessern und die Flüchtlinge aus der Sklavenarbeit zu entlassen, da es sich für die deutsche Demokratie nicht schicke, "Menschen gegen ihren Willen und für so wenig Geld zum Arbeiten zu zwingen". Unterschrieben und im Rathaus abgegeben wurde das Papier von rund 100 Flüchtlingen, und am 4. August traten sechs kurdische Männer in den Hungerstreik, um dem gemeinsamen Anliegen Nachdruck zu verschaffen.

Tags darauf erschienen in der Ortspresse die ersten empörten Leserbriefe: "Welch eine Dreistigkeit und Unverschämtheit: Anstatt froh und dankbar zu sein, in einem sozialen Deutschland Gastrecht genießen zu dürfen, wofür der arbeitende und Steuern zahlende Bürger sich redlich abmühen muß, werden Forderungen erhoben und Erpressungsversuche gestartet." Unverhohlener Haß schlug "unseren liebgewonnen Asylbewerbern" und "den Herren Hungerstreikenden" entgegen. Den ersten Zug nach Hause sollten sie nehmen, sich schämen, die "Gastfreundschaft" zu mißbrauchen.

Eine Woche nach Aufnahme des Hungerstreiks brach der erste Teilnehmer zusammen und mußte ins Krankenhaus transportiert werden. An der Position der seit Jahrzehnten von der SPD regierten Stadt änderte dies nichts. "Wir knicken nicht ein", formulierte Bürgermeister Otto Klehm (SPD). Er ließ die mittlerweile mit ihren Matratzen in den Innenhof des Rathauses gezogenen Hungerstreikenden zwar nicht räumen, verweigerte ihnen aber die Aufnahme von Gesprächen. Und so lagen die Protestler eine weitere Woche da - abgesehen von einem Mitglied des Flüchtlingsrates Märkischer Kreis und Vertretern von Bündnis 90 / Die Grünen, ohne jede Unterstützung von deutscher Seite. Plettenberger Bürger fanden sich, unterstützt von ihren Vertretern im Rathaus sowie den örtlichen Republikanern, zu einer rassistischen Front zusammen. "Verschimmeltes Brot haben sie uns hingeworfen", erinnert sich einer der Hungerstreikenden. "Regelmäßig bekamen wir Drohungen zu hören: 'Morgen geht ihr ins Gas' oder 'Bald wird es brennen'."

"Helfer und Streikende werden in einer beispiellosen Kampagne sowohl von der Stadtverwaltung wie auch von der Presse und der Bevölkerung diffamiert, beleidigt, bedroht und beschimpft", stellte der Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen fest. Vorausgegangen waren vergebliche Versuche der Organisation, zwischen den protestierenden Flüchtlingen und den Verantwortlichen im Plettenberger Rathaus zu vermitteln. Der Stellvertretende Stadtdirektor Pöhl tat in einem Gespräch mit den Vertretern des Flüchtlingsrats seine Überzeugung kund, daß unter den Hungerstreikenden ein ständiger Wechsel stattfinde, diese "ihr Süppchen kochen" und "Plätzchen essen".

Zum Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß spitzten sich die Verhältnisse in Plettenberg weiter zu. Als rechtsradikale Flugblätter in der Stadt verteilt wurden und es "Hinweise" gab, daß am 16. August ein Überfall auf die Hungerstreikenden geplant war, zog die Polizei ein größeres Aufgebot zusammen. Angesichts der Ordnungskräfte vor Ort beließen es die angerückten Neonazis für dieses Mal bei verbalen Pöbeleien. "Die angekündigte Aktion entpuppte sich dann jedoch schnell als ein in friedlicher Atmosphäre stattfindendes Gespräch", hieß es dazu später im Polizeibericht. Prompt meldeten die Plettenberger Republikaner für das folgende Wochenende eine Demonstration an. Bürgermeister Klehm zeigte Verständnis, sah sich jedoch genötigt, den örtlichen Rep-Chef Reinhardt Wendt in einem vertrauensvollen Gespräch darum zu bitten, auf den geplanten Marsch zu verzichten, da ansonsten "der gute Ruf der Stadt Plettenberg" Schaden nehmen könne. Einvernehmlich verständigten sich die Herren schließlich darauf, am 24. August einen sogenannten "Aktionsstand" in unmittelbarer Nähe der Hungerstreikenden aufzubauen.

Die wenigen Unterstützer der Flüchtlinge, mittlerweile verstärkt um einige bündnisgrüne Abgeordnete aus Bonn und Düsseldorf, reagierten mit einem Hilferuf an die überregionale Öffentlichkeit und der Aufforderung, sich den Rechtsradikalen entgegenzustellen. Tatsächlich erschienen knapp 20 Menschen in Plettenberg, um ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu demonstrieren. Ihnen stand ein Mob von rund 100 Personen gegenüber. "Kein Wunder, wenn es hier demnächst mal brennt", war zu hören. "Geht doch nach Hause!" Und: "Unsere Geduld ist am Ende."

Drei Tage später brachen die Flüchtlinge ihren mittlerweile knapp vierwöchigen Hungerstreik ab - mit nichts als der vagen Zusage, der Hauptausschuß der Stadt werde sich in seiner nächsten Sitzung um eine Verbesserung der Wohnsituation kümmern sowie die Möglichkeit prüfen, die bislang wöchentlich ausgegebenen Gutscheine demnächst monatlich zu verteilen. Verantwortlich für diesen "Kompromiß" zeichnen unter anderem die Düsseldorfer Landtagsabgeordneten von Bündnis 90 / Die Grünen Siggi Martsch und Brigitte Hermann. "Die Flüchtlinge in Plettenberg haben dort offensichtlich keine Lobby", heißt es in ihrer gemeinsamen Rechtfertigung. "Es drohte im Gegenteil eine Eskalation der Situation durch eine in kleinen Teilen der Bevölkerung angeheizte ausländerfeindliche Stimmung." In den Augen antirassistischer Gruppen aus verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens noch lange kein Grund, die Flüchtlinge in dem "sauerländischen Nest zu verraten und zu verkaufen".

Am Mittwoch vergangener Woche machten sich rund 20 VertreterInnen der Gruppen auf den Weg, um vor Ort ihre Überzeugung auszudrücken und vor allem einen ersten Kontakt mit den Betroffenen herzustellen. Wie beides verhindert wurde, liest sich in einer anschließend verfaßten Pressemitteilung der Initiativen so: "Mit einem massiven Polizeiaufgebot wurden wir daran gehindert, den Flüchtlingen unsere Solidarität auszudrücken. Einigen von uns wurde nach der Ankunft ein Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet erteilt, zwei Personen wurden vorübergehend festgenommen. Andere durften das Stadtgebiet gar nicht erst betreten, sondern wurden bereits durch Polizeisperren auf den Zufahrtsstraßen angehalten."

Am 6. September, um 12 Uhr, wollen die AntirassistInnen in Plettenberg eine Demonstration veranstalten.