Klassenkeile

Linker Mythos im Kino: Ken Loach hat ein Herz für die Armen. Sein Film "Carla's Song" erinnert an die guten Jahre in Nicaragua

Es gibt nur zwei Arten von Menschen: die bösen und die guten. Und wer wer ist, erkennt man sofort. Böse scheißen Schwarzfahrer zusammen, kratzen sich am Sack und heißen "McGurk". Sie schießen mit Maschinengewehren auf kleine Kinder, arbeiten bei der CIA und organisieren Völkermorde. Die guten sind liebe Busfahrer, nicaraguanische Tänzerinnen und machen alles richtig, so viel ist klar, "gerade klare Menschen", wie Bettina Wegner zu singen pflegt. Eine Moritat in Schwarzweiß, doch Ken Loach wählt den Holzschnitt im Buntformat.

Nicaragua! Der englische Regisseur, der mit dem reportierten Epos "Land and Freedom" die linken Salons Europas anläßlich des 60. Jahrestags des deutschen Angriffs auf Guernica in Aufruhr versetzte, nimmt sich gern der linken Geschichte an, wenn auch nicht ihrer Techniken der Mythenbildung.

Unerlaubte Verhältnisse bedürfen unerhörter Mittel. "Carla's Song" heißt Loachs neues Drama um Leben, Lieben, Lachen, Sandinistas, und es beginnt mit Arbeit und Arbeitslosigkeit. Im verpißten Glasgow des Jahres 1987 kurvt George (Robert Carlyle) mit seinem Doppeldecker-Linienbus um die trostlosen Blocks. Was soll man mit einem Acht-Stunden-Tag anstellen, wenn man nicht mal Zeitung lesen kann, weil man immerzu auf die Straße achten muß? Unerlaubte Wege einschlagen, das Dienstfahrzeug zu privaten Zwecken einsetzen, Fahrgäste und Kontrolleure verarschen. Das ist Kampf gegen die Selbstentfremdung, eigensinnige Verwendung sozusagen von Büromaterial. Alles sehr lustig, so spontan. McGurk: Das gibt Ärger. George: McGurk, kratz dich ohne mich. Leiter der Verkehrsbetriebe: George, beim nächsten Mal bist du draußen.

Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn diesem sympathischen kleinen Kerl nicht in Chaplin-Manier das Mädchen über den Weg laufen würde. Carla (Olyanka Cabezas), die kein Bus-Ticket hat, nicht etwa, weil sie zu arm ist, sondern vielmehr, weil sie die moralische Unversehrtheit in sich trägt, ein viel viel größeres Schicksal erleiden zu dürfen, als es der nichtrevolutionäre Alltag bietet - es ist das Geheimnis der überlebensgroßen Liebe, wie man lernen wird -, wird sich bei George für die Hilfe gegen den despotischen Kontrolleur bedanken. Und das sogar in Georges Zuhause in der Plattenbausiedlung. Sandino weiß, wo sie die Adresse her hat.

Die dritte Welt verdient ihr Geld mit Tanz, und die Protagonistin ist ein scheues Reh. Einmal Pulsadern aufschneiden in der Badewanne und ein zartes Liebesgespinst später entlockt ihr George das düstere Geheimnis. Carla ist die Ex-Freundin des Revolutionärs Antonio (Richard Loza), der in Nicaragua sitzt, bei einem Überfall der Contras verstümmelt wurde und traurig allein Gitarre spielen muß. Denn Carla, Muse und todunglückliches Zwitschervöglein, schickte er aus Sicherheitsgründen ins Ausland.

Unermüdlich nun bastelt George an der besseren Laune, wozu sich der Doppeldecker bestens eignet, nachdem erstmal die Fahrgäste hinausgeworfen sind. Schampus im Regen, was Verrücktes machen, den Bus im Schlammloch festfahren, barfuß im Regen - das alles wirkt der Carla-Depression entgegen.

Aber nicht so richtig. Es ist beschlossene Sache: Unser Paar wird die dramatische Spannung erst in Nicaragua lösen können, und dafür wird diese erstmal richtig aufgebaut. Ärger am Flughafen, die Tasche weg, Gewehrfeuer. Aber wer in Glasgow Bus fährt, den kann nichts beeindrucken. George benimmt sich auf fremdem Terrain wie daheim, und dabei hilft ihm auch sein lockeres Verhältnis zum öffentlichen Nahverkehr. Der Menschenrechtler und ehemalige Contra-Ausbilder Bradley (Scott Glenn) sorgt überzeugend für den Kurzunterricht in freiheitlichem Sozialismus und berechtigter moralische Entrüstung: Darsteller Glenn über seinen Aufenthalt in Nicaragua: "Ich mußte mich fast in den Schlaf weinen, in den ersten beiden Nächten, die ich da war."

Taschentücher später haben wir die braven, aber im Gegensatz zu George humorlosen Menschen von Nicaragua kennengelernt, und was soll man sonst sagen, außer, daß die natural born gut und die USA böse sind. Was richtig ist. Mit anderen Worten: Sie haben die Contras zum Vergewaltigen und Kindersprengen erzogen, die sandinistische Revolution in Schmutz und Boden getreten. Heute ist alles hin: Die Nachfahren des ehemaligen Diktators Somoza sollen ihren Besitz wiederbekommen dürfen, und die Arbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent. Der Klassenfeind hat erneut gewonnen, und Loach erinnert zu Recht daran, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Spendenkonto: 917 19 bei der Stadtsparkasse Wuppertal, BLZ 330 500 00, Stichwort "Nicaragua".

Loach bevorzugt wie üblich einen dokumentarischen Stil. Einfach, aber direkt, ohne Schnörkel in der Fotografie, werden die Mißstände nach allen Regeln der Kunst gegeißelt. Die Schauspieler bewältigen kein Höchstmaß an Darstellerkunst. Es gibt ja auch so gut wie keine inneren Konflikte zu meistern. Sie wissen sich mit der Regie immer auf der richtigen Seite. "Keiner bekommt das ganze Drehbuch zu lesen", sagt Loach, keiner kennt den ganzen Plot. Damit gewährleistet ist, daß sie die Situationen wie am eigenen Leib erfahren.

Dieser Film will etwas, eine Aussage machen, eine eurozentrische zudem. Und er wirkt, als sei er für die jüngeren Geschwister derer gedreht, die sich in den Achtzigern freiwillig zum sandinistischen Brunnenbau meldeten, bevor sie ihr Pädagogik- und Germanistik-Studium aufnahmen, und - aus Nica-Ini wurde Nick Cave - ihr internationalistisches Engagement bald wieder vergaßen. Loach spielt auf dem linken Mythos, und das nicht sonderlich virtuos. Anders gesagt: Er nimmt ihn verdammt ernst. Denn Revolution ist drin, wo sie dransteht. Das nicaraguanische Gesangsstudium lehrt deshalb auch immergrüne Weisheiten: "Niemand kann die Lawine aufhalten, wenn sich das Volk entschieden hat", heißt es in der Liedzeile. Tja, das ist wohl so. Oder so.

Der linke Mystiker Loach will keinen Bogen hineinkriegen in seine Analyse, und jeder "Mr. Bean"-Werbespot hat wohl ein gebrocheneres Verhältnis zum filmischen Erzählen als "Carla's Song". Der Film ist ein ziemlich mißratenes Beispiel der politischen Bearbeitung territorialen Widerstandes und wird wohl hierzulande seine Freunde bei der Volkslinken finden. Die gewöhnliche Übertragung von "Dritte-Welt"-Bewegungen ins Europäische überwindet "Carla's Song" zu keiner Zeit. Die Revolution als Gefühlszustand in den Zuschauer zu versetzen, das ist die Absicht.

Aber Loach ist auch mythischer Chronist, und selten genug sind Meilensteine der linken Mythologie wie die Nica-Soli-Bewegung ein Filmthema (vgl. Jungle World vom 4.9.) Nebenbei zeigt er, wo er nicht das Falsche verklärt, wie Sozialismus funktioniert: statt mit Glaube, Liebe, Hoffnung mit Bildung, Alphabetisierung, Selbstorganisation.

Künstlerisch aber ist er gerade wegen seiner unglaublichen Banalität interessant. Er bietet auf, wozu Kino imstande ist: Gefühl, Romantik, Eindimensionalität, die Bevölkerung des Städtchens Estel' als Statisterie, die Formel "Liebe ist stärker als der Krieg", echte Behörden, die den für Produktionsnotizen notwendigen Ärger verursachen. Das macht diesen Film nicht schlechter. Allerdings das Publikum auch nicht besser, wie er glauben machen will.

"Carla's Song". GB/D/Spanien 1996. R: Ken Loach. D: Robert Carlyle, Olyanka Cabezas, Scott Glenn, Subash Sing Pall, Stewart Preston. Start: 11. September