Radikal, nicht kriminell

Koblenzer Oberlandesgericht stellt Verfahren gegen vier mutmaßliche Redakteure der autonomen Zeitschrift radikal ein.

Die Botschaft ist unmißverständlich: Bei den Mitarbeitern der verbotenen Zeitschrift radikal handelt es sich nicht um Mitglieder einer kriminellen Vereinigung nach Paragraph 129 des Strafgesetzbuches. Mit dieser Kernbegründung stellte das Koblenzer Oberlandesgericht (OLG) das Verfahren gegen vier angebliche Redakteure des autonomen Blattes vor wenigen Tagen ein. Für Andreas Ehresmann, einen der Beschuldigten, ist diese Rechtsprechung "der wichtigste Erfolg" des Verfahrens. Der Versuch der Karlsruher Bundesanwaltschaft (BAW), eine linke Zeitung pauschal zu kriminalisieren, sei durch den Beschluß "abgewehrt worden".

Mit dem Entscheidung der Koblenzer Richter endet ein fast vierjähriges Verfahren gegen die vier Angeschuldigten, die am 13. Juni 1995 im Rahmen der bundesweiten Razzia gegen "linksradikale Strukturen" festgenommen worden waren und anschließend ein halbes Jahr hinter Knastmauern verschwanden. Als Bedingung für die Einstellung erlegten die Richter den Männern aus Berlin, Hamburg, Lübeck und Münster auf, jeweils 1 000 Mark an medico international zu zahlen und keine Anträge auf Haftentschädigung zu stellen. Das OLG begründete diese Auflagen damit, daß die "kriminelle Vereinigung" zwar vom Tisch sei, die Angeklagten jedoch möglicherweise mehrfach gegen das Presserecht verstoßen hätten.

Die BAW hatte hingegen ihre gesamten Ermittlungen und die Haftbefehle auf die Rechtsauffassung gestützt, bei den MacherInnen der radikal handele es sich um eine kriminelle Vereinigung. Diese habe es sich zum Ziel gesetzt, für terroristische Vereinigungen zu werben. Besonders die Veröffentlichungen von Anleitungen für Sabotage-Anschläge und von Bekennerschreiben militanter Gruppen hatten die radikal ins Fadenkreuz der Ermittler gerückt.

Die AnwältInnen der vier Beschuldigten teilten in einer gemeinsamen Erklärung mit, sie sähen sich durch den Beschluß "in ihrer Kritik an der pauschalen Kriminalisierung der Zeitschrift radikal bestätigt". Es sei nun "zu hoffen, daß sich der Generalbundesanwalt zukünftig zu einer gehörigen Respektierung der Pressefreiheit angehalten sieht".

Die bundesweite Solidaritätsbewegung gegen die radikal-Anklagen geht in einer gemeinsamen Stellungnahme davon aus, daß der Beschluß "richtungsweisende" Bedeutung haben wird. In Düsseldorf, Berlin und Kiel laufen weitere Verfahren gegen Personen, denen vorgeworfen wird, in der "kriminellen Vereinigung" radikal Mitglied gewesen zu sein. Daneben hatte die BAW versucht, auch die RedakteurInnen der autonomen Wochenzeitung Interim in die Nähe einer kriminellen Vereinigung zu rücken.

Die Zustimmung zur Verfahrenseinstellung gegen Geldbuße bewerten die Soligruppen als "geringeres Übel". In ihrer gemeinsamen Erklärung heißt es: "Damit wir den Prozeß für uns hätten offensiv nutzen können, hätte es einer unterstützenden, mindestens aber interessierten Öffentlichkeit bedurft. Diese anfänglich erhoffte Unterstützung durch ein breites politisches Spektrum blieb allerdings weitgehend aus." Problematisch an der Einstellung sei, daß "eine Geldstrafe und der Verzicht auf eine Haftentschädigung interpretierbar" sei "als Eingeständnis, zu Recht eingeknastet worden zu sein".

Dem unspektakulären Ausgang des Koblenzer Verfahrens war eine beispiellose Ermittlungstätigkeit vorausgegangen. Im Herbst 1993 hatte das rheinisch-pfälzische Landeskriminalamt im Rahmen des längsten bekanntgewordenen Lauschangriffes der bundesdeutschen Geschichte ein Treffen der radikal-Redaktion in der Eifel mitgeschnitten. Anschließend wurden vermeintliche TeilnehmerInnen der Sitzung anderthalb Jahre lang selbst in den letzten Winkel ihres Lebens observiert: Versteckte Kameras wurden gegenüber ihren Wohnungen angebracht, Post geöffnet, Telefone abgehört und die Bewegungen auf ihren Bankkonten unter die Lupe genommen.

Die im Herbst 1993 begonnene Mammutobservation endete erst, als am 13. Juni 1995 bundesweit 55 Wohnungen und linke Einrichtungen von der Polizei auf den Kopf gestellt und vier der vermeintlichen Redaktionsmitglieder verhaftet wurden. Vier weitere Beschuldigte konnten sich der Verhaftung entziehen, tauchten ab und stellten sich im vergangenen Jahr den Verfolgungsbehörden. Ob das gegen sie und eine weitere Frau vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht anhängige Verfahren ebenfalls eingestellt wird, ist noch offen.

Die Festgenommenen, deren Verfahren jetzt endet, blieben unter isolierenden Verwahrungsbedingungen knapp ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Zu Haftprüfungsterminen wurden sie wie "Top-Terroristen" vorgeführt: flankiert von auf sie gerichtete Maschinenpistolen und mit aneinandergeketteten Hand- und Fußfesseln bewegungsunfähig gemacht.

Nach der Großrazzia vom Juni 1995 fanden noch zahlreiche Durchsuchungen bei mutmaßlichen Mitgliedern und UnterstützerInnen der radikal statt, die mit zunehmend absurderen Rechtskonstruktionen begründet wurden. So erhielten auch Personen unangemeldeten Besuch, deren einziges Vergehen es gewesen sein soll, die radikal abonniert zu haben. Weitere Highlights der Verfolgungswut der Ermittler: Deutsche Kriminalbeamte durchsuchten im vorigen Dezember auf umstrittener rechtlicher Grundlage die Wohnung eines angeblichen radikal-Unterstützers in Holland.

Im vergangenen Januar beschlagnahmten die Ermittler den Redaktionscomputer eines damaligen Mitarbeiters der jungen Welt und durchwühlten in seiner Abwesenheit auch seine Privatwohnung. Kurz zuvor hatte die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen die PDS-Vizechefin Angela Marquardt erhoben, weil diese durch einen Hinweis auf die Web-Seiten der radikal in ihrer Internet-Homepage Straftaten gebilligt haben soll.